I

[279] Wenn die Seele des Menschen unsterblich ist, Sire; so muß es davon Beweise geben, die keinen Zweifel übriglassen. Ich kann nur vor der Tür der Wahrheit fegen.

Die Natur hier bei uns auf Erden ist in beständiger Bewegung, und ihre Gebärde ist heute nicht wie gestern und ehegestern. Alles wandelt und wogt. Doch die verschiedenen Spezies in allen 3 Reichen bleiben unbeweglich, und stehen wie Fixsterne in diesem wogenden Meer. Ulysses' und Tobias' Hündlein wedelten schon mit dem Schwanze; der Kürbis rankte schon vor Ninive, und das Gold ist und bleibt 19mal schwerer als das Wasser. Weil die Natur, wie man spricht, keinen Sprung tut, so muß sie freilich durch allerhand Verwandlungen zum Ziel gehen, und läßt, auf dem Wege dahin, verschiedene Gestalten sehen; aber wenn die Spezies, die sie im Sinne hat, vollendet ist, so geht sie nicht weiter. Sich selbst gelassen geht sie nicht darüber hinaus,[279] und bleibt, wenn sie nicht gestört wird, nicht diesseits stehen. Ist die Spezies vollendet, so macht sie Feierabend, und sorgt nur für ihre Erhaltung; und wenn sie die Individua derselben nicht erhalten kann, so substituiert sie, auf die wundervolle Art und Weise, immer andre Individua, um so der Spezies eine Art von Ewigkeit zu verschaffen.

Es gibt zwar berühmte Gelehrte, die anders meinen und der Natur einen andern Plan ausgedacht haben. Ihnen sind die Spezies nur Ruhepunkte und Stufen, wo die Natur sich, sozusagen, besinnt und ausruht, um von da weiter, und immer vom Geringern zum Bessern und Vollkommnern vorwärts zu gehen; so daß z.E. aus einer Auster ein Krokodil, aus einer Mücke ein Kolibri etc., und aus den vollkommensten Tieren endlich gar Mensch und Engel werden könnten.

Diese Meinung ist artig genug erfunden; nur das erste und Hauptsächlichste dagegen ist, daß sie nicht wahr ist. Aus den Hühnereiern kommen nimmer Fasanen, sondern immer wieder Hühner hervor. Das ist die Beobachtung neuer und alter Zeiten, und die Chineser49 beweisen grade aus dieser Einrichtung das Dasein eines unendlichen Verstandes. Auch Noah muß die alte Meinung gehabt haben; er hätte sonst viel Mühe und Raum sparen können.

Die Natur schreitet so wenig von einer Spezies zu einer andern und vollkommnern fort, daß sie auch, wie gesagt, dieselbe Spezies nicht ändert und vollkommner macht. Die aufeinander folgenden Individua derselben sind und bleiben sich gleich, an Gestalt, Proportion, Talent und allen Eigenschaften und Neigungen, Sitten und Weisen. Die Herbstspinne spann schon bei den Römern ihr Gewebe in der wundersamen mathematischen Form mit Peripherien, Radien und Centro, und Aelianus bemerkt schon, daß sie bei diesem Kunstwerk den Euklides nicht nötig habe; er erzählt weiter von ihr, sie sitze in dem Centro ihres Gewebes und laure dem Raub auf, grade wie wir sie nach tausend und mehr Jahren noch sitzen sehen. Die wunderliche Sitte des Kuckucks ist bekannt, er legt nämlich sein Ei in das Nest eines andern Vogels und fliegt denn davon, und läßt den andern Vogel sein Ei ausbrüten[280] und den jungen Kuckuck großfüttern; dies ist aber nicht etwa eine Erfindung der spätern Jahrhunderte unter den Kuckucks, sondern sie haben es schon immer so gemacht, wie eben der Aelianus erzählt. Die Krähen hassen schon die Eule im Plinius, und kreischen schon das Regenwetter her im Virgil; die Schwalben kommen schon im Homer zu den Menschen ins Haus; die Ameise ist schon fleißig im Sirach, und der Pfau trägt noch die funkelnden Edelgesteine50, damit ihn die Juno zu des uralten Inachus Zeiten aufstaffierte. So ist es immer gewesen und so wird es bleiben, und sicherlich war, in der langen Reihe von Elefanten, die von Anfang bis zum Ende durch die Natur hintereinander hergehen, der, der mit dem Rücken am Chaos steht, wie der, der seinen Rüssel in die Trümmer des Jüngsten Tages ausstrecken wird.

