XVII.

[363] Am anderen Morgen erhielt Adam einen Brief von Hedwig. Irmers Mädchen hatte ihn schon sehr früh in seiner Wohnung abgegeben. Hedwig schrieb:

»Lieber Adam! Warum bist Du heute Abend nicht gekommen, wie Du versprochen hattest? Ich habe Dich so sehnsüchtig erwartet. Bis gegen Zehn. Nun ist es fast Elf. Ich bin ganz allein, Papa ist schon zu Bett – ich kann nicht anders: ich muß Dir noch schreiben. Es ist mir so schwer, so schwer ums Herz. Bitte komme morgen früh bestimmt. Ach Adam! Ich habe ja nur Dich noch – und wenn Du mich verläßt, wäre es mein Tod. Aber nein! – nicht wahr? – Du bleibst Deiner Hedwig gut? Papa ist sehr unglücklich. Das hätten wir doch nicht thun sollen. Er hat mich freundlich aufgenommen, er weinte, als ich kam, und hat mir gar keine Vorwürfe gemacht. Er hat aber den ganzen Nachmittag fast kein Wort weiter gesprochen. Nur einen Brief hat er mir gezeigt, der heute früh angekommen war. Es ist zu schrecklich. Mir will das Herz brechen, wenn ich daran denke, was für Schreckliches[364] uns bevorsteht. Ich bin immer noch zu aufgeregt, um Dir Alles in klarem Zusammenhange mittheilen zu können. Vor Papa habe ich alle meine innere Angst verbergen müssen, um ihn nicht noch trauriger zu ma chen. Papa hat nämlich einmal – es ist schon mehrere Jahre her – für einen guten Bekannten, einen Ingenieur, der kränklich war und auf den Rath seines Arztes ein Bad besuchen sollte, aber keine eigenen Mittel dazu besaß, für den hat Papa eine Bürgschaft von 1000 Mark geleistet, die sich Ferdinand, so hieß der Ingenieur, von einem ihm bekannten Bankier geliehen hatte. Papa war damals noch Universitätslehrer in der Schweiz und uns ging es ganz gut. Ferdinand – ach! Adam – es wird mir so schwer, Dir das zu schreiben, aber Du mußt es doch einmal erfahren, war mein Verlobter und ist der Vater meines Kindes, das bald nach seiner Geburt starb. Verdamme mich nicht, Geliebter. Ich habe gefehlt, aber ich habe hart büßen müssen dafür. Ich kann Dir jetzt nicht die ganze Tragödie schreiben. Ich bin zu aufgeregt dazu. Ferdinand war damals im Bade. Dann kam der Bruch, der unvermeidlich war. Ich will Dir das Alles mündlich noch mittheilen, wenn Du es wissen willst. Später, bald nach meiner Niederkunft, sind wir hierher übergesiedelt. Die Verhältnisse zwangen uns dazu. Papa war nicht beliebt bei seinen Collegen, hatte keine Protektion und wurde nicht befördert. Und dann kam mein Fehltritt hinzu. Nun erhielt Papa heute Morgen einen Brief[365] von jenem Bankier, der schrieb, daß Herr Pfeiffer, eben mein damaliger Bräutigam, nach langem Siechthum kürzlich am Lungenschlage gestorben wäre, aber ohne daß er in den vier Jahren, die seitdem verflossen wären, seine Schuld zurückgezahlt hätte. Er hätte immer Geduld und Nachsicht mit dem Kranken gehabt, nun müßte er sich aber an den Bürgen halten, was ihm wohl Keiner verdenken könnte. Aber wo soll Papa das Geld hernehmen? Wir leben hauptsächlich nur von dem, was er und ich verdienen. Unsere Verhältnisse sind, wie Du weißt, sehr beschränkt. Ich mußte Dir das mittheilen, damit Du weißt, woran Du bist. Es bleibt uns nichts weiter übrig, wenn der Herr auf sein Recht besteht, als unsere paar Sachen zu verkaufen. Es ist zu schrecklich. Was soll dann aus uns werden? Auch Du kannst uns wohl nicht helfen, lieber Adam. Ich bin zu unglücklich und weiß nicht, wie das drohende neue Unglück abgewendet werden soll. Aber nun gute Nacht, Geliebter. Behalte lieb Deine arme Hedwig.

