Arbeitszimmer Ernst Bergmanns; behaglich, gut bürgerlich eingerichtet. Links, rechts und rückwärts münden in das Zimmer Türen. Die Türe rechts, einige Stufen hoch, führt auf einen Balkon. Rückwärts ist die Ausgangstür. Durch die Türe links gelangt man in die Wohnzimmer.
Rechts vorne ein Schreibtisch. An der Wand rechts ein Rauchtischchen. Eine Uhr. In der Mitte ein Sitzungstisch mit Sesseln. Links in der Ecke eine Eckgarnitur. Einige Bilder, Bücherkästen. Es ist etwa vier Uhr nachmittags.
Bergmann sitzt vor seinem Schreibtisch. Er ist ein hochgewachsener, streng aber zuverlässig aussehender Mann von etwa 54 Jahren, mit ruhiger Sorgfalt gekleidet. Er spricht langsam, mitunter scharf pointiert und erweckt durch eine selbstverständliche Offenheit seines Auftretens und seiner Sprache unbedingtes Vertrauen.
Ferndorf sitzt ihm gegenüber. Er ist ungefähr 30 Jahre alt, schlank, sehr elegant gekleidet. Er ist der Typus des modernen Gelehrten.
Sehr ideal, spricht ruhig und bestimmt, oft voll Feuer.
Bergmann, Ferndorf.
FERNDORF sich erhebend. Es ist spät geworden, Bergmann. Ich muß gehen.
BERGMANN sieht von seinen Schriften auf. Ja. Blickt auf die Uhr. Ich sehe. Ich kann dich übrigens nicht einmal zu längerem Bleiben nötigen, denn ich muß selbst fort. Ich habe jetzt eine Konferenz und in einer Stunde beginnt schon meine Sprechstunde. Bis dahin muß ich wieder zurück sein.
FERNDORF. ... und was die Militärvorlage betrifft, Bergmann ...?
BERGMANN. Wir lehnen sie ab. Wir lehnen sie unbedingt ab, wie jede bisherige. Trotzdem plötzlich der ganze Staat »Hoch die Regierung« schreit!
FERNDORF. Wir müssen sie auch ablehnen. Jetzt Rüstungskredite zu bewilligen bringt uns den Krieg![21]
BERGMANN nachdenklich. Wir werden allein stimmen. Wir werden die einzigen sein, die in all diesem aufgepeitschten Gejubel dem Vaterlande – wie die Zeitungen schreiben – »die Mittel zur Verteidigung seiner Existenz« – verweigern. Und was werden wir erreichen? Die Vorlage kommt auch ohne uns durch.
FERNDORF. Aber wir sind unserer Ueberzeugung vor Gott, unserem Gewissen und der Partei nicht untreu geworden.
BERGMANN. Die Partei ist diesmal für die Annahme der Vorlage. Ich hab' es sagen hören ...
FERNDORF. Dann ist sie eben auch in unglaublicher Verblendung von dem Enthusiasmus, den die Regierung systematisch erzeugen läßt, angesteckt worden. Wir müssen die Vorlage glatt ablehnen. Punkt für Punkt. Oder etwa nicht?
BERGMANN. Ja, wir müssen sie ablehnen.
FERNDORF. Und du läßt dich durch niemand mehr beeinflussen, Bergmann?
BERGMANN ärgerlich. Ja, wofür hältst du mich denn? Sie wird abgelehnt. Basta. Daran wird nicht mehr gerüttelt.
FERNDORF. Ich danke dir, Bergmann.
BERGMANN. Wofür denn? Du tust ja gerade so, als ob ich dir zu Gefallen die Vorlage ablehne. Es entspricht meiner Ueberzeugung, meiner durch nichts zu ändernden Ueberzeugung, daß eine Annahme der Vorlage ...
FERNDORF. Einem Verbrechen an dem Staate gleichkommen würde ...
BERGMANN legt Schriftstücke in eine Aktentasche. Das ist wohl etwas übertrieben, aber schließlich, so etwas ähnliches mag ja daran sein ...
FERNDORF. Ich bin neugierig, was Heldenberg dazu sagen wird. Siehst du ihn heute noch?
BERGMANN. Er wird wahrscheinlich in meine Sprechstunde kommen.[22]
FERNDORF. Ich habe ihn gestern mit einer Dame zusammen gesehen. Ich bin nämlich vom Theater gekommen und da muß ich, wenn ich in mein Restaurant gehen will, an Heldenbergs Haus vorüber. Er hat gerade das Haustor aufgesperrt und ist dann mit seiner Dame hinein verschwunden.
BERGMANN. Mit einer Dame? Schau, schau!
FERNDORF lachend. Ja, ja, der Heldenberg. Das sollte man ihm gar nicht mehr zumuten, wie? Er hat übrigens ein schlechtes Gewissen gehabt. Er war sichtlich sehr unangenehm überrascht als er meiner ansichtig geworden ist.
BERGMANN. Na ja, sehr angenehm ist man ja nie berührt, wenn man in derlei Situationen einen guten Bekannten trifft. War sie wenigstens hübsch?
FERNDORF. Das habe ich leider nicht konstatieren können, denn ich habe sie nur von rückwärts gesehen. Aber hochelegant war sie. Eine schöne dunkelgraue Straßentoilette und einen geradezu auffallend schönen Reiher ...
BERGMANN und Ferndorf im Abgehen. Einen Reiher? Einen weißen oder ...
FERNDORF. Ja, einen weißen.
BERGMANN. O, die sind teuer. Ich habe erst vor einigen Tagen für meine Frau einen bezahlt. Ein Vermögen kosten diese Reiher ... Ab.
Heldenberg, Marie.
HELDENBERG etwa so alt wie Bergmann, vornehme Erscheinung, tritt ein. Hier ist niemand.
MARIE ist eine hübsche, auffallend gekleidete, dreißigjährige Frau. Sie ist schlank, voll, sehr temperamentvoll und verfügt über eine ausgeprägte sinnliche Genußfreudigkeit, welche in Blick und Bewegung zum Ausdruck kommt. Dann müssen sie aber soeben erst fortgegangen sein. Dr. Ferndorf war bei meinem Mann.[23]
HELDENBERG. Umso angenehmer, wenn sie fort sind. Ich bin in erster Linie deinetwegen hergekommen, Marie.
MARIE. Sehr schmeichelhaft für mich, Karl. Du hältst es anscheinend nicht mehr bis heute abend aus? Wie?
HELDENBERG. Es ist leider kein Grund zu scherzen hier.
MARIE. Was ist denn geschehen?
HELDENBERG. Gestern habe ich es dir verheimlicht, um dich nicht zu beunruhigen. Ferndorf hat uns beim Nachhausekommen gesehen. Mehr noch als das. Er hat gesehen, daß ich das Tor aufgesperrt habe, daß wir beide hineingegangen sind und hat wahrscheinlich gehört, daß ich hinter uns wieder abgesperrt habe.
MARIE zuckt zusammen.
HELDENBERG. Erschrick nicht gleich. Gesehen hat er uns natürlich. Ja. Erkannt hat er mich ganz bestimmt. Dich ebenso bestimmt nicht.
MARIE. Nun also, was weiter? Du wirst doch mit einer Dame in deine Wohnung gehen dürfen?
HELDENBERG. Gewiß, gewiß. Ich spreche ja auch nicht von einer Gefahr.
MARIE. Sondern ... was willst du also? Ich erschrecke nicht so leicht.
HELDENBERG. Wir müssen uns in der nächsten Zeit in Acht nehmen.
MARIE. Das kann ja geschehen. Du wirst in Zukunft vorgehen, das Haustor aufsperren und offen lassen. Wenn ich nach einer Weile allein hineingehe, wird kein Vorübergehender sich etwas besonderes dabei denken ...
HELDENBERG. Das genügt nicht.
MARIE. Was soll also geschehen?
HELDENBERG. Wir müssen vorderhand vermeiden, einander zu treffen.
MARIE. Ah! Du hast Furcht? Sieh doch einmal einer den Herrn Baron an![24]
HELDENBERG. Was du Furcht nennst, nenne ich allernötigste Vorsichtsmaßregeln ...
MARIE. Und worin sollen also diese Vorsichtsmaßregeln bestehen?
HELDENBERG. Daß wir einander zum Beispiel gleich heute abend nicht treffen sollen.
MARIE. Heute abend? Schön. Und morgen?
HELDENBERG. Morgen natürlich auch nicht. Oder hast du Lust, einen Skandal heraufzubeschwören?
