Trauer

[48] Meine Seele ist traurig ...

Warum bist du traurig, meine Seele?


Und sie spricht zu mir:

Vorüber ging ich mit dir

An rauschenden Wassern –[48]

Und die rauschenden Wasser

Umsäumte die Siedlung

Tatfroher Menschen.


Mit der Sonne Emporglühn

Traten hinaus sie

Aus ihrer Hütten

Schmuckloser Enge –

Und tiefeinatmend

Des Morgens Säuselwind

Und des Tages Lichtstrahl

Mit freudvollem Blicke

Emsig begrüßend,

Gingen sie heiter

Und guter Dinge,

Ruhvoll und kraftreich,

An ihr hartes Schaffen,

Das Schweiß und Schwielen

Gebiert, jedoch auch

Helle Gedanken

Und die Frucht des Frohsinns,

Die unvergleichlich.


Und wiederum ging ich

Mit dir hinauf,

Sprach meine Seele,

Zu Bergesgipfeln.


Und ich ward so heiter

Da mich der Höh'nwind[49]

Weidlich durchlüftet!

Wie dehnt' ich mich doch

Und reckte mich weit

Und sog den Atem

Schrankenloser

Unendlichkeit!


Und allen, die mir

Entgegentraten,

Lachte das Herz

Aus den hellen Augen,

Daß ich ihnen

Sehnsuchtsbeschwingt

Entgegenhüpfte ...


Und sie boten

Mir Gruß – und einer

Lud mich zu rasten –

Lud mich zu bleiben:

»Gelt! Es wär' schön doch,

Blieben wir immer

Und ewig zusammen!«


Aber wieder

Riß ich mich los

Und der Vergangenheit

Schmerzensreichem

Mühenschoß,

Der mich gewirket,

Gab ich mich wieder.
[50]

Oh! Unerbittlich

In seiner Zukunft

Ist das Gewesene!


Es fraß sich in mich

Und gebiert sich fort

Und haftet immer!


Nimmer! O nimmer

Lehrt mich des Fischers

Oder des Schiffers

Beengtes Trachten

Grenze und Maß –

Stürmisch Verachten,

Emsig Vergessen

Alles dessen,

Was ich im Grunde doch – nie besaß!


Nimmer! O nimmer

Lehrt der helläugige

Sohn mich der Berge

Frohe Gemeinschaft,

Einträchtige Spur

Mit der Natur ...


Den Würzhauch des Wassers

Und den stählenden

Atem des Bergwinds

Muß ich missen ...


Ich fühlte zu tief –

Und ich dachte zu viel –[51]

Und all mein Wissen,

Mein himmeldurchstürmendes

Feuriges Fühlen,

Das nie sich genug,

Erfüllt den Fluch,

Den es umschoßt,

Und gibt mir zum Ende –

Zum letzten Ende

Als heiteren Trost

Doch nur ein – bitterhartes Sterbekissen.


Und vorher hat es

Mein Leben vergiftet!


So sprach meine Seele.

Und sie trauerte weiter ...

Und nimmermehr forscht' ich:

Warum bist du so traurig, meine Seele?

Quelle:
Hermann Conradi: Gesammelte Schriften, Band 1: Lebensbeschreibung, Gedichte und Aphorismen, München und Leipzig 1911, S. 48-52.
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