Nachschrift. Papa ist auch sehr unglücklich, ganz gebrochen, er spricht fast gar nicht und brütet nur immer vor sich hin. Wenn er sich nur kein Leid anthut. Das ertrüge ich nicht. Bitte komm morgen bestimmt, lieber Adam.«

Adam faltete den Brief, der ihn kaum aufgeregt hatte, zusammen, steckte ihn ruhig wieder in sein Couvert zurück und warf ihn in einen halboffenstehenden Kasten seines Schreibschrankes Dann ging er nachdenklich in seinem Zimmer auf und ab.[366]

Das war ja klar: Das Geld mußte geschafft werden. Diese lumpigen tausend Mark! So'n dummer, windiger Fetzen! Was? Wie mancher blaublütige Jüngling mochte wohl seiner Mätresse ein monatliches – – Unsinn! – »monatliches« – ein halbmonatliches, womöglich wöchentliches »Nadelgeld« von tausend Mark leisten! Und an dieser pauvren Summe, an dieser tristen Bagatelle sollte die Existenz einer Familie zerschellen – eben daran, daß sie nicht aufzubringen war? Nee! So 'was Lächerliches lebte nicht noch 'nmal! Uebrigens – das war also die ... die sogenannte »Vergangenheit« dieser Dame? Wie harmlos! Sie hatte sich mit einem Ingenieur eingelassen – und die Sache hatte sich auf dem seit Adam, dem Paradiesler, nicht mehr ungewöhnlichen Wege zu der üblichen Fortsetzung verstiegen – det war Allens. Iroßartig!

Wo lag da nur die Pointe? Das war so grenzenlos alltäglich, eine langweilige, hebeammenhafte Spukgeschichte ohne weiteren Spiritus. Um Gotteswillen! Einzelheiten – um keinen Preis der Welt! damit sollte sie ihn nur verschonen! Nachher hatte sie sich dann ihm hingegeben – und er war auf sie auch regelrecht »reingefallen« – d.h. hatte sich regelrecht mit ihr »verlobt« – hatte ihr regelrecht die sogenannte »Ehe« versprochen – und – und – – – aber war denn diese kleine, unscheinbare Hedwig wirklich etwas Anderes, als die fürtreffliche Emmy, die aus der Sache aller dings so etwas wie ein »Geschäft« machte, aber doch immerhin Liebe und Lust zu ihrem[367] »Berufe« besaß? Doch – das war ja vorläufig alles Nebensache. Es kam zunächst nur darauf an, die paar Groschen in die Bude zu schaffen. Aber wie? An wen sollte er sich wenden? fragte sich Adam. Bekannte, die eines solchen »Opfers« fähig gewesen wären, besaß er nicht. Zu seinen Verwandten engerer und weiterer Kategorie hatte er auch so gut wie gar keine Beziehungen mehr. Ha! Etwa Lydia? Nun! dieser Dame war es ja schließlich ein Leichtes, war es ja ein Kinderspiel, das Geld aufzubringen. Aber –: sich bei Frau Lange darum bemühen – sie schriftlich oder womöglich gar mündlich darum zu bitten – ging das an? Er hätte doch die ganze Situation correct auseinandersetzen müssen und konnte unmöglich seine Beziehungen zu Hedwig verschweigen dabei – diese Beziehungen eben, die er ja um jeden Preis abbrechen wollte. Das war des Pudels Kern. Eine merkwürdige Wandlung ging zugleich in Adam vor. Er bekam plötzlich einen ganz gehörigen Respect vor dem Gelde und seiner Macht. Und als Gemahl Lydias – ei! da hatte er ja Wünschelruthe und Waffe zugleich in der Hand. Hm! In seinem sentimentalen, idealistischen Dusel hätte er es schließlich gar noch fertig gebracht, sich mit Hedwig auf einen gemeinsamen Guerrillakrieg um die Brocken und Brosamen des klebrigen Kleinlebens einzulassen. Es war ganz gut – und in gewissem Sinne zugleich auch sehr tiefsinnig und symbolisch – daß durch sie selbst ein Moment in die Affäre eingeführt wurde, das ihn stutzig[368] machte, das im Stande war, ihn auf seine wahren Vortheile hinzuweisen. Die lagen aber wahrhaftig nicht in einer Ehe mit ... eben mit einer Dame »von Vergangenheit«. Für diesen Adel mußte er sich bedanken, wenn er sein Glück im Auge haben und seine Zukunft bedenken wollte. Uebrigens – die Idee war gar nicht so übel, war im Gegentheile ganz famos: er verschaffte Irmers das Geld und – kaufte sich damit los. Natürlich! So ließ sich die Geschichte dengeln – und Jeder machte seinen Profit dabei. Zudem waren ja auch noch tiefere psychische Gründe vorhanden, aus welchen eine Ehe mit Hedwig ein Experiment sehr problematischen Charakters war. Ergo! Warum sollten denn diese »tieferen psychischen Gründe« nicht auch mitzusprechen haben? Man hatte sie einmal ein Bissel ignorirt – eh bien! einmal darf man sich das schon erlauben. Aber um so deutlicher nur fühlt und begreift man hinterher, daß jene Gründe berechtigt sind und berücksichtigt werden müssen, wenn man keine unfreiwilligen Karrikaturen in die Welt setzen will.