MARIE gleichmütig. Das wäre mir ziemlich gleichgültig.
HELDENBERG. Aber mir nicht. Was würdest du denn tun, wenn wir zum Beispiel so plötzlich ... in flagranti ...
MARIE. Nun, nichts besonderes. Ernst und ich würden uns wahrscheinlich scheiden lassen. Ich meinetwegen als der schuldige Teil. Was weiter?
HELDENBERG. Ich staune über deine Ruhe. Die trägst du aber auch nur zur Schau, weil du dich ganz sicher fühlst. Wenn es dazu kommen würde, haha ... Uebrigens frage ich dich: Ja, was dann weiter?
MARIE. Nun, wir würden einander wahrscheinlich heiraten, Karl. Oder nicht?
HELDENBERG sehr verwirrt. Heiraten?
MARIE voll Ironie. Du hast doch unzählige Male versichert, du würdest dich glücklich schätzen, wenn ich dir auf ewig angehören würde, wenn ich deine Frau wäre, usw. Erinnere ich mich recht, hast du sogar erst gestern wieder etwas ähnliches gesagt?
HELDENBERG wie vorhin. Gewiß, gewiß, so ist es auch. Aber ... aber heiraten ... so schnell geht die Sache nicht ... Die Formalitäten, weißt du, die Formalitäten ...
MARIE. Ja, ja, ich verstehe, ich verstehe schon. Pause.
HELDENBERG nach einer Weile. Also, du siehst das ein?[25]
MARIE. Was?
HELDENBERG. Nun, daß wir einander eine Zeitlang nicht sehen dürfen?
MARIE. Wie lange nicht?
HELDENBERG. Nun, das läßt sich nicht gleich so präzisieren, aber so ... jedenfalls mehrere Wochen nicht. Pause.
MARIE hart. Du bist meiner überdrüssig?
HELDENBERG. Marie!
MARIE. Ja oder nein?
HELDENBERG. Auf dergleichen antworte ich dir überhaupt nicht.
MARIE. Wir brauchen es ja auch nicht so weit kommen lassen, Karl. Es kann ja auch meinetwegen aus sein. Bald. Gleich. Sofort! Ich habe es nicht nötig, mich wegzuwerfen!
HELDENBERG. Aber Marie, Marie! Will sie in seine Arme nehmen. Wie du gleich wieder bist! Aber das liebe ich ja an dir, gerade das. Dieses schrankenlose »Sichhinwegsetzen« über alles und dieses sprunghafte ins »Extremfallen«. Und wenn du zornig bist, dann bist du doppelt schön. Dann blitzen deine Augen und ... und um deinen Mund, da erscheint diese kleine, harte und dabei so süße Falte. Ich will sie küssen, diese kleine Falte, ich muß sie küssen ... Küßt Marie, die sich erst zur Wehr setzt, dann in seinen Armen ruht.
MARIE. Heute abend komme ich wieder zu dir, ja?
HELDENBERG. Ja, du kommst, du mußt kommen!
MARIE. Und wenn man uns sieht?
HELDENBERG. So sieht man uns eben.
MARIE. Siehst du, jetzt sprichst du gleich anders. Und du wirst sehen, kein Mensch bemerkt etwas. Annie fährt morgen zu ihrer Tante. Dafür ist zwar Heinz gekommen und soll bei uns bleiben. Schade, wenn der nicht gekommen wäre, da hätten wir es erst schön gehabt. Nun, es wird auch so schön bleiben. Aber jetzt geh, Karl. Mein Schwager muß jeden Augenblick kommen.[26]
HELDENBERG. Ja, ja, ich gehe jetzt. In einer dreiviertel Stunde bin ich ohnedies wieder hier. Ich habe mit deinem Mann in Parteisachen zu sprechen. Wir gehen selbstredend nicht zusammen fort. Diese Art Vorsicht ...
MARIE. Aber natürlich. Ich habe noch Besorgungen und komme dann wie gewöhnlich in deine Wohnung. Einverstanden?
HELDENBERG. Ja. Und was sagst du Ernst?
MARIE. Ernst? Ach, der fragt erstens nie und zweitens, wenn er fragen sollte ... ja was sag' ich ihm dann nur ...? Nun, dann sag' ich ihm eben, daß ich mit einer Dame zusammen ins Theater gehe. Ernst ist ja übrigens ohnehin am Abend nicht zuhause.
HELDENBERG. Also gut. Es bleibt dabei. Leb' wohl einstweilen. Will sie küssen.
MARIE. Erst am Abend. Bis dahin wirst du wohl noch warten können, du? Heldenberg ab.
Marie, Annie.
ANNIE 19jähriges Mädchen, blaß, mit leidendem Gesichtsausdruck, tritt ein. Mit ihrer Stiefmutter spricht sie sehr förmlich und voll Zurückhaltung. Mama, der Onkel ist hier.
MARIE. Ja, ja, ich komme schon. Will an ihr vorüber, stutzt, bleibt stehen. Du hast schon wieder geweint?
ANNIE schweigt.
MARIE. Du kannst es ja nicht ableugnen. Man sieht dir's ja an! Will dir denn diese dumme Geschichte nicht aus dem Kopf?
ANNIE schweigt.
MARIE. Ich verstehe dich nicht; wie du deinem Vater so etwas Törichtes zumuten kannst! Wie stellst du dir denn das vor? Er, der radikale Parteiführer soll zugeben, daß seine Tochter den Sohn eines konservativen Grafen heiratet! Ganz abgesehen davon, daß dieser konservative Graf sein größter Gegner ist. Aber[27] das ist es ja eben mit dir. Du bist so, so ... ich weiß gar nicht wie ich es nennen soll ... wenn du Temperament hättest, würdest du die Grafen hassen, den jungen, wie den alten, der deinen Vater immer bekämpft. Du würdest dich in die Rolle versetzen können, wie sie der Tochter eines radikalen Abgeordneten dem Sohne seines erbittertsten Gegners gegenüber zukommt. Aber du? Du schweigst wie eben jetzt, läßt mich reden, gehst nachher auf dein Zimmer und verweinst den restlichen Nachmittag. Damit wird es weder besser noch schlechter und das entspricht wieder ganz deinem Charakter. Nur kein entweder – oder! Dafür ein süßes, säuselndes, nachträumendes Weinen, in welchem du ihn, dich, eure unglückliche »Liebe«, mit einem Wort alles, was euch betrifft, mit einer förmlich wehmütigen Lust auf dich wirken läßt; du, das ist auch eine Art Sinnlichkeit, wenn du mich auch immer glauben machen willst, daß du nicht wie andere Mädchen und Frauen empfindest!
ANNIE schweigt.
MARIE mit einer gewissen, forschenden Neugier. Du hast ihn wohl sehr gerne, wie?
ANNIE schweigt, Pause.
MARIE. Und wie steht es also mit Dr. Ferndorf? Weißt du, für mich gäbe es da keine Wahl. Ich würde mich auf der Stelle entschließen. Er ist ein junger, hübscher, äußerst kluger, gebildeter, gutmütiger Mann, hat elegante, vornehme Manieren, ist aus sehr gutem Hause, sehr reich, dabei in dich sterblich verliebt ... Warum hast du ihm eigentlich einen Korb gegeben? Ich weiß nicht, was klüger ist, gleich Frau Dr. Ferndorf zu werden oder erst in ein Tiroler Nest zu einer altmodischen Tante verbannt zu werden, um dann, wenn die unglückliche Liebe mit diesem Gräflein überwunden ist, den du ja doch nie heiraten wirst, schließlich nach zahlreichen, trüben Tagen doch Frau Dr. Ferndorf zu werden. Ist Dr. Ferndorf dir unsympathisch?[28]
ANNIE. Dr. Ferndorf ist mir sehr sympathisch. Ich verehre ihn, ich achte ihn hoch, aber ich liebe ihn nicht.
MARIE. Ach, was weißt du von Liebe? Was verstehst du von Liebe! Glaube mir, Annie, ich mein' es dir gut. Und ich rate dir noch einmal: sei klug und nimm den Ferndorf. Du wirst es sonst einmal bereuen.
ANNIE. Und ... Viktor?
MARIE. Ach, der wird sich auch trösten ...
ANNIE. Du verstehst mich nicht, Mama. Ich liebe Viktor und nicht Dr. Ferndorf.
MARIE. Eben deshalb rate ich dir ja: Nimm den Dr. Ferndorf. Heiraten kannst du den Viktor nicht, lieben sollst du ihn daher nicht. Bleibt nur, daß du den Dr. Ferndorf heiratest. Und ... ist man einmal Frau, kann man sich eher eines schmachtenden, guten Freundes erinnern und – erbarmen! Verstehst du mich endlich, Kleine?
