Die Erzählung des Doctors.

[145] Vers 14501–14786.


Einst lebte – sagt uns Titus Livius

Ein Rittersmann, genannt Virginius,

So ehrenhaft wie bieder, und zugleich

An Freunden stark, sowie an Schätzen reich,

Dem eine Tochter seines Weibes Schooß

Allein gebar; sonst war er kinderlos.

Doch hier auf Erden sah man weit und breit

Kein schön'res Wesen, als die holde Maid,

An der mit Fleiß und höchstem Vorbedachte

Natur ein wahres Meisterstück vollbrachte,

Gleichsam, als um zu sagen: »Ich, Natur,

Bin nur im Stande, solche Kreatur

Zu formen. – Sagt, wer kann mich überstrahlen?

Pygmalion? – Nein! – Zwar ist im Meißeln, Malen,

In Schmieden, Hämmern er geschickt, indessen

Nicht er, noch Xeuxis und Apelles messen

Sich je mit mir in allen diesen Sachen,

Wenn sie versuchen, es mir nachzumachen.[146]


Mich hat der erste Bildner dieser Welt

Zu seinem Generalvicar bestellt.

Was unterm wandelbaren Monde nur

Vorhanden ist, jedwede Kreatur

Kann nach Gefallen formen ich und malen,

Und lasse mir die Arbeit nicht bezahlen.

Mein Herr und ich sind stets in Harmonie,

Und meinem Herrn zur Ehre schuf ich sie;

Wie dies für alle Wesen gilt hienieden,

Sind Farben und Gestalten auch verschieden.«

– So würde, dünkt mich, sprechen die Natur. –


Das Mädchen zählte vierzehn Jahre nur,

Von dem Natur war solcher Art entzückt;

Sie, welche weiß die zarte Lilie schmückt

Und roth die Rose, hatte schon erlesen,

Noch eh' geboren war dies edle Wesen,

Für ihren Leib dieselbe Farbenpracht,

Und auf den Gliedern schicklich angebracht;

Und gleich dem Gold der Sonnenstrahlen war

Gefärbt durch Phöbus ihr gelocktes Haar.


Doch übertraf den Schönheitsglanz der Jugend

In tausendfachem Maß noch ihre Tugend.

Es fehlte nichts, was man verständ'ger Weise

Erwähnen kann zu ihrem Lob und Preise.

Keusch war ihr Leib, und rein war ihr Gemüth,

Und jungfräulich war sie emporgeblüht

In aller Demuth und Bescheidenheit.

In Selbstbeherrschung und Enthaltsamkeit.

Stets hielt sie Maß in Kleidung und Betragen,

Gab sittsam Antwort auf gestellte Fragen,

Und ob sie weise gleich wie Pallas war,[147]

Blieb ihre Sprache weiblich doch und klar.

Sie ahmte nicht die Modephrasen nach,

Um weise zu erscheinen. Was sie sprach,

War angemessen ihrem Stand und Rang

Und tugendhaft und anmuthsvoll von Klang.

Sie war von mädchenhafter Schüchternheit,

Doch fest von Sinn. Durch stete Thätigkeit

Verscheuchte sie die müß'gen Träumerei'n

Und ließ nicht Bachus ihren Meister sein.

Denn Wein und Trägheit schürt in uns so gut,

Wie bei dem Feuer Oel und Fett, die Gluth.


Von Zier und Zwang in ihrer Tugend frei,

Mied unterm Vorwand, daß sie leidend sei,

Sie dennoch solche Kreise, wo an Tand

Und Thorheit etwa man Gefallen fand.

Wohl bieten Feste, Tänze, Schmauserei'n

Gelegenheit zu manchen Tändelei'n,

Und wie bekannt ist, pflegen solche Sachen

Die Kinder frühreif, kühn und frech zu machen,

Was für gefährlich gilt und immer galt.

Denn allzukühn wird sich ein Mädchen bald,

Wenn sie zum Weib emporwächst, nur gebahren.