Also er – Adam – besorgte die Loskaufungssilberlinge. So viel stand fest. Es war nur die Frage: wie? Ja! Wie –?

Aber eigentlich war es ja doch am Bequemsten, sich an Frau Lange zu wenden. Am Bequemsten? Das allerdings gerade nicht. Allein was blieb ihm denn weiter übrig, als dieses Experiment zu machen, wenn er von der Leimruthe, auf der er vorläufig wirklich verflucht festsaß, überhaupt herunterwollte –? Doch[369] nein! Das war doch Unsinn. Hatte er Frau Lange gegenüber denn nur ein Fünkchen von Recht zu dieser Bitte? Und dann –: wollte er seine Beziehungen zu Hedwig nicht aufdecken, mußte er es sich gefallen lassen, daß Lydia annahm, selbst wenn er äußerlich noch so glaubwürdige Ausflüchte versuchte –: er selber sei der eigentlich Bedürftige – und in diesem Lichte durfte er unter keiner Bedingung vor ihr stehen, am Allerwenigsten, wenn er an seinen Hoffnungen, sie noch einmal als seine – nun! eben als seine »Gattin« zu sehen, festhielt – was ja in seiner Absicht lag. Wie also aus der schweinemäßig impertinenten Zwickmühle herauskommen? Es war wieder 'nmal rein zum Verzweifeln. Donner und Doria! Jetzt ging Adam ein Talglicht auf. Er wollte doch – jawohl! und jetzt stand's unwiderruflich fest – er wollte doch die gnädige Frau um die Lumperei anrempeln. Er wollte ein Märchen von einer Arbeiterfamilie, die am »Abgrunde ihres socialen Verderbens stände« – die »ein Opfer unglücklichster Verhältnisse geworden wäre« – und zweifellos »zu Grunde ginge«, wenn sich im letzten Augenblicke nicht noch ein »Menschenfreund« ihrer annähme – also ein derartiges pikantes Märchen wollte er erfinden – er konnte von seinem Talente zum Komödianten die exakte Durchführung der Rolle ruhig erwarten – und vor Lydia als freiwilliger Advokat der Armuth auftreten –: erstens würde, calculirte der Herr Doctor, die Thatsache der Noth als solche ihr weiches Herz rühren und sie zum Herausrücken der Summe[370] bewegen – und tausend Mark waren wirklich nicht zu viel: es galt ja die Existenz einer ganzen Familie neu zu begründen! – und dann mußte er doch, wenn er sich so als Anwalt des socialen Elends vor ihr gerirte, damit entschieden Eindruck auf sie machen – das war klar. Ergo – los denn! 'rin ins Verjniegen! –