ANNIE. – – Mama – –!
MARIE. Nun, nun, schreie nicht gleich so ...
ANNIE. Ich hoffe, Mama, daß du meinen Vater nicht etwa aus denselben Gründen geheiratet hast ...?
MARIE sieht sie zornig an, geht an ihr vorüber. Dummer Fratz!
ANNIE folgt ihr langsam.
Johann, Viktor, dann Annie.
JOHANN. Das gnädige Fräulein war eben noch hier. Einen Augenblick bitte, ich werde das gnädige Fräulein rufen. Wen darf ich denn melden?
VIKTOR 23 Jahre alt, mit äußerlicher Ruhe, hinter welcher er seine Leidenschaft verbirgt. ... Sagen sie nur, der Bruder einer Freundin ...
JOHANN. Der Bruder einer Freundin ... Einen Augenblick bitte ... Ab.
ANNIE tritt schnell ein, prallt mit einem unterdrückten Freudenschrei zurück. Viktor –![29]
VIKTOR eilt auf sie zu, nimmt sie in seine Arme. Meine liebe, süße Annie!
ANNIE. Um Gotteswillen, wie konntest du dich hierher wagen? Papa kann jeden Augenblick kommen. Was dann?
VIKTOR ungestüm. Es ist mir gleichgültig, ich mußte dich sehen und sprechen. Übrigens hab' ich deinen Vater beobachtet, wie er fortgegangen ist. Und außer ihm kennt mich ja niemand hier.
ANNIE sieht bei den Türen nach.
VIKTOR. Warum warst du gestern nicht bei der Stadtkirche wie gewöhnlich? Und vorgestern nicht und vorvorgestern auch nicht? Ich habe jedesmal bis in die späte Nacht gewartet. Ich habe es nicht länger ausgehalten. Warum bist du nicht gekommen?
ANNIE. Ich darf seit drei Tagen nicht allein das Haus verlassen. Papa hat es verboten und ich werde seit dem Tage, an dem du mit ihm gesprochen hast, förmlich bewacht. Er will verhindern, daß wir einander wiedersehen, bevor ich abreise. Morgen holt mich die Tante ab.
VIKTOR. Warum hast du nicht geschrieben?
ANNIE. Meine Post wird untersucht.
VIKTOR. Und morgen fährst du schon?
ANNIE. Ja.
VIKTOR stampft mit dem Fuße auf. Verwünscht, was machen wir also?
ANNIE. Nichts können wir dagegen tun, Viktor, es ist aus.
VIKTOR. Oho! Das wollen wir doch erst einmal sehen! So leicht geb' ich dich nicht auf! Was kann denn ich dafür, daß mein Vater unglückseligerweise nicht irgend ein Hausknecht ist, sondern Großgrundbesitzer und Graf noch dazu! Es ist von deinem Vater ...
ANNIE. Nicht schimpfen, Viktor ...
VIKTOR nach einer Weile in dumpfer Verzweiflung. Das soll nun also das Ende sein? Das Ende unseres[30] Glückes, unserer kurzen Liebe, unseres Seligkeitstraumes? Annie! Und du kannst das glauben? Willst das glauben?
ANNIE zuckt verzweifelt die Schultern. Was sollen wir tun? Wir müssen uns fügen.
VIKTOR. Wenn du so sprechen kannst, Annie, dann ... dann ...
ANNIE. Dann ...?
VIKTOR. Dann liebst du mich nicht, Annie!
ANNIE fast jammernd. Viktor –!
VIKTOR nimmt sie in seine Arme, kost sie voll Liebe. Ich hab's nicht so gemeint, mein Mädel, das weißt du ja. Aber ich bin ja schon verrückt. Meine Nerven halten diese Folter nicht länger aus ... Seit den drei Tagen, an welchen ich dich nicht gesehen habe, laufe ich wie ein Irrsinniger umher.
ANNIE gefaßt. So laß uns unsere Lage ruhig überdenken, Viktor. Wir haben zwei Möglichkeiten: Entweder wir fügen uns oder wir fügen uns eben nicht.
VIKTOR. Für mich kommt nur diese letzte Möglichkeit in Betracht: Wir fügen uns nicht! Heute nicht und morgen nicht und niemals! Pause. Und du, Annie, was gilt für dich?
ANNIE. Für mich gilt, was für dich gilt. Ich bin mit allem einverstanden, was du bestimmst.
VIKTOR. Annie! – – Pause. Und wenn alles um uns und unter uns zusammenbricht ... wir haben schon einmal davon gesprochen, Annie ... so, so ...
ANNIE düster. Ja, wir haben davon schon gesprochen ...
VIKTOR. ...so bleiben uns noch immer die steilen Abhänge eines Berges oder ...
ANNIE. Oder das Wasser ... Eine Weile Schweigen.
VIKTOR. Wir müssen uns heute noch treffen. Alles weitere wird sich dann finden. Du kommst in meine Wohnung, dort können wir ungestört beraten.
ANNIE. Gut. Aber wie komme ich von hier fort?[31]
VIKTOR. Man kann sich ja eine Lüge erdichten.
ANNIE. Still, ich höre Schritte ... was sagen wir jetzt? ...
VIKTOR. Laß mich nur machen. Ich gebe mich als der Bruder einer deiner Freundinnen aus, welche anläßlich deiner Abreise eine Jause gibt. Nenn' mir nur schnell einen Namen.
ANNIE. Winter, Gretl Winter.
VIKTOR. Kennt deine Mama sie oder ihre Familie?
ANNIE. Nein, sie kennt sie nur dem Namen nach.
VIKTOR. Dann ist es gut.
Vorige, Marie, Professor.
MARIE stutzt. Wer ist denn der Herr?
VIKTOR erschrickt, als er den Professor sieht; schnell gefaßt. Gestatten, gnädige Frau, daß ich mich vorstelle. Mein Name ist Winter. Franz Winter. Ich bin der Bruder der Gretl Winter.
MARIE. Gretl Winter? Deine Freundin?
ANNIE. Ja, Ja.
VIKTOR. Die Mama hat mich nämlich hergeschickt. Wir haben erfahren, daß das Fräulein Tochter verreist und da hat die Mama eine Jause gerichtet. Es sind noch einige Mädchen geladen. Jetzt soll das Fräulein kommen und das Fräulein will nicht. Und dabei ist ja doch gerade das Fräulein die Hauptperson, nicht?
MARIE. Das ist aber wirklich mehr als liebenswürdig von der Frau Mama. Meine Tochter wird auch kommen, gewiß wird sie kommen. Halblaut. Du kannst doch die Leute nicht brüskieren. Warum willst du denn nicht? Soll man sagen, daß du hochmütig bist? Du weißt, wie Papa darüber denkt ...
ANNIE. Aber du weißt doch, Papa will nicht, daß ...
MARIE. So hat er das sicher nicht gemeint. Geh nur ruhig hin. Er wird sehr einverstanden sein, daß du gegangen bist. Wenigstens vergehen dir die Grillen.[32]
VIKTOR. Also darf ich hoffen, daß das gnädige Fräulein kommt?
MARIE. Ja, meine Tochter kommt ganz bestimmt. Wann soll sie denn dort sein?
VIKTOR. Nun, so bald als möglich natürlich.
MARIE. Also gut. Sie zieht sich nur um und kommt Ihnen gleich nach. Auf Wiedersehen, Herr Winter, und eine Empfehlung an die Frau Mama, wenn auch unbekannterweise ...
VIKTOR küßt ihr die Hand. Hauptplatz Nr. 12. Das Fräulein weiß es ja ohnehin. Verneigt sich, ab.
MARIE. Ein netter junger Mann. Ein sehr netter, sympathischer, junger Mann und ein hübscher Mensch. Geh, richt' dich her, damit du bald hinkommst und freu' dich auf den Nachmittag. Setz' endlich wieder einmal ein vergnügtes Gesicht auf und verlieb' dich nur fest in diesen Herrn Winter. Wird dir gar nicht schaden. Verstanden?
ANNIE. Ja, Mama.
MARIE. Geh nur, geh. Der Onkel entschuldigt dich schon.
ANNIE. Adieu Mama, adieu Onkel. Ab.
PROFESSOR nachdenklich. Dem jungen Mann muß ich schon einmal irgendwo begegnet sein ...
Marie, Professor.