Erzieherinnen! die ihr – alt an Jahren –

Des Adels Töchter überwacht und lenkt,

Fühlt Euch durch meine Worte nicht gekränkt.

Erwägt, die Edelfräulein zu erzieh'n,

Ist aus zwei Gründen Euch das Amt verlieh'n:

Zuvörderst wegen Eurer Sittsamkeit,

Sodann vielleicht, weil ihr gefallen seid

Und daher mit dem alten Tanz bekannt,

Dem Ihr Euch nun für immer abgewandt.[148]


Um Christi Willen! lehret stets die Pflicht

Der Tugend ihnen; – und versäumt es nicht!

Von einem Wilddieb, welcher aufgegeben

Die alte Kunst und Neigung hat, wird eben

Ein Forst am allerbesten überwacht.

Drum hütet sie! Es steht in Eurer Macht.

Sorgt, daß ihr Laster nie an ihnen billigt!

Verflucht seid Ihr, sofern Ihr darin willigt!

Denn wer das thut, übt sicher Hochverrath.

Drum seht Euch vor, und folget meinem Rath.

Ein schlimm'rer Hochverräther als die Pest

Ist, wer zu Fall die Unschuld kommen läßt.

Ihr Väter und ihr Mütter! ob ein Kind,

Ob viele Kinder Euch geboren sind,

Tragt stete Sorge für ihr Wohlergeh'n,

So lange sie in Eurer Obhut steh'n,

Damit sie durch das Beispiel, das ihr gebt,

Und weil Euch, sie zu strafen, widerstrebt,

Nicht ins Verderben kommen. – Hinterher

Bereut ihr's, wahrlich, bitter oft und schwer.

Wenn schwach und pflichtvergessen ist der Hirt,

Manch' Schaf und Lamm vom Wolf zerrissen wird.


Es mögen Euch genügen diese Lehren,

Denn zur Geschichte muß zurück ich kehren.


Die Maid, von der ich sprach, bedurfte kaum

Der Lehrerin. Sie hielt sich selbst in Zaum.

Denn wie in einem Buche war zu lesen

In ihrem Wandel, wie in Wort und Wesen

Ein sittsam' Mädchen sich betragen soll.

Sie war so herzensgut und einsichtsvoll;[149]

Weit drang der Ruf nach allen Seiten hin

Von ihrer Schönheit, ihrem Edelsinn.

Im ganzen Land pries man sie allgemein,

Wo Tugend galt. Es schwieg der Neid allein,

Den das betrübt, was andere beglückt,

Und das erfreut, was sie mit Kummer drückt.

– So ward vom Doctor Augustin geschrieben. –


Zur Stadt ging einst die Maid mit ihrer lieben

Und theuren Mutter, um nach Brauch der Frauen

Sich in dem nahen Tempel zu erbauen.


Nun war im Stadtbezirk zu jener Zeit

Ein Richter Pfleger der Gerechtigkeit,

Der von dem Platze, wo er grade stand,

Durch Zufall scharf den Blick auf sie gewandt,

Als dieses Mädchen ihm vorüber ging.

Und da sein Herz sofort auch Feuer fing,

Als ihre Schönheit ihm ins Auge stach,

So sann er in der Stille nach und sprach:

»Um jeden Preis wird dieses Mädchen mein!«


Gleich schlich der Teufel ihm ins Herz hinein

Und lehrte rasch ihm eine List ersinnen,

Zu seinem Zweck das Mädchen zu gewinnen.

Denn zu erreichen war – das sah er bald –

Dies weder durch Bestechung noch Gewalt.

Denn sie war stark an Freunden und zugleich

Im höchsten Grade keusch und tugendreich.

Und so begriff er, daß zur Lust und Sünde

Sie zu verführen, außer Frage stünde.


Er überlegte lange und besann

Auf einen Schurken in der Stadt sich dann,

Dem es an Kühnheit und an List nicht fehlte.[150]

Ihn ließ er zu sich kommen und erzählte

Ihm insgeheim, was er im Sinne trage,

Ihn dabei warnend, daß er's Keinem sage,

Sofern ihm Leben lieber sei als Tod.

