XVIII.

[373] Kurz nach drei Uhr, also nicht zu der üblichen Besuchsstunde, ließ sich Adam bei Frau Lange melden. –

Es war ihm während des Essens und besonders während einer kurzen Promenade durch den Stadtpark, den er von seinen Spaziergängen mit Emmy her sehr lieb gewonnen hatte, unerträglich klar geworden, daß das Verlobungsproject mit Lydia eine wahnsinnig groteske Ungeheuerlichkeit bedeutete – eine Ungeheuerlichkeit, die sich vielleicht heraufbeschwören, vielleicht sogar unmittelbar in Scene setzen ließ, die aber herauszufordern er heute nicht die mindeste Stimmung und nicht den mindesten Muth besaß. Dagegen fühlte er den Muth in sich, wenigstens momentan, dagegen reizte es ihn wirklich immer mehr, Frau Lange direkt zu bitten, ihm die lumpigen tausend Mark zu leihen. Das war doch in der That – Adam sagte es sich immer wieder – so etwas wie eine social-psychologische Studie, so etwas wie ein social-ethisches Experiment. Er trat eben als »Anwalt der Armuth« auf und klopfte an die Pforten des Reichthums mit der Bitte um[374] Hülfe – mit dieser Bitte, zu welchen die bedrängte Armuth eine heilige Berechtigung, eine heilige Verpflichtung besitzt. Auf eine mehr oder weniger interessante, jedenfalls nicht ganz alltägliche und nicht ganz pointenlose Scene durfte sich Adam überdies gefaßt machen. Ah! Lydia würde zuerst verblüfft sein. Und dann? Das war eben die Frage. Doch diese Frage mußte ja sofort ihre Beantwortung finden.

Adam wurde in das Cabinet Frau Lange's geführt. Er möchte einen Augenblick verzeihen, die gnädige Frau käme sogleich, bedeutete ihm das Mädchen und verschwand wieder.

Adam sah sich um. Da stand er also wieder einmal auf der Wahlstatt, auf der er neulich so bedeutungsvolle Stunden durchlebt hatte. Aber heute – wie war heute Alles so glanzlos und nüchtern! Dabei überall ein Ton der Unordnung, ein Accent der Verkramtheit. Jene einschmeichelnde, anheimelnde Demi-jour-Stimmung, die ihn neulich so unwiderstehlich bestrickt hatte, und die er noch so klar in der Erinnerung bewahrte, war nicht mehr mit dem dünnsten Haarstrichlein angedeutet. Und doch stiegen ihm wie leichte Schaumbläschen allerlei Erinnerungen auf. Er dachte daran, daß damals in dem Fauteuil dort Lydia gesessen ... daß er, ganz im Joche seiner emporgeschäumten Stimmung, vor ihr gekniet, ihr schluchzend seine Liebe zugestammelt – daß er – – aber das war ja Alles glücklich vorüber, die Augenblicksextase dünkte ihn[375] jetzt unbegreiflich und über alle Begriffe abgeschmackt – die gnädige Frau wollte ja auch abreisen – er würde also vorläufig keine Gelegenheit wieder bekommen, diese Räume zu betreten ... und allen sentimentalen Erinnerungsanwandlungen wurde damit Gott sei Dank! jedwede neue Nahrung entzogen.

Endlich trat Lydia ein. Sie sah ein ganz klein Wenig derangirt aus, ihr Gesicht war ungleich geröthet, wie das eines Menschen, der sich öfter und andauernd gebückt hat. Ihre freundlichen Züge schienen Adam etwas gemacht und gezwungen.

»Verzeihen Sie, Herr Doctor, daß ich Sie so lange warten ließ – aber ich bin eben dabei zu packen – morgen früh will ich endlich auffliegen – meine Abreise hat sich schon um einige Tage verzögert – aber bitte, nehmen Sie wieder Platz – ich freue mich doch, Sie noch einmal bei mir zu sehen ... Wie geht es Ihnen –?«

»Ich bitte um Verzeihung, gnädige Frau, daß ich zu so ungelegener Stunde – aber ich wußte auch nicht, daß – – ich will mich auch nicht lange aufhalten – nur – –«

»Bitte, bitte, Herr Doctor! . Sie wissen ja, Sie sind mir immer willkommen ... Uebrigens, wenn Sie das tröstet: ich – ich erwartete eigentlich Ihren Besuch – ich nahm ihn als selbstverständlich an, nachdem Sie mir das letzte Mal, wo wir uns sahen – –«