MARIE dem Professor Platz anbietend. Sie wollen also wirklich schon morgen zurückfahren, Schwager?
PROFESSOR. Ich muß leider. Ich muß. Meine Studenten warten. Es ist mir auch wirklich nicht leicht gefallen, mir diese drei Tage Urlaub zu verschaffen. Aber da ich Ihnen den Heinz auf fast acht Wochen überlassen soll und ich überdies mit meinem Bruder gerade Heinzens wegen ein sehr ernstes Wort zu sprechen habe ...
MARIE. »Ihn uns überlassen!« Sie sprechen gerade so, als ob Sie der Vater wären und nicht Ernst.[33]
PROFESSOR. Weiß der Himmel, der Junge ist mir so an's Herz gewachsen, daß er mir auf Schritt und Tritt fehlen wird, wenn ich mir auch immer wiederhole, daß es nur acht Wochen sind.
MARIE. Ja, glauben Sie denn, Friedrich, daß es uns, den Eltern, nicht mindestens ebenso schwer fällt, Heinz das ganze Jahr in der Fremde zu wissen?
PROFESSOR. In der Fremde?
MARIE. Ich wollte Sie nicht kränken, Schwager. Doch bedenken Sie: Ernst sah seinen Sohn gestern zum erstenmal seit einem halben Jahr wieder. Wie oft hat er in der Zwischenzeit bedauert, Heinz so weit zu Ihnen fortgegeben zu haben, wenn Heinz auch dank Ihrer Verbindungen sein Einjährigenjahr angenehmer abdient, als es hier möglich gewesen wäre, wo jeder Offizier Ernst kennt und haßt.
PROFESSOR. So – Ernst bedauert! Hat er denn überhaupt Zeit, darüber nachzudenken, daß er auch Frau und Kinder hat? Mir scheint fast, daß nicht.
MARIE. Sie tun Ernst unrecht. Er ist ja so angestrengt, seit er die Fraktionsleitung übernommen hat. Vormittags irgend eine Sitzung, Kommissionen und allerlei Wege für die Partei, nachmittags Sprechstunden und abends wieder Konferenzen, Sitzungen, die bis spät in die Nacht dauern. Und das geht so Tag für Tag.
PROFESSOR. So daß er nicht Zeit für Frau und Kinder findet.
MARIE. Lieber Schwager, Sie müssen bedenken ...
PROFESSOR. Entschuldigen Sie nichts, Schwägerin. Sie wissen genau so gut wie ich, daß es da nichts zu entschuldigen gibt. Ihm ist der Rummel ja zu Kopfe gestiegen. Daß ich das erleben muß: Mein Bruder Führer einer radikalen Fraktion! Unser armer Vater muß sich ja im Grabe umdrehen!
JOHANN. Die Sprechstunde beginnt gleich, gnädige Frau. Es warten schon einige Leute draußen.[34]
MARIE. Gehen wir ins Nebenzimmer, Friedrich. Mein Mann will nicht, daß seine Parteifreunde im Vorzimmer warten müssen.
PROFESSOR. Die Parteifreunde! Lacht. Zu Johann. Ist es nicht geraten, daß Sie im Zimmer bleiben?
JOHANN. Ja, ich bleibe ohnedies hier. Der Herr Abgeordnete hat es ein- für allemal befohlen.
PROFESSOR. Daran hat er sehr weise getan. Wie leicht könnte es so einem dieser ehrenwerten Herrn Parteifreunde beispielsweise einfallen, einen silbernen Leuchter schön zu finden. Mir scheint, Ernst kennt seine Leute doch recht gut!
MARIE. Aber Schwager! Beide ab.
Meyer, Vater und Sohn, Johann.
MEYER, VATER. Entschuldigen scho, Herr Diener, war dös die Gnädige?
JOHANN. Ja.
MEYER, SOHN. Und wer war denn nacha der Herr?
JOHANN. Das war der Herr Professor Bergmann. Der Bruder vom Herrn Abgeordneten. Zum Vater. Sie müssen sich doch noch an ihn erinnern, Herr Meyer?
MEYER, VATER. Maria und Josef! Das war er? Das ist der, was ...? Ja, was macht denn der da?
MEYER, SOHN. Wer ist er denn, Vater?
MEYER, VATER. Hast du dir den gut ang'schaut? Weißt du, was der einmal g'sagt hat? Man soll uns alle aufhängen, hat er g'sagt, denn wir sind Hochverräter, hat er g'sagt!
MEYER, SOHN. Dich und mich aufhängen? Was hast du ihm denn 'tan?
MEYER, VATER. Dummkopf, net dich und mich, sondern uns alle, uns Radikale! Erinnern Sie Ihnen noch, Herr Diener? Und wie wir ihm dann aus dem Parlament hinausgeworfen haben? Erinnern S' Ihnen noch?[35]
JOHANN. No, no, no ... hinausgeworfen haben wir ihn nicht, das ist einmal schon nicht wahr. Der Professor ist freiwillig ausgetreten, weil er sich nicht hat entschuldigen wollen, wie er sie alle beleidigt hat, die Abgeordneten und den Vizepräsidenten, der den Vorsitz g'führt hat ...
MEYER, VATER. Der is nämlich auch einer von uns g'west und hat ihm gleich, wie er zum Schimpfen angefangen hat, zur Ordnung gerufen und die Wörter weggenommen oder wia ma da sagt ...
JOHANN. »Das Wort entzogen«, sagt man ...
MEYER, SOHN. Und da hat er den Vizepräsidenten auch beleidigt?
JOHANN. Ja. Die Sitzung is damals vertagt worden und gegen den Professor hätte der Disziplinarausschuß zusammentreten sollen. Dann hätte sich der Professor entschuldigen müssen. Aber das hat er nicht wollen und weil er auch nichts hat zurücknehmen wollen, ist er ausgetreten.
MEYER, VATER. Wer is zusammengetreten worden, damals? Man hört Schritte.
JOHANN. Pst, der Herr Abgeordnete kommt.
Bergmann, Vorige.
BERGMANN. Grüß Gott, Grüß Gott. Was? Der Meyer? Und dieser Soldat? Ihr Sohn? Schön, freut mich, freut mich. Nehmt Platz. Zu Johann. Wenn der Herr Redakteur kommt, wird er sofort vorgelassen. Johann ab. Und nun zu euch. Ja, also mein lieber Meyer, ich habe mir die Sache überlegt, reiflich überlegt.
MEYER, VATER. Hört, Hört ...
BERGMANN. Ich kann leider nichts unternehmen.
MEYER, VATER setzt sich mit einem Rucke auf. Ah?
BERGMANN. Es ist eine zu geringe Geringfügigkeit.
MEYER, VATER dem langsam die Zornröte ins Gesicht steigt. So, So. Geringe Geringfügigkeit. Hört, Hört ...[36]
BERGMANN. Diesmal geht's also nicht. Vielleicht kann ich Ihnen ein anderes Mal gefällig sein.
MEYER, VATER. Ah, ein anderes Mal. Hört hört. Und mit Verlaub, was sollen wir alsdann tun?
BERGMANN. Hübsch nach Hause gehen Zum Sohn. und namentlich Sie beileibe niemandem erzählen, daß und weshalb Sie bei mir gewesen sind.
MEYER, VATER sehr gereizt. Und mir sollen alsdann gar nix unternehmen gegen die Sekkaturen, auch wenn man uns noch soviel antut, was? Und mein Sohn, der arme Bub, soll sich weiter schinden und plagen alle Tage und am Sonntag, da soll er sich noch extra einsperren lassen, was? Dös raten Sie uns, Sie, unser Abgeordneter?
BERGMANN nervös. Ja, entschuldigen Sie vielmals, bester Meyer, aber was soll ich denn in dieser Sache eigentlich tun? Ärgerlich auflachend. Soll ich vielleicht morgen den Ministerpräsidenten interpellieren, warum der Infanterist Meyer am letzten Sonntag Kasernarrest hatte? Soll ich das?
MEYER, VATER böse, grob. No, zum Lachen ist dös grad net! Freilich sollen Sie ihm intrböllieren. Aber Sie, Sie machen ja gar nix. Gar nix machen Sie für unserein'. Höchstens halten S' noch zu die Militärischen. Das haben mir ja erscht neulich g'sehn wia über die Maschingewehr' im Parlament dischkutiert worden ist. Und gestern, da haben's ja alle g'sagt: da haben mir uns amal schön angschmiert wia mir Ihnen gewählt haben. Jawohl, alle haben dös g'sagt, alle.