Und als der Schuft sich zu der That erbot,

War hoch erfreut der Richter, der ihn pries

Und reich beschenken und bewirthen ließ.


Von Punkt zu Punkt – wie späterhin erhellt –

Ward dann der Plan von Beiden festgestellt

Nebst allen Schlichen, die geeignet schienen,

Zur Stillung seiner Liebesbrunst zu dienen.

Worauf den Schurken, welcher Claudius hieß,

Der falsche Richter Appius entließ.

– So war sein Name. Denn, was ich berichte,

Ist keine Fabel, sondern Thatgeschichte,

An deren Wahrheit man nicht zweifeln kann. –


Der falsche Richter ging sofort daran,

In schnellster Art zum Ziele zu gelangen;

Und so geschah's, als kurze Zeit vergangen,

Und er – wie uns erzählt in der Geschichte –

Einst nach Gewohnheit saß in dem Gerichte,

Um zu entscheiden die vorhand'nen Fälle,

Daß raschen Schrittes jener Schandgeselle

Hervortrat und ihn ansprach: »Herr! versage,

Ich bitte Dich, mir Recht in meiner Klage,

Die gegen den Virginius lautet, nicht!

Im Fall er der Behauptung widerspricht,

Wird Zeugniß und Beweis von mir gestellt,

Daß wahr ist, was die Klageschrift enthält.«


Der Richter sprach: »So lang' er nicht zur Stelle,

Geht es nicht an, daß ich mein Urtheil fälle.[151]

Doch ruft ihn! Dann vernehm' ich ihn nach Pflicht.

Dir wird Dein Recht! denn Unrecht giebt's hier nicht.«


Virginius kam, wie's ihm der Richter hieß,

Worauf die Klagschrift er verlesen ließ,

In der geschrieben stand, was ich Euch sage:


»Euch, werthem Herrn und Richter Appius, klage

Ich – Euer armer Diener Claudius

Daß mir ein Ritter, der Virginius

Genannt wird, gegen Recht und Billigkeit,

Wie sehr ich protestirte, eine Maid,

Die noch in zartem Kindesalter stand,

Heimlich bei Nacht aus meinem Haus entwandt,

Obwohl durch Recht sie meine Sclavin war.

Wenn Ihr erlaubt, bring' ich Beweise dar,

Daß sie – und wenn er's noch so sehr bestritte –

Nie seine Tochter war. – Entscheidet, bitte,

In dieser Sache, was mein Recht betrifft.«


So war der Inhalt dieser Klageschrift.


Virginius sah erstaunt den Schurken an,

Indeß bevor er den Versuch begann,

Durch manche Zeugen und nach Ritterart

Ihm zu beweisen, daß sein Widerpart

Dies alles fälschlich ihm gelegt zur Last,

War der verfluchte Richter so in Hast,

Daß er zu schweigen den Virginius hieß,

Sein Urtheil sprach und sich vernehmen ließ:


»Entschieden ist: dem Mann gehört die Magd!

Sie zu behalten, wird Dir untersagt:

Du giebst zurück in des Gerichtes Hand

Sein Eigenthum! – So wird zu Recht erkannt.«[152]

Als sich der Rittersmann Virginius

Durch diesen Spruch des Richters Appius

Gezwungen sah, zum liederlichen Leben

Dem Richter seine Tochter preis zu geben,

Ging er zu Haus und trat in seinen Saal,

Wohin zu kommen er der Maid befahl.

Und als er ansah, wie sie demuthsreich

Vor ihm erschien, ward er wie Asche bleich,

Da Mitleid tief sein Vaterherz erregte.

Doch hielt er fest am Vorsatz, den er hegte.


»Virginia!« – sprach er – »es giebt, theures Kind,

Zwei Wege nur, die für Dich offen sind:

Tod oder Schande! – Weh'! daß ich geboren,

Daß schuldlos Du zu solchem Loos erkoren,

Und enden mußt durch Messer oder Schwert!

O, Tochter, die mein Lebensmark verzehrt!