Einen Augenblick dachte Adam noch an Herrn Quöck. Aber nein! Dieser Mensch, der also mit der Couponscheere auf die Welt gekommen war, besaß kein Verständniß für das Unglück Anderer. Wohl möglich, daß Herr Quöck ihm, Adam, aus persönlicher Gewogenheit die Summe lieh – aber der brave Mann blieb trotzdem der Herr Vetter von der Frau Lydia – und wer weiß! – – es ist jedenfalls immer besser, immer praktischer und in der Regel auch bequemer, mit dem Egoismus und den ordinärsten Lebensinstinkten seiner »Nächsten« lieber etwas zu viel, als zu wenig zu rechnen. Ohne Andeutungen Frau Lange gegenüber würde es bei Herrn Quöck doch nicht abgehen. Andeutungen jedoch – na! was da unter Umständen für ein edler Brei herauskommen kann, wenn man sotane »Andeutungen« sich selber überläßt –: Adam hatte das etzliche Male auf sehr kitzliche Art erfahren müssen in seinem Leben und an seiner höchsteigenen Person dazu. Also Vorsicht! Eines Tages, darauf mußte er sich gefaßt machen, fand er sonst seinen Weg zu Lydia in einen rechtschaffenen Nesselacker verwandelt – und für die Posaunenengel seiner Hoffnungen und Erwartungen[371] konnte er dann nur getrost ein halbes Dutzend tüchtiger, dauerhafter Särge bestellen, die auf den Läute-Apparat für den Fall eines Scheintodes aus bestem Wissen und Gewissen verzichten durften ... Das Märchen vom kaltgewordenen Ofen, vom zerbrochenen Uhrweiser, von den abgespielten Skatkarten ... Die Pointe blieb halt überall dieselbe.

Nun – dann also auf zum Tournier mit Lydia! Noch einmal schrak Adam auf das Heftigste zurück. Er glaubte sein zähes Festhalten an dem Gedanken, daß gerade er das Geld für Irmers zu beschaffen hätte, schon als idée fixe ansehen zu müssen. Eigentlich ging ihn das Alles ja gar Nichts an. Was mischte er sich da in fremder Leute Angelegenheiten –? Warum war er nur so erpicht darauf, sich die Finger zu verbrennen –? Und doch! Es rumorte wirklich schon zu toll in ihm herum – es wucherte in ihm und wuchtete sich auf ihn, es fraß sich immer fester bei ihm ein –: er mußte vor Lydia – und eben gerade vor Lydia – ein so delikates Motiv wie das vorliegende es war, – Geldgeschichten sind ja immer »delikat«! – endlich einmal aufs Tapet bringen –: das ging ohnedem gar nicht mehr ab, das war nun schon zur innersten Nothwendigkeit geworden. Im erotischen und im pekuniären Problem –: in beiden hanget ja das ganze Gesetz, und die p.p. ehrenwerthen Herren Propheten »hangen« dazu in diesem erhabenen Dualismus ... Und schließlich: kam bei seinem Dukatenspeech mit Donna Lydia etwas[372] »Positives« wirklich nicht heraus –: zu einer psychologischen Studie pikantester Natur würde die Scene am Ende doch auswachsen ... und an »psychologischen Studien« kann ein junger Mann, der's Leben erst noch kennen lernen will, gar nicht genug machen. »Psychologische Studien« sind bekanntlich furchtbar lehrreich. Und so'n feudaler Kerl, wie Adam Mensch also einer war – na! in dieser Beziehung gab es auch für ihn noch Manches zu probieren. Adam Mensch war in der Wurzel seines Wesens sehr bescheiden. Er hielt ziemlich Wenig von sich, zuckte oft in ehrbarster Geringschätzung die Achseln über sich. Aber darum dachte er zeitweilig eben nur um so geringer von den Anderen. Hatte er etwa kein Recht dazu? –

Quelle:
Hermann Conradi: Adam Mensch. Leipzig [1889], S. 363-373.
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