BERGMANN auffahrend. Meyer, was unterstehen Sie sich! Sind Sie denn betrunken, daß Sie annehmen können, ich würde eine derartige Bagatelle im Parlament zur Sprache bringen? Geht erregt auf und ab.
MEYER, VATER gedrückt nach einer Weile. Da können mir also jetztn gehn, Herr Bergmann?
BERGMANN. Ja.
Beide Meyer erheben sich.
[37]
MEYER, VATER. Vielen Dank, Herr Bergmann ... und nix für ungut, Herr Bergmann. Im Zurn, Herr Bergmann, da kommt einem bald was aus, Herr Bergmann, was einem nacha leid tut, Herr Bergmann, dös wissen S' ja ...
BERGMANN. Schon gut, schon gut.
MEYER, VATER. Und vielleicht überlegen S' Ihna die Sach' doch noch einmal Herr Bergmann, und ... morgen um die Zeit da schau' ich halt wieder her, vielleicht ...?
BERGMANN verzweifelt. Nein, nein. Morgen nicht, morgen hab ich keine Zeit.
MEYER, VATER sehr freundlich. Alsdann komm' ich halt übermorgen wieder um die Zeit. Die Ehre, Herr Bergmann, Kompliment. Mit seinem Sohne ab.
Bergmann, Dvorsky, Johann, später Professor.
BERGMANN läutet, Johann tritt ein. Wenn in den nächsten Tagen die Meyers kommen, werden sie nicht mehr vorgelassen. Sind noch Leute draußen außer Dvorsky?
JOHANN. Ja, eine Frau und drei Männer.
BERGMANN. Ich kann heute außer Dvorsky niemand mehr empfangen; schick' sie fort. Sie sollen morgen wieder kommen. Du wirst sie dann in der Reihenfolge wie sie heute da waren, vorlassen.
JOHANN. Herr Abgeordneter, die Leute murren, sie waren gestern auch schon da; manche von ihnen sogar schon vorgestern.
BERGMANN. Ja, das tut mir sehr leid, aber ich habe heute wirklich keine Zeit mehr. Schick' sie fort. Johann ab. Man hört draußen Stimmenwechsel, dann mehrere lebhafte, erregte Ausrufe. Dvorsky tritt ein.
BERGMANN. Grüß Sie Gott, Dvorsky.
DVORSKY sehr arrogant. Gutte Tag!
BERGMANN. Bitte, nehmen Sie Platz.[38]
DVORSKY wie vorhin. I danke, i kann a stähn.
BERGMANN in seinen Papieren blätternd. Ja es tut mir sehr leid, Dvorsky, daß ich Ihnen in dieser Angelegenheit nicht helfen kann; aber es ist augenblicklich nichts frei.
DVORSKY lacht. O jäh, gehst weg, is nix frei? Was Sie sagen tun? Is nix frei? O jäh ... Lacht.
BERGMANN aufsehend. Warum lachen Sie denn?
DVORSKY lacht stärker.
BERGMANN wird zornig. Wollen Sie mir nicht erklären, warum Sie lachen? Oder sind Sie vielleicht hergekommen, mich auszulachen?
DVORSKY. O, ich lach nur, weil Sie gar so scheen liggen tun. Und Sie sulln froh sein, mein Libber, daß i bloß lach und ni schimpf.
BERGMANN aufspringend. Was fällt Ihnen ein? Was unterstehen Sie sich? Augenblicklich verlassen Sie das Zimmer! Unverschämter Wicht!
DVORSKY schreiend. Was bin i? Eine unverschämte Knecht? Du, i bin ausgelernte Schlossermeister, verstähst, und keine Knecht! Verstähst du? Und was bist du? Eine Liggner und eine Betrigger bist du! Verstähst? Du tust die Leite goldene Berge versprechn und schmierst ihnen an. Verstähst? Solche Mensch bist du. Und dafir hab ich dir meine Stimme gegäbn und du hast nix dafir gegäbn und nur versprochn und nicht gehaltn?
BERGMANN läutet.
JOHANN tritt ein.
BERGMANN auf Dvorsky deutend. Hinaus!
DVORSKY in den höchsten Tönen. Waas? Mir hinauswerfen mit Dinner? Mir hinausschmeißn mit Dinner? I pfeif auf ganze radikale Partei! Verstähst? Schwindler! Betrigger! Postn is nich frei? Gemeine Ligge! Cechische Abgeordneter hat mir schon verschafft! Gemeines Gesindel! Betrigger! Liggner! Johann hat ihn gefaßt und zerrt ihn hinaus. Man hört noch lange schimpfen.
PROFESSOR ist unbemerkt eingetreten, war Zeuge des Vorfalles.[39]
BERGMANN für sich. Ekelhaft, diese ...
PROFESSOR vortretend. Sprich das große Wort nur gelassen aus.
BERGMANN unangenehm überrascht. Du warst hier?
PROFESSOR. Ja. Es ist dir wohl nicht recht, daß ich diese – hm – nennen wir es Episode – mit erlebt habe, wie?
BERGMANN schweigt.
PROFESSOR. Na, na, mach' dir nichts draus. Vor mir brauchst du dich nicht zu genieren. Aber weißt du, was ich konstatiert habe? Erstens, daß alle deine Räuspert sich. »Herren Parteigenossen« Choleriker zu sein scheinen, welchen du vor der Besprechung mit Brom aufwarten solltest und zweitens, daß die wichtigste Persönlichkeit im Arbeitszimmer des radikalen Fraktionsführers der Diener zu sein scheint. Ihm fällt die ehrenvolle Aufgabe zu, die p.t. Herren Parteigenossen nach beendeter Konferenz auf die Straße zu befördern. Rein wundervoll wie der Mann arbeitet. Dieser großartige Griff im Genick! Ja das macht die Uebung.
BERGMANN schreibt ohne aufzusehen.
PROFESSOR geht eine Weile im Zimmer auf und ab. Dann ernst. Du, ich habe mit dir heute noch zu sprechen. Ich bin mit Heinz mitgekommen, um mit dir über seine Zukunft zu sprechen.
BERGMANN nervös. Lieber Bruder, du siehst ja, daß ich arbeite. Für dergleichen Dummheiten habe ich wirklich heute keine Zeit.
PROFESSOR. Dummheiten?
BERGMANN nervöser. Ja, ja, ja. Ich weiß schon, was du sagen willst. War ja auch gar nicht so gemeint. Aber du siehst doch, daß ich zu arbeiten habe. Erstaunt aufblickend. Uebrigens ist die Frage der Zukunft Heinrichs, meines Wissens nach, bereits gelöst. Längst gelöst. Und ich wüßte nicht, was es da noch zu besprechen gäbe.
PROFESSOR. Doch, doch. Es gibt noch sehr viel Wesentliches zu besprechen. Wann hast du also Zeit,[40] wenn du jetzt für deinen Sohn keine Zeit hast? Ich fahre jedenfalls nicht früher zurück, bevor ich diese Angelegenheit mit dir ins Reine gebracht habe.
BERGMANN blickt mißmutig auf die Uhr. Ja, ich kann dir nicht helfen, ich hab' aber jetzt wirklich keine Zeit. Ich hab' noch eine Menge aufzuarbeiten und etwa in einer halben Stunde kommt jemand zu mir, mit dem ich konferieren muß ...
PROFESSOR. Gut, gut. Wann also?
BERGMANN wieder auf die Uhr blickend. In einer Stunde vielleicht. Bis dahin bin ich hoffentlich mit allem fertig.
PROFESSOR. Schön, also in einer Stunde. Auf Wiedersehen einstweilen.
BERGMANN. Auf Wiedersehen. Professor ab.
Bergmann, Heldenberg.
BERGMANN beginnt zu schreiben, manchmal auch halblaut, undeutlich lesend, dann lauter. ad 1 ... Rüstungskredit ... lehne ich glatt ab. Begründung ... Schreibt. Das geht wirklich nicht, ad 2 ... Neuarmierung der Artillerie, besonders der schweren ... Schreibt. Geht ebensowenig an. ad 3 ... Erhöhung des Rekrutenkontingentes ... ja, damit noch mehr Leute zu den wichtigsten Zeiten der Bearbeitung von Grund und Boden und den Industrien entzogen werden, bloß um die Kasernhöfe zu füllen! Schreibt weiter.
JOHANN. Herr Chefredakteur Baron Heldenberg.
BERGMANN. Ich lasse bitten.
HELDENBERG. Tag, Bergmann.
BERGMANN. Grüß dich Gott, Heldenberg. Bitte entschuldige mich nur noch einen Augenblick. Gleich bin ich fertig. Dort bitte sind Zigarren.