»Ja! Ich versprach Ihnen zu kommen, gnädige Frau – Sie sehen: ich habe mein Wort gehalten, wenn auch – –«[376]

»Wenn auch –?«

Adam schwieg eine kleine Weile und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Er war da in ein zweideutiges Fahrwasser gerathen. So ging das Spiel nicht weiter. Er trieb einem Ziele zu, das ihn jetzt nicht im Geringsten reizte. Oder doch? Dünkte ihn diese Frau noch immer begehrenswerth? Sie schien auf etwas anzuspielen, das zwischen ihnen einmal mehr oder weniger deutlich zur Sprache gekommen war. Vielleicht legte sie der ganzen Geschichte doch mehr Werth und Bedeutung bei. Vielleicht war sie doch tiefer engagirt. Nun! das konnte ihm ja nur schmeichelhaft sein. Und augenblicklich war es ihm gewiß auch nur günstig, wenn diese Dame, die ihm einen Dienst leisten sollte, stärkere Sympathien für ihn hegte.

Adam wurde ganz ruhig und sicher. Mit klarer Stimme begann er: »Ich bin gekommen, gnädige Frau, Sie um eine Gefälligkeit zu bitten –«

»Und die wäre –?« fragte Lydia, neugierig und erstaunt zugleich. So redet doch kein Mann, der um eine Frau ... um eine Frau, die er ... die er – liebt – – –

Nun wollten die Worte dem Herrn Doctor doch nicht so glatt über die Lippen schlüpfen. Er zauderte, er hustete verlegen, er athmete kurz, gepreßt, eine Reihe von Wendungen und Fassungen schwirrte ihm durch den Kopf, er prüfte sie mechanisch, indem er sie sich leise objectivirte, er konnte sich nicht entscheiden, er war nicht im Stande, die prägnanteste[377] Fassung herauszufinden. Schließlich stotterte er halblaut, nur einige Silben durch eine unnatürliche Betonung scharf heraushebend: »Es ist mir doch peinlich, gnädige Frau – ich weiß nicht, wie Sie meine Bitte auffassen werden – –«

»Schießen Sie doch nur los, Herr Doctor – wir werden ja sehen – wenn ich irgend im Stande bin – –«

Adam erinnerte sich plötzlich, daß er im Namen der Armuth um die Hülfe des Reichthums werben sollte, daß er dazu eine heilige Berechtigung besäße – er wußte, daß nur das tiefeingewurzelte Bewußtsein von dem Egoismus, der Engherzigkeit und Kleinlichkeit der Menschen, mit denen er allenthalben, sein ganzes Leben hindurch, hatte rechnen müssen, ihn auch hier muthlos und verlegen gemacht – aber es kam ja schließlich nur auf den Versuch an, es handelte sich ja schließlich nur um ein »social-ethisches Experiment«, um eine »psychologische Studie«, um Nichts, um gar Nichts weiter – und er gewann bei nahe den kühlen Ernst, die souveräne Sicherheit des Forschers wieder.

»Sie ermuthigen mich, gnädige Frau – also denn ohne Umschweife herausgesagt –: ich brauche tausend Mark – können Sie – können Sie mir die Kleinigkeit leihen –?«

Auf diese sehr materielle Wendung des Gesprächs war Lydia allerdings nicht gefaßt gewesen. Feinere Naturen fühlen sich durch eine brutale, noch dazu unvorbereitete Berührung von Geldfragen immer[378] compromittirt. Daß aus einer etwaigen Verbindung zwischen ihr und Adam, der, wie sie wußte, so etwas wie ein »armer Teufel« war, letzterem allerlei sehr reale, sehr realistische Vortheile erwachsen würden: daran hatte sie natürlich schon gedacht – und der Gedanke hatte sie auch nicht weiter genirt, er hatte ihr im Gegentheil eine gewisse Befriedigung und einen gewissen Stolz eingeflößt. Im Uebrigen war sie zu eitel, um nicht zu glauben, daß sie selbst ihres Besitzes und ihrer Stellung in der Gesellschaft entkleidet, Werth und starke Anziehungskraft genug für Adam besäße. Das waren Prämissen, über welche man getrost schweigen, die man getrost unerörtert lassen konnte, denn sie waren eben allzu selbstverständlich.

Und nun rückte Adam plötzlich unvermuthet mit einem Motive heraus, das an greller Betonung des Materiellen nichts zu wünschen übrig ließ.

