Wiedersehen

[5] In bangen Nächten, wenn der graue Wahnsinn

Mit dürren Fingern an das Hirn mir pochte,

Wenn glüh'nde Thränen meine Kissen netzten,

Mein wildes Herz vor Zorn und Sehnsucht kochte –

In solchen Nächten war mir der Gedanke,

Daß Du noch lebst, daß ich Dich wiedersehe,

Ein Stern, nach dem ich zitternd hob die Hände –

Und trotzig weiter schleppt' ich dann mein Wehe.


Ich sah Dich wieder – wieder plötzlich flammten

Sie alle auf, die alten Wahnsinnsgluthen,

Der wilde Zorn, der Schmerz, die herbe Liebe –

Es war, als müßte ich vor Dir verbluten.

Du aber standest mit dem argen Lächeln,

Das mir bekannt aus gottverfluchten Tagen;

Der fahle Blick macht mir das Herz erstarren:

Es war ein freches, antwortsich'res Fragen!
[6]

Und Deine Hände streckten fieberglühend

Sich plötzlich so begehrend mir entgegen,

Und mehr und mehr sah ich Dein Bild erblassen,

Das mich begleitet einst auf allen Wegen:

»Das ist er nicht!« schrie es in meiner Seele,

»So war er nie, so kann er nimmer werden.«

Wofür wär' meine Seligkeit verspielet,

Wofür wär' ich verflucht – verflucht auf Erden! – –

Quelle:
Ada Christen: Aus der Asche. Hamburg 1870, S. 5-7.
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