HELDENBERG. Weiß schon, weiß schon. Danke. Laß dich nur nicht stören. Ich hab' Zeit. Raucht an, läßt sich in einen Fauteuil fallen.
BERGMANN schreibt noch etliche Augenblicke, streicht[41] etwas durch, löscht ab. Dann steht er auf, geht im Zimmer auf und ab.
HELDENBERG. Fertig?
BERGMANN reckt sich. Ja, fertig.
HELDENBERG. Und?
BERGMANN. Nun, natürlich glatte Ablehnung der Vorlage. Punkt für Punkt.
HELDENBERG dreht sich mit einem Rucke um. Wie sagtest du? Ich habe wohl schlecht gehört?
BERGMANN. Ich sagte, daß ich die Vorlage Punkt für Punkt ablehnen werde.
HELDENBERG erregt aufspringend. Bist du toll geworden? Du willst Forderungen dieser Natur in dieser Zeit die Zustimmung der Fraktion verweigern?
BERGMANN. Allerdings will ich das. Und die Vorlage wird von uns – wenn auch nur von uns allein – abgelehnt werden.
HELDENBERG hitzig. Oho, das wollen wir sehen!
BERGMANN. Das wirst du sehen. Uebrigens, wenn es dich interessiert zu wissen, was ich morgen sprechen werde ... dort liegt das Konzept.
HELDENBERG tritt zum Schreibtisch, liest. Nach einer Weile lacht er schallend auf. Du bist ja verrückt! Total verrückt! In der heutigen Zeit, in der das ganze Volk von einem nationalen Taumel ergriffen ist, in der es von plötzlich erwachter »Vaterlandsliebe« förmlich sprüht und einen – wie es sagt – »nationalen Krieg um seine Existenz« zu führen schon fast bereit ist, gegen die nötigen Mittel zu stimmen, erkläre ich als Wahnsinn. Die ganze Welt will den Krieg. Du willst ihn verhindern?
BERGMANN. Es ist nicht richtig, was du sagst. Nicht die Völker wollen den Krieg, sondern die Regierungen!
HELDENBERG. Das ist Worttüftelei. Lies die heutigen Zeitungen, geh' in Versammlungen. Ueberall tönt dir ein Wort entgegen: »Krieg!« Ueberall wird dir klar[42] gemacht, wie notwendig er ist. Wenn du gegen die Vorlage stimmst, ladest du auf die Partei das Odium der »Vaterlandsfeindschaft«, der Sympathie für den Gegner, der uns vernichten, uns ans Leben will. Das Volk berauscht sich zur Abwechslung an dem Einheitsgedanken aller Parteien, am allgemeinen Burgfrieden. Es erwartet, daß die Vorlage unter Jubel morgen von allen Parteien angenommen wird.
BERGMANN. Ja, es suggeriert sich förmlich in eine Kriegsfreudigkeit hinein.
HELDENBERG. Wir haben genug gesprochen, genug gewarnt, genug gegen die öffentliche Meinung gekämpft. Jetzt ist es zu spät. Jetzt gilt es nur noch den Schein zu retten. Uns trifft sonst der Haß aller Parteien.
BERGMANN. Du mutest mir zu, gegen bessere Ueberzeugung zu handeln?
HELDENBERG. Ach was, Ueberzeugung hin, Ueberzeugung her. Ein Politiker braucht keine Ueberzeugung. Ein Politiker muß beweglich sein. Du hast dich überzeugt, daß deine bisherige Ueberzeugung eine unrichtige war und – wechselst sie eben. Da ist weiter gar nichts dabei. Damit du aber am Ende nicht wirklich in Gefahr kommst ... Zerreißt des Konzept.
BERGMANN hinzuspringend. Heldenberg!
HELDENBERG. Du befiehlst?
BERGMANN. Wie kannst du dich unterstehn?
HELDENBERG. Deine schöne Rede zu zerreißen? Mit dem Rechte deines Freundes und mit dem des Parteimitgliedes; wie ich glaube, nicht des jüngsten. Du wirst die Forderungen vorbehaltlos annehmen.
BERGMANN erregt. Ich werde sie vorbehalt los ablehnen!
HELDENBERG ebenfalls erregt auf ihn zutretend und ihn am Arm fassend. Ich sage dir, die Forderungen werden angenommen!
BERGMANN sich freimachend. Und ich dir: Sie werden abgelehnt werden.[43]
HELDENBERG drohend. Bergmann! Ich warne dich!
BERGMANN. Was willst du damit sagen?
HELDENBERG. Du sprichst ohne unsere Zustimmung.
BERGMANN. Das ist nicht richtig; die Fraktion weiß, daß ich morgen sprechen werde.
HELDENBERG. Aber sie weiß nicht, was du sagen willst.
BERGMANN. Sie hat sich noch nie sonderlich dafür interessiert.
HELDENBERG. Sie würde deinem Entschluß nie ihre Zustimmung gegeben haben.
BERGMANN. Auf eure Zustimmung verzichte ich dankend.
HELDENBERG. Das ist eine Unehrlichkeit!
BERGMANN. Hüte dich, Heldenberg!
HELDENBERG. Du hast nicht den Mut gehabt, der Fraktion deine Meinung zu sagen! Schreiend. Das ist eine Feigheit!
BERGMANN. Schweig', sag' ich dir! Du pochst zu viel auf deine Freundschaft mit mir! Aber alle Stricke reißen mit der Zeit! Die Fraktion hat mir noch nie vorgeschrieben, wie ich mich zu verhalten habe. Die einzigen, die reden und immer den Mund offen haben, sind, wenn ich's recht überdenke, ja immer nur Heldenberg samt Anhang. Von euch aber habe ich mich gerade genug am Gängelbande führen lassen. Wenn ich aber in schwierigen Lagen an euch herangetreten bin, ihr sollt auch einmal raten, dann habt ihr nur stets bedeutet, die Suppe, die ihr mir eingebrockt, selbst auszulöffeln. Dafür wäre ich der Fraktionsführer! Aber jetzt habe ich genug!
HELDENBERG. Ich sage dir nur das eine, Bergmann: Wer hoch steht, kann tief fallen!
BERGMANN. Du wagst mir zu drohen?
HELDENBERG. Ich habe keine Veranlassung, meinen Worten eine andere Deutung zu geben.
BERGMANN nach einer Weile ruhiger. Ihr alle seid ja[44] so ungeheuer klug! Ihr kritisiert immer so gut und trefft nachher stets das Richtige. Alles aber, wie gesagt, immer nachher. Wenn ihr vorher überhaupt einmal den Mund aufmacht, dann sagt ihr immer nur, wie etwas nicht ausgeführt werden darf. Aber wie es dann ja gemacht werden soll, darüber zerbrecht ihr euch eure Köpfe nicht. Dazu bin ich dann gut genug. Ich wiederhole dir, ich habe jetzt auch schon genug; mehr sogar, als einem gut und zuträglich ist. Ich verantworte, was geschieht, ich muß die Verantwortung auch tragen. Und ich sage dir, mich drückt die Verantwortung häufig zu Boden. Vor der Welt muß ich's verantworten, vor meinem Gewissen kann ich's oft nicht mehr.
HELDENBERG spöttisch. Hör' auf, bitte, sonst übermannt mich noch die Rührung. Sprechen wir also von etwas anderem. Vielleicht gestattest du, daß ich dir über die gestrige Sitzung, in welcher du natürlich wieder durch Abwesenheit glänztest, referiere.
BERGMANN. Ich habe keine Zeit für dieses nutzlose Gerede; ich dehne dafür lieber meine Sprechstunden aus und helfe einigen armen Teufeln, als daß ich als geduldiger Zuhörer den Redeübungen geistiger Analphabeten zuhören und applaudieren muß.
HELDENBERG. Bitte, bitte. Ich mache dir ja auch keinen Vorwurf. Ich habe ja nur die Tatsache deiner Abwesenheit konstatiert. Also gestattest du, daß ich dir referiere?
BERGMANN tritt ans Fenster. Wenn du es für notwendig hältst, bitte.
HELDENBERG ruhig. Ich halte es für notwendig. Also Herr ... der Name tut nichts zur Sache ... interpellierte der Maschinengewehrfrage wegen, die ... hm ... eine allerdings so eigenartige Lösung erfahren hat. Interpellant konstatierte mit Bedauern, daß du nicht anwesend seist. Du hättest vermutlich Gründe, dich nicht zu zeigen.[45]
BERGMANN. Aha!