Lydia war sehr betroffen. Was sollte sie erwidern? Mechanisch schloß sie, daß Adam sich jedenfalls in einer sehr prekären Situation befand. Er hatte gewiß Schulden contrahirt, die bezahlt sein wollten, er hatte Verpflichtungen übernommen, die er einlösen mußte. Und er wandte sich an sie, weil er anderweitig – – ja! – mein Gott! – standen ihm denn keine anderen Wege offen, besaß er keine anderen Mittel – oder waren alle Quellen schon erschöpft –? War sie seine letzte Hoffnung –?

Mitleid, starkes, verstehendes Mitleid quoll in ihr auf. Und doch hatte sie zugleich das Gefühl, als wäre sie von etwas unangenehm Klebrigem,[379] Schmutzigem berührt worden. Die Lage des Herrn Doctor war sicher überaus prosaisch. Und Lydia verspürte einen kleinen Hang zur Romantik in sich. Das paßte so gar nicht zusammen, ihr Hang und nackte Bedürfnißhaftigkeit Adams.

»Sie setzen mich in Erstaunen, Herr Doctor –« sagte sie endlich, unsicher und stockend – »ich hatte nicht erwartet, daß – –«

»Das war allerdings vorauszusetzen, gnädige Frau – verzeihen Sie, bitte noch einmal, meine Kühnheit, doch die Noth – –«

»Geht es Ihnen so schlecht –?« unterbrach Lydia, jetzt von ehrlichster, schnell ausbrechender, aufs Helfen gestimmter Theilnahme ergriffen.

»Mir –? Mir –? Ah so! . Hm! Verstehe schon« bemerkte Adam mit feinem, ironischem Lächeln – »Sie haben mich nicht ausreden lassen, gnädige Frau – Ihr gutes Herz ging mit Ihnen durch – also ich wollte ... wollte nicht von meiner Noth, sondern von der Nothwendigkeit sprechen, die mich zwingt – –«

»Ist das nicht dasselbe?« fragte Lydia, ein Wenig pikirt ...

»Pardon! Ich glaube kaum ... die Sache ist nämlich außerdem noch die, daß ich das Geld nicht für mich brauche, sondern – –«

»Ah! ... Aber für wen dann, wenn ich fragen darf –?«

»Lassen Sie das, bitte, mein Geheimniß bleiben, gnädige Frau –«[380]

»Wie Sie wollen, Herr Doctor ... doch muß ich Ihnen nun bemerken, daß damit die Sache auch aufgehört hat, mich zu interessiren. Ihnen – Ihnen persönlich hätte ich vielleicht – ja! sicher geholfen, denn Sie sind – sind mir – – doch das – das gehört nicht hierher – – für Menschen dagegen, die mir vollkommen fremd und unbekannt sind, habe ich kein so starkes Interesse, daß ich für sie Opfer bringen könnte ... Meine ehrliche Meinung, Herr Doctor –!«

Lydia hatte sich von dem Stuhle, auf dem sie seit dem Beginn des Gesprächs gesessen, erhoben und war an ihren Schreibtisch getreten. Sie stand da, den Kopf ein Wenig geneigt, die volle, elegante Büste prachtvoll zum Ausdruck gebracht. Sie hatte ein kleines, gläsernes Lineal ergriffen, mit welchem sie auf einem Briefbeschwerer herumtrommelte.

»So –!« sagte Adam kalt und herb und erhob sich ebenfalls. »Gnädige Frau scheinen allerdings sehr merkwürdige moralische Prinzipien zu haben –«

»Wieso –?« Lydia schnellte herum und hielt Adam mit großen, funkelnden Augen fest.

»Wieso –? Na! mein Gott, das ist doch einleuchtend! Wenn Sie so subjektiv, so willkürlich sind in der Ausübung Ihrer Menschenpflicht, so möchte ich beinahe glauben – verzeihen Sie gütigst meine Keckheit! – daß Sie überhaupt gar nicht wissen, was eigentlich – –«

»Herr Doctor –!«

»Gnädige Frau –?«

»Sie scheinen gewisse ... unartige Gewohnheiten[381] nicht loswerden zu können ... Schon damals – Sie werden sich erinnern – –«

