Noch einmal! ...

[216] Nun knospet's in den Linden wieder,

Die unter meinem Fenster stehn ...

Ich sah sie blühn und sich entblättern,

In pfeifenden Oktoberwettern

Ihr letztes Blatt verloren gehn.


Es kam des Winters weiße Stille –

Und ganz vereinsamt ward mein Herz ...

Nur der Erinnerungen Fülle

Beschwor ein dunkler Schicksalswille

Und dem Verwaisten milden Schmerz ...


Du gingst von mir. – Da nackt die Bäume,

Drückt' ich zum Abschied dir die Hand. –

Fahrt wohl, fahrt wohl, ihr Sommerträume,

Ihr zogt wie treulos Flutgeschäume –

Und nur die Sehnsucht wob das Band. –


Nun knospet's in den Linden wieder,

Die unter meinem Fenster stehn ...

Braunrot seh' ich die Kraft sich schließen –

Ein Duft von nahendem Genießen

Spür' ich durch wärmre Lüfte wehn ...
[216]

Wirst du noch einmal nordwärts kehren,

Den ich wie keinen je geliebt?

Laß uns den letzten Lenz durchträumen –

Wird's wieder nackt an Busch und Bäumen,

Ist's Zeit, daß auch der Wahn zerstiebt ...


Quelle:
Hermann Conradi: Gesammelte Schriften, Band 1: Lebensbeschreibung, Gedichte und Aphorismen, München und Leipzig 1911, S. 216-217.
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