Remedium Avaritiae.

[299] Nun sollt Ihr verstehen, daß die Linderung des Geizes in Erbarmen und in Mitleid in weitem Sinne des Wortes besteht. Man könnte fragen, weßhalb Erbarmen und Mitleid den Geiz lindern? Nun, gewiß, der geizige Mensch zeigt kein Mitleid noch Erbarmen gegen den bedürftigen Menschen. Denn er erfreut sich an der Aufbewahrung seiner Schätze und nicht an der Unterstützung und Hülfe seiner Mitchristen. Und dieserhalb spreche ich zunächst von Erbarmen. Denn Erbarmen ist – wie der Philosoph sagt – eine Tugend, durch welche das Herz des Menschen gerührt wird durch das Leid Desjenigen, welcher leidet. Auf Erbarmen folgt Mitleiden, indem man Liebeswerke der Barmherzigkeit thut und vollbringt, und gegen Leidende hilfreich ist und sie tröstet. Und gewiß, es bewegt einen Menschen zum Erbarmen, daß Jesus Christ sich selbst für unsere Schuld dahingab, und aus Erbarmen den Tod erlitt und uns unsere Erbsünde verzieh, und uns dadurch von der Höllenpein erlöste, und die Qualen des Fegefeuers durch unsere Reue verminderte, und uns die Gottesgabe schenkte, Gutes zu thun, und schließlich die ewige Seligkeit im Himmel. Die verschiedenen Arten von Erbarmen sind: zu leihen oder auch zu schenken, zu vergeben und zu erlassen, und Mitgefühl im Herzen zu hegen, und Mitleid seinem Mitchristen zu zeigen, und auch zu strafen, wo es Noth thut. Ein anderes Mittel gegen den Geiz ist vernünftige Freigebigkeit; aber, gewiß, hier bedarf es der Betrachtung der Gnade Jesu Christi und der zeitlichen, sowie der ewigen Güter, welche Jesus Christus uns gab, und auch des Todes zu gedenken, welcher uns überkommen kann, man weiß nicht wann; und auch daß man Alles zurücklassen muß, was man besitzt, nur das nicht, welches man in guten Werken verthan hat.

Aber insofern einige Leute nie Maß zu halten wissen, so muß man thörichte Freigebigkeit, so man Verschwendung nennt, fliehen und meiden. Gewiß, der ist Verschwender, welcher sein Gut nicht fortgiebt, sondern verschleudert. Fürwahr, die Sachen, die man aus Eitelkeit verschenkt, wie an Minnesänger und an andere Leute, damit sie unsern Ruf in die Welt hinaus tragen, laufen auf Sünde hinaus, und sind keine Almosen. Sicherlich, der verliert sein Gut in garstiger Weise, der mit seiner Gabe nur allein nach Sünde sucht. Er gleicht einem Pferde, welches lieber getrübtes, schmutziges Wasser als reines Quellwasser[300] trinken will. Und solchen, welche geben, wo sie nicht geben sollten, gebührt der Fluch, welcher Christus am Tage des Gerichts Denen geben wird, welche verdammt werden sollen.

Quelle:
Chaucer, Geoffrey: Canterbury-Erzählungen, in: Geoffrey Chaucers Werke, Straßburg 1886, Band 3, S. 299-301.
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