In Adam schoß es in die Höhe. Es kreißte und gährte und quoll in ihm, er wußte, daß sie heranzog, daß sie kam, vor der er sich nicht retten, der er nicht entrinnen konnte, wenn sie die Arme nach ihm ausstreckte, sie zerrte immer heftiger an ihm, die heiße, erstickende Wuth, sie zog das Blut aus seinem Gesicht, er wurde bleich, seine Glieder flogen, er zitterte am ganzen Leibe, er mußte sich an den Tisch klammern, um sich aufrecht zu erhalten, er klammerte sich immer fester, er wußte: – wenn er losließ – wenn er losließ, würde ihn der Katarakt seiner Wuth auf dieses Weib peitschen, würde er sich auf dieses Weib, das ihn beleidigt, das ihn mit seiner vagen, erbärmlichen Andeutung, seinem kleinlichen Vorwurf zu Tode gekränkt hatte – er würde sich auf diese Creatur – was war sie denn ihm gegenüber? was denn? – stürzen müssen, um sie zu – ja! zu erwürgen – und davor – o Gott! davor bebte er instinktiv doch zurück – nein! nein! nicht nachgeben! nicht nachgeben – nicht das letzte Restchen halbklarer Besinnung fahren lassen – –

Lydia hatte die Veränderung, die mit Adam vorgegangen war, unter heftigem Erschrecken wahrgenommen. Sie war zusammengezuckt, war vom Schreibtisch näher ans Fenster getreten, sie fürchtete sich, sie überlegte, ob sie nicht schellen, ob sie nicht Hülfe herbeirufen sollte – hatte sie denn noch einen Zurechnungsfähigen vor sich –? Einen Menschen, der[382] bei Besinnung war –? War das nicht das Delirium der Wuth, des Jähzorns, der sein Opfer packt und zerfleischt –? Und sie war eine wehrlose Frau – – aber der Scandal – –

»– Sind Sie unwohl geworden, Herr Doctor –?« sickerte es jetzt mühsam über ihre Lippen –

Adam faßte sich. Er ließ sich langsam vom Tisch los, dämpfte seinen keuchenden Athem, trat näher an Lydia heran, die unwillkürlich immer weiter nach dem Fenster zu zurückwich, legte die wie festgeschraubte Schienen aneinandergekrampften Arme über die Brust – –

»– Unwohl wäre ich, glaubst Du, Weib?« stieß er heiser heraus – »ei! Und wie unwohl! Aber ich sage Dir: – das ist eine ganz verdammte Lüge, die nur ein Schurke zusammenkneten kann! Mir ist so wohl, so dämonisch sauwohl, sage ich Dir, Weib, wie mir in meinem ganzen Leben noch nicht gewesen ist! Aber Du – Du – Du sollst zittern! Warte nur! Ha! Es ist zum Andiedeckespringen! Zum Todtlachen! Zum – zum – – Du wagst es, mich zu beleidigen – Du spielst Deine kleine, egoistische Seele gegen mich aus – Du wagst es, mir mit Deinen abgestandenen Phrasen von ›Anstand‹ und ›Gutem Ton‹ zu kommen, wo ich Dich um Erfüllung Deiner allerordinärsten Menschenpflicht angehe – wo ich als Anwalt der Armuth vor Dir stehe, der Du mit Deinem verfluchten Mammon helfen sollst – ha! da kehrst Du die feine Dame 'raus – und verbittest Dir ein Benehmen – ein[383] Benehmen – – zum Teufel! Warte nur! Es werden schon eines Tages Andere kommen, die anders mit Dir reden, die eine andere Sprache im Munde führen – warte nur, Weib! Und sie werden Dich nicht so sanft anfassen, mein Täubchen – Du wirst Deine zarten Ohren schon an die dröhnende Musik gewöhnen müssen, die ihre ungeschlachten Stimmen und ihre zerschmetternden, groben Fäuste machen! Warte nur! Sie werden sich schon mit Deinem Prunk ihre Blößen decken, sie werden Deinen Plunder schon zerschlagen, ihre Frostgeschwüre und ihren Hungertyphus damit auszucuriren – warten Sie nur, meine Gnädige! Das wird ein netter Hexensabbath werden, sage ich Ihnen – ein Hexensabbath, daß es eine Art hat! – und alle Ihre egoistische Willkür – Ihre ästhetischen Geschmacksfexereien werden zum Teufel gehen – – und ich werde bei dem Rummel mit beisein, ich, gnädige Frau, ich – verlassen Sie sich drauf! – ich werde die Lumpen und Vagabunden – die ganze losgelassene Volksfurie in Ihren Lügentempel hetzen – warten Sie nur –! es wird sich Alles schon machen – das soll ein Gaudium werden – na! wir werden Euch Eure brutale Selbstsucht schon aus den Gedärmen 'rausklopfen – Ihr sollt Anderes zu denken bekommen, Ihr verwahrlostes Champagnergesindel! Eure ruchlosen Lebensspielereien werden wir Euch gründlich abgewöhnen – aber ganz gründlich! – Und ich danke Ihnen, gnädige Frau, für diese Stunde – ich danke Ihnen – ich weiß jetzt ganz genau, sage ich Ihnen[384] – jetzt endlich ganz genau, wo meine Pflicht liegt und wo mein Platz ist! Leben Sie wohl! Wir haben uns noch nicht das letzte Mal gesehen – –«

Immer näher war Adam an Lydia herangerückt, bis sich die beiden dicht gegenüberstanden. Nun kehrte er sich mit einem harten Rucke ab und ging nach der Tiefe des Zimmers zu, der Thüre entgegen.