HELDENBERG. Weiters fragte er, ob es nicht möglich wäre, die ganze Sache unter dem Hinweis, der Bevollmächtigte der Fraktion sei zur Ablehnung der letzten Vorlage im Namen der Fraktion nicht berechtigt gewesen, rückgängig zu machen.
BERGMANN dreht sich kurz um. Wer war der Interpellant?
HELDENBERG. Ich sagte schon anfangs: der Name tut nichts zur Sache. Uebrigens sprach der Mann, das war aus den lauten »Bravorufen« zu entnehmen, im Namen fast aller.
BERGMANN. Weiter.
HELDENBERG. Interpellant meinte, es wäre geraten, dir beizeiten eine passende Hilfskraft zur Seite zu stellen. Es bestünde kein Zweifel – die Lösung der Maschinengewehrfrage hätte dies ja zur Genüge bewiesen – daß die Stellung, die du jetzt einnimmst, einen ganzen Mann mit Haaren auf den Zähnen erfordere. Ein solcher wärest du auch gewesen. Aber du würdest eben auch alt und die Haare gingen dir aus. Die auf dem Kopfe, welcher Umstand die Fraktion nicht sonderlich interessiert, als auch die auf den Zähnen, was die Partei zum ersten – und wie sie hofft und wünscht – zum letzten Male arg geschädigt hat. Dem Redner wurde allseits lebhaft zugestimmt.
BERGMANN heiser. So legt man mir mein Verhalten in der Maschinengewehrfrage als Starrköpfigkeit aus? Ich weiß, man hat es mir hinterbracht.
HELDENBERG. Fast allgemein. Man sagt, du wärest unseren Gegnern in die Falle gegangen, denen es nur angenehm ist, wenn allein wir stets gegen die Vorlage stimmen. Man sagt, du hättest dich – zuletzt in die Enge getrieben – verplappert!
BERGMANN zusammenzuckend, dann empört auffahrend. Wer wagte das zu sagen? Der nämliche Interpellant?
HELDENBERG. Der nämliche.[46]
BERGMANN. Und der war?
HELDENBERG. Ich sagte dir schon zweimal – der Name ...
BERGMANN ihn wütend unterbrechend. Jetzt hab' ich's satt mit dieser Geheimniskrämerei! Entweder er oder ich! Deckst du den andern, der zweifellos mein Gegner ist, so bist zweifellos auch du heimlich mein Gegner! Also?
HELDENBERG unschlüssig. Es war, es war ... Brandl.
BERGMANN erstaunt zurücktretend. Brandl? Dein Intimus? Ah!
HELDENBERG. Er sprach, ohne mir vorher ein Wort gesagt zu haben.
BERGMANN. Unter wessen Vorsitz fand die Versammlung statt?
HELDENBERG verlegen. Unter ... meinem.
BERGMANN. Unter deinem? Und du schlossest nicht die Versammlung? Du entzogst Brandl nicht einmal das Wort, als er mich, den Abwesenden, auf so unverantwortliche, ich muß es schon sagen, gemeine Weise angriff? Heldenberg?!
HELDENBERG sich entschuldigend. Es wäre nichts zu machen gewesen; die Stimmung aller war für ihn. Hätte ich ihm das Wort entzogen, wäre wahrscheinlich ein Tumult entstanden ...
BERGMANN abwehrend, müde. Schon gut, schon gut; gib dir keine Mühe weiter; die Sache ist ja ohnehin nicht mehr zu ändern. Ist sonst noch etwas vorgefallen?
HELDENBERG zögernd. Es wurde eine allgemeine Kundgebung verabredet ...
BERGMANN ungehalten. Wieder eine Demonstration? Für wann?
HELDENBERG seitwärtsblickend. Für heute abend.
BERGMANN. Wie? Für heute abend? Und davon erfuhr ich nichts? Und du, Heldenberg, wußtest darum und sagtest mir nichts? Zornig. Aber das wollen wir sehen, wer hier zu befehlen hat, Herr Brandl oder ich.[47] Ich werde die Demonstration sofort absagen und findet sie dennoch statt, so lege ich morgen die Führung der Fraktion nieder. Aus den Händen winden lasse ich mir nichts und ein Schattendasein werde ich auch nicht führen; darauf könnt ihr Gift nehmen. Tritt an den Schreibtisch, läutet; zu Johann. Verbinde mich mit der Zentrale. Johann ab.
HELDENBERG. Sei doch nicht gleich so aufgeregt, Bergmann. Ich habe ja noch nicht einmal Zeit gefunden, dir zu sagen, was die Leute durch die Demonstration erreichen wollen.
BERGMANN. Krawallisieren, was denn sonst?
HELDENBERG ernst. Diesmal irrst du dich, Bergmann. Die Leute wollen dich zurückgewinnen, so, wie du ehemals warst, wollen sie dich wieder haben. Und heute werden sie dir Ovationen bereiten. Deshalb haben wir es vor dir geheim gehalten.
BERGMANN ungläubig und freudig erstaunt. Ist das möglich?
HELDENBERG. Gewiß.
BERGMANN. Aber du sagtest doch, ihr wäret gegen mich, für die Annahme der Vorlage? Wie reimt sich denn das dann mit dem gestern Vorgefallenen?
HELDENBERG. Verzeih, Bergmann, aber ich habe nie behauptet, die Leute hätten sich in der Versammlung für die Vorlage ausgesprochen. Nur ich bin meiner innersten Ueberzeugung nach dafür, sie anzunehmen. Tust du's nicht, so ist das deine Sache in erster Linie. Deswegen soll aber unsere alte Freundschaft nicht in Brüche gehen. Und was die Sache selbst anbelangt, so kann ich mich nicht erinnern, daß gestern über die Vorlage gesprochen wurde. Also kannst du ganz unbesorgt sein und dich gleich mir auf die bevorstehende Huldigung freuen. Welchen Wert eine derartige Vertrauenskundgebung gerade im jetzigen Augenblick, vor der Ueberreichung deiner Antwort, bedeutet, magst du selbst ermessen.[48]
BERGMANN. Also wieder gut Freund, altes Haus? Streckt ihm die Hand hin, in die Heldenberg herzlich einschlägt.
HELDENBERG. Gut Freund!
BERGMANN aufatmend, sich setzend. Ja, diese Politik! Diese leidige, ekelhafte Politik!
HELDENBERG. Ich hörte, dein Sohn wäre gekommen?
BERGMANN. Ja, mit meinem Bruder.
HELDENBERG anscheinend überrascht. Mit dem Herrn Professor?
BERGMANN. Er hat Heinz hierher begleitet; richtig, da fällt mir ein, daß er mich des Jungen wegen dringend zu sprechen wünschte. Entschuldige mich einen Augenblick, ich will ihn herüberrufen.
HELDENBERG. O, ich will nicht stören ... Erhebt sich.
BERGMANN ihn wieder niederdrückend. Was fällt dir ein? Bitter. Wenn mein Bruder und ich miteinander zu sprechen haben, kann die ganze Welt zuhören.
HELDENBERG. Also noch immer das alte gereizte Verhältnis? Eigentlich ja ganz begreiflich bei euren entgegengesetzten politischen Ansichten. Offen gesagt, ich wundere mich, daß du ihm deinen Sohn anvertraut hast! Wenn du das nur nicht einmal zu bereuen haben wirst.
BERGMANN leichthin. Ach nein, Heinz ist klug. Er weiß, was er bei uns durch mich erreichen kann.
HELDENBERG. Na, na, ich traue unserem Herrn Professor nicht über den Weg. Verflucht hat er uns damals zugesetzt, bevor ... na, du weißt ja ... wie geht es ihm eigentlich jetzt?
BERGMANN. Schwer herzleidend; muß jeder Erregung ängstlich ausweichen.
HELDENBERG. Ein großer Arzt, der sich selbst nicht zu helfen weiß!
Professor, Marie, Heinz, die Vorigen.
Heinz ist in der Uniform eines
Einjährig-Freiwilligen.
PROFESSOR in Begleitung Maries und Heinrichs eintretend. Die Stunde ist um, Ernst, bist du fertig? Erblickt Heldenberg,[49] will sich zurückziehen. Verzeih, du hast noch Besuch ...
BERGMANN. Bitte, bleib' nur; ich bin schon fertig ... Vorstellend. Die Herren erkennen einander doch noch? Oder doch nicht mehr? Herr Chefredakteur Baron Heldenberg ... mein Bruder, Professor Dr. Bergmann.