Sonach wären die Spezies vielmehr als Modelle anzusehen, die der Natur im Anfang von höherer Hand aufgegeben sind, sie unverändert durchzuführen. Sie läßt es auch an ihr nicht fehlen, und exekutiert diese Modelle immerhin mit dem größten Fleiß und der größten Genauigkeit. Ja, sie ist auf die unverletzte Erhaltung derselben so eifersüchtig, daß sie den Versuchen sie zu ändern und zu wirren ihren Segen versagt; denn es ist bekannt, daß die Maulesel und überhaupt alle Bastarde nicht weiter generieren können.

Wenn die Resultate von den verschiedenen Bewegungen der gebärenden Natur immer einerlei und dieselben sind; so sind es natürlich die Bewegungen selbst auch. Und, mit einem Wort, in der ganzen Natur, so herrlich und so bewundernswürdig ihre Operationen sind, ist alles unbeweglich und niet – und nagelfest. Alles in ihr ist einem Gesetz der Notwendigkeit unterworfen, davon sie nicht abgeht und ohne eine fremde Hand nicht abgehen kann.

Der Mensch allein macht eine Ausnahme. Der ist beweglich! Und das gestehen ihm auch die zu, die eben nicht geneigt sind, ihn unsterblich sein zu lassen. Es fällt niemand ein, von der Aufklärung der Walfische etc. zu sprechen; aber sie sprechen alle von »Erziehung des Menschengeschlechts« von seiner moralischen Bildung und Veredelung, von finstern und erleuchteten Jahrhunderten usw. Und ob sie wohl, über diese Beweglichkeit und Bewegung, über diese Veredelung und Erleuchtung, nicht alle[281] recht und einerlei berichtet zu sein scheinen; so ist doch über die Sache selbst nur eine Stimme. Nun ein Teil vom Menschen gehört mit zu der Natur, und insoweit folgt er ihren Gesetzen. Es muß denn also in ihm zugleich noch etwas anders sein als in der ganzen Natur.

Schon auswendig übt der Mensch eine Art von Herrschaft über die Natur aus, und er scheint auch vor allen sichtbaren Geschöpfen dazu berufen zu sein. Er läßt nichts unversucht, so klein er ist, und ihm nichts unmöglich. Er umschiffet die ganze Welt, mißt Himmel und Erde, bändigt alle Tiere und Pflanzen, Feld und Wald, Berg und Tal, Bach und Strom, und die Wogen des Meeres. Er macht in verschiedenen Operationen, z.E. den Einimpfungen und andern, die Natur mehr tun, als sie allein kann und allein je getan hätte, und disponiert also über ihr Gesetz. Es ist denn nicht allein etwas anders im Menschen als sonst in der ganzen Natur, sondern dies anders ist auch mehr als die Natur, und über dieselbe.

Wenn wir nun sichtbarlich keine Erfahrung von Tod und Sterben haben, als in und an der Natur; so ist wenigstens seine Sterblichkeit durch nichts erwiesen. Und wir, die wir ihn unsterblich glauben, haben den Beweis seiner Unsterblichkeit nicht zu führen, sondern die andre Partei muß beweisen, daß er sterblich sei.

Quelle:
Matthias Claudius: Werke in einem Band. München [1976], S. 279-282.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Asmus omnia sua secum portans
Asmus Omnia Sua Secum Portans: Oder, Sämmtliche Werke Des Wandsbecker Bothen (German Edition)
Asmus Omnia Sua Secum Portans: Oder, Sämmtliche Werke Des Wandsbecker Bothen, Volume 6 (German Edition)
Asmus Omnia Sua Secum Portans Oder Sämmtliche Werke Des Wandsbecker Bothen, Volume 7 (German Edition)
Asmus Omnia Sua Secum Portans Oder Sämmtliche Werke Des Wandsbecker Bothen, Volume 4 (German Edition)
Asmus Omnia Sua Secum Portans Oder Sämmtliche Werke Des Wandsbecker Bothen, Volume 5 (German Edition)