Lydia fuhr auf, fuhr auf wie aus einem schweren, schwülen Traum gestoßen. Sie strich sich mit der linken Hand über Augen und Stirn – ja! hatte sie denn wirklich geträumt? War das ein Spuk gewesen, oder doch nackte, klare Wirklichkeit? War denn das ihr Zimmer? Doch wohl. Aber – nein! das konnte ja nicht sein. Das Alles war nur eine wüste Phantasie – dieser Mensch sollte es gewagt haben – –?

Widerstandslos hatte sie die Fluth der Drohungen und Anklagen, die aus dem Munde des zürnenden Mannes da vor ihr herausschoß, über sich hingehen lassen. Wie gelähmt, gebändigt war sie gewesen, fest in sich verhakt und zusammengezwungen. Er hatte sie überwältigt. Jetzt fühlte sie eine schneidende Zwiespältigkeit in sich, es zerrte krampfhaft an ihr herum. Aber wer war denn dieser Mensch? Derselbe, der sich vor ihr immer nur als interessanter, blasirter Schwächling aufgespielt? Und nun diese jäh ausgebrochene Leidenschaft! Oder war das um Verzweiflung – blutende Verzweiflung an sich, an der Welt gewesen? Sie wußte nicht ein noch aus[385] Sie empörte sich gegen die Vergewaltigung, die ihr widerfahren war, – und doch schauerte sie wie in brennender Wollust zusammen, denn sie hatte den, den sie liebte, zum ersten Male hoch über sich gefühlt, sie sah nun zu ihm auf – nein –! sie konnte ihn nicht gehen lassen – und doch! Ach! Es war eine zu große Zwiespältigkeit in ihr. Und jetzt – – jetzt –

Adam hatte die Thür ausgerissen –

»Herr Doctor –!« schrie ihm Lydia nach, einige Schritte vortretend –

Der Angerufene blieb doch unwillkürlich stehen und drehte sich langsam in halber Wendung um.

»Gestatten Sie, bitte, noch einen Augenblick – nur ein Wort noch –« begann Lydia tief aufathmend. Sie reckte sich in die Höhe, die ganze Figur straffte sich, wohl war sie ein Wenig bleich, sie wollte jetzt erst recht bewußte Weltdame sein.

»Was soll's?« polterte Adam erbost. »Ich dächte, ich wäre fertig mit Ihnen –«

»Aber ich noch nicht mit Ihnen, Herr Doctor! Ich habe Ihre – nun! Ihre – Declamation hingenommen, ohne ein Wort der Erwiderung –«

»Declamation –? ohne Erwiderung? – ich sage Ihnen, gnädige Frau: das war auch das Gescheiteste, was Sie thun konnten –« unterbrach Adam mit grobem, ungeschlachtem Sarkasmus –

»Nun – darüber ließe sich am Ende noch streiten–«

»Wäre verdammt überflüssig! Aber ich mag nicht mehr –«[386]

»Bitte! Nur noch einen Augenblick! Und werden Sie nicht von Neuem beleidigend, mein Herr! Sie werden zugeben, daß ich im Rechte gewesen wäre, wenn ich Ihnen schon nach Ihren ersten Worten vorhin die Thüre gewiesen hätte –«

»Warum haben Sie's nicht gethan –? Dann hätte ich mir meine Lungenstrapaze eben erspart –«

»Es ist gut, daß Sie die Geschichte jetzt auch etwas weniger pathetisch – schon etwas nüchterner auffassen – Lungengymnastik – –«

»Gnädige Frau –!«

»Na ja! Thatsache ist jedenfalls, daß ich mit riesiger Geduld – –«

»Wenn Sie mir nichts Wichtigeres zu sagen haben – um das Zeug anzuhören – –«

»Herr Doctor –! Nun dann gleich meine Frage! Sie wollen mich doch nicht glauben machen, daß – – Sie werden doch selbst so viel Psychologe sein, um sich sagen zu können: ich müßte ja ein Geschöpf von einer Beschränktheit ohne