PROFESSOR. Sie? Gedehnt. Sie sieht man ja überall! Einen Tag bin ich noch nicht hier, Sie hab' ich schon zweimal gesehen. Gestern mit Ihrer Frau und na, jetzt eben.
BERGMANN. Mit wem hast du ihn gestern gesehen?
PROFESSOR zu Heldenberg. Nun, mit Ihrer Frau Gemahlin. Sie wohnen doch noch auf der Hauptstraße? Sie scheinen auf dem Wege ins Theater gewesen zu sein? Ich habe Sie gesehen, gerade als Sie aus Ihrem Haustor herausgekommen sind.
HELDENBERG UND MARIE verfärben sich.
HELDENBERG unsicher. Haha ... Sie müssen sich jedenfalls geirrt haben, bester Herr Professor.
BERGMANN lachend. Er ist nämlich gar nicht verheiratet.
MARIE. Ei, ei, Herr von Heldenberg ...!
PROFESSOR. O, ich bitte tausendmal um Verzeihung für meine Indiskretion ... aber ich glaubte tatsächlich ...
MARIE stockend. Seht doch Herrn von Heldenberg an! Das hätte ich ihm gar nicht mehr zugemutet.
HELDENBERG. Haha, Sie meinen mein Alter, wie? Ja, sehen Sie, Alter schützt vor Torheit nicht ...
MARIE. Haben Sie übrigens ... die Dame gesehen? Ist sie hübsch?
PROFESSOR. Das kann ich leider nicht sagen. Von der Dame habe ich nur ihr Kostüm und ihren prachtvollen Hut gesehen. Na, hätte mir ja denken können, daß man seiner Frau keinen so kostbaren Reiher kauft.
BERGMANN. Ah, die Dame mit dem Reiher. Uebrigens, was das »Reiherkaufen« anbetrifft, muß ich dir lebhaft widersprechen. Ich habe meiner Frau erst neulich einen gekauft. Und was für einen schönen. Nicht wahr Marie?[50]
MARIE. Er ist prachtvoll.
BERGMANN. Du gehst ja später wahrscheinlich wieder fort?
MARIE. Ja. Mit einer Dame ins Theater.
BERGMANN. Da setzt du deinen Reiherhut nicht auf?
HELDENBERG. Was fällt dir ein? Ins Theater!
BERGMANN. Immerhin, du könntest' ihn, bevor du weggehst, Friedrich zeigen. Er soll einsehen, wie sehr er Unrecht hat.
HELDENBERG erregt. Aber das ist ja ein Unsinn.
BERGMANN. Was hast du denn?
HELDENBERG. Weil ich finde, daß das ein Unsinn ist. Deine Frau soll ihre Toilette eigens ändern, damit sie einen Reiher zeigen kann! Der Herr Professor hat sicher schon Hunderte von Reihern gesehen. Er kann sich vorstellen, wie ein besonders schöner aussieht.
BERGMANN immer erstaunter. Aber warum ereiferst du dich denn so?
PROFESSOR langsam, gewichtig, Heldenberg und Marie fixierend. Baron Heldenberg hat ja schließlich recht. Es ist klüger, deine Frau stört sich in ihrer Theatertoilette nicht. Ich kann mir ja vorstellen, wie ein schöner Reiher aussieht. Pause, dann wie vorhin fortfahrend. Uebrigens, wart ihr vor etwa 14 Tagen nicht in Graz?
HELDENBERG sehr befangen. Allerdings, ich war vor 14 Tagen in Graz. Wer soll denn noch dort gewesen sein?
PROFESSOR. Nun, ich dachte, ihr alle. Deine Frau und Baron Heldenberg glaube ich gesehen zu haben.
BERGMANN stutzt. Heldenberg war dort. Ja, wir nicht. Du wirst dich wohl getäuscht haben. Ich war hier und meine Frau ... die war allerdings verreist. Du warst in Salzburg, nicht? Du warst doch bei deiner Freundin, der Frau ...
MARIE. Langen.
BERGMANN. Ganz richtig. Bei Frau Langen in Salzburg. Ihr habt mir ja eine Menge Karten geschrieben.
MARIE. Gewiß.[51]
PROFESSOR. So, so. Ja, dann habe ich mich eben versehen. Es tritt ein äußerst betretenes Schweigen ein. Heldenberg versucht mehrmals ein Gespräch zu beginnen, wendet sich dann an Heinz.
HELDENBERG. Haben Sie sich aber verändert, Herr Heinz, seit ich Sie zuletzt gesehen habe! Wie lang' ist's wohl schon her? Eineinhalb Jahre fast? Oder noch länger?
HEINZ. Zwei Jahre.
HELDENBERG; Sie sind ein stattlicher, junger Mann geworden.
BERGMANN. Was dich aber nicht hindern soll, zu Heinz wie früher »du« zu sagen ...
HELDENBERG. Aber gerne ... ich wußte nur nicht, ob mir noch Heinz die Rechte des alten Freundes zugestehen will ...?
HEINZ sehr kühl. Bitte ... bitte ... Herr – Baron.
MARIE erhebt sich. Es wird spät. Die Herren müssen entschuldigen – aber ich muß noch Toilette für's Theater machen. Tauscht mit Heldenberg einen bedeutsamen Blick aus.
BERGMANN. Ja, geh' nur mein Kind. Marie ab.
Längere Pause. Man hört von ferne dumpfes Stimmengemurmel, das zeitweise sich erhebt, sich dann wieder senkt. Heldenberg wird unruhig, blickt nervös auf Bergmann. Heinz tritt ans Fenster.
PROFESSOR aufmerksam werdend. Was ist denn das?
HEINZ. Ich glaube gar, eine Demonstration.
PROFESSOR. Eine Demonstration ...? Wirft mißtrauische Blicke auf seinen Bruder und auf Heldenberg. Ihr seid doch nicht am Ende gegen die Vorlage???
Inzwischen sind die Demonstranten unter die Fenster Bergmanns gekommen. Hochrufe auf Bergmann und Heldenberg ertönen, von Hochrufen auf die Militärvorlage und auf die Armee unterbrochen.
BERGMANN zuckt zusammen. Was ist das??? Drohend, unterdrückt zu Heldenberg. Heldenberg, was hat das zu bedeuten??? Heldenberg, gib mir Auskunft!!!
HELDENBERG spielt den Erschreckten, Ueberraschten. Ich weiß es selbst nicht, Bergmann. Davon war auch mir nichts bekannt. Aber jetzt um Gotteswillen keine[52] Unbesonnenheit! Du mußt in den sauren Apfel beißen. Tust du's nicht, so blamierst du dich und vor allem die Fraktion, welche dir huldigt, für ewige Zeiten.
BERGMANN steht unentschlossen.
HELDENBERG überredend. Du kannst jetzt nicht mehr zurück, Bergmann. Ueberlege also nicht lange, sondern handle, als ob du die Demonstration billigst, als ob du sie gerne siehst. Sieh, wie dein Bruder schon hersieht ... Bergmann, jetzt frisch hinaus vor die Leute und zeige ihnen, daß der alte Bergmann jung geblieben ist, daß ihm die Haare auf den Zähnen noch nicht ausgegangen sind!
BERGMANN atmet tief auf, tonlos. Komm! Sie treten Arm in Arm auf den Balkon.
PROFESSOR ist aufgesprungen, hält krampfhaft die Sessellehne. Weißt du, was das vorstellt?
HEINZ. Gott sei Dank, Papas Fraktion demonstriert für die Vorlage! Man hört, als Bergmann und Heldenberg auf den Balkon treten, stürmische Hochrufe, dann tritt Ruhe ein; ein einzelner Redner spricht, häufig von Beifallsrufen unterbrochen; dann.
BERGMANN laut und vernehmlich. Ich danke euch, liebe Parteigenossen, für die sinnige Huldigung, die ihr mir soeben dargebracht habt und vor allem auch dafür, daß ihr eure feste Ansicht so klar und freimütig vor aller Welt zum Ausdrucke bringt. Offenheit und Ehrlichheit haben den Radikalen stets ausgezeichnet. Auch seine Gegner werden ihm einen Mangel in diesen beiden schönsten Tugenden nicht vorwerfen können. Und noch ein drittes freut mich: Daß unsere Meinungen wie immer, so auch diesmal in voller Uebereinstimmung sind. Und so werde ich denn – wie es unser aller Wille ist – die Militärvorlage morgen im Namen der Fraktion Pause. – annehmen!
Laute Hochrufe danken Bergmann, unter denen die Menge abzieht.
Vorhang.
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