Du, die ich stets mit solcher Freude pflegte,

So treu beständig im Gedächtniß hegte,

O, meine Tochter! Du, das letzte Leid,

Die letzte Freude meiner Lebenszeit,

Du, keusche Perle, mit geduld'gem Sinn

Nimm Deinen Tod, den ich beschlossen, hin!

Nicht Haß – nein, Liebe Dir das Leben raubt,

Denn fallen muß durch diese Hand Dein Haupt!

Ach! daß Dich Appius jemals sah im Leben,

Und so dies falsche Urtheil hat gegeben.«


Den ganzen Fall gab er ihr kund sodann,

Was, als bekannt, ich übergehen kann.


»Mein Vater!« – rief das Mädchen – »hab' Erbarmen!«

Und seinen Hals umschlang mit beiden Armen[153]

Sie nach Gewohnheit, während jammervoll

Die Thränenfluth aus beiden Augen quoll.


»O, guter Vater!« – rief sie – »muß ich sterben?

Giebt's Gnade nicht? – nicht Rettung vorm Verderben?«


»Nein, keine!« – sprach er – »theures Töchterlein.«


»Gewähre, Vater!« – rief sie – »nur allein

Mir kurze Frist, mein Ende zu beklagen.

Denn ehe seine Tochter er erschlagen,

Gewährte Jephta ihr die gleiche Huld.

Und weiß es Gott! sie trug daran nicht Schuld,

Daß sie als Erste war vorangegangen,

Um ihren Vater festlich zu empfangen.«


Und mit dem Wort sank sie in Ohnmacht hin.


Doch später, als zurückgekehrt ihr Sinn,

Erhob sie sich und sprach zum Vater dann:

»Gelobt sei Gott, daß keusch ich sterben kann!

Gieb mir den Tod! ich will nicht Schmach erleben!

Thut Eurem Kind, was Gott Euch eingegeben!«


So sprach sie zu ihm und bat immer wieder

Um sanften Tod und sank zu Boden nieder,

Wo sie alsdann bewußtlos liegen blieb.


Der schmerzzerriß'ne Vater aber hieb

Das Haupt ihr ab, hob es am Schopf empor,

Trug es zum Richter hin und wies es vor,

Als er noch Sitzung hielt in dem Gerichte.

Kaum sah's der Richter – sagt uns die Geschichte –

Befahl er, ihn zu greifen und zu hängen.

Doch, voller Mitleid, ihn zu retten, drängen

Sich tausend Menschen Augenblick's herbei,[154]

Denn längst bekannt war seine Schurkerei.

Schon aus der Art, wie sich der Kerl benommen,

War Jedermann auf den Verdacht gekommen,

Daß Appius dahinter stecken müßte,

Denn zu bekannt war Allen sein Gelüste.

Drum zogen sie zu Appius hin, und ließen

Ihn in den Kerker auf der Stelle schließen,

Wo er sich selbst erschlug. – Und Claudius,

Den Knecht und Helfer dieses Appius,

Hätte der Henker an den Baum geknüpft,

Wär' nicht durch diesen Umstand er entschlüpft,

Daß sich Virginius selbst für ihn verwandte,

So daß man ihn zur Strafe nur verbannte.

Sonst mußten Alle hängen, arm und reich,

Die thätig waren bei dem Bubenstreich.


Seht, ihren Lohn die Sünde stets erhält!

Seid auf der Hut! denn Niemand auf der Welt

Weiß, wann ihn Gottes Hand trifft, oder wann

Der Wurm Gewissen fängt zu nagen an.

Den schlechten Wandel, ob man noch so schlau

Ihn vor der Welt verbirgt, sieht Gott genau.

Denn, ob ihr thöricht oder weise seid,

Euch faßt die Furcht noch Alle mit der Zeit.

An meinem Rathe haltet darum fest:

Verlaßt die Sünde, eh' sie Euch verläßt!

Quelle:
Chaucer, Geoffrey: Canterbury-Erzählungen, in: Geoffrey Chaucers Werke, Straßburg 1886, Band 3, S. 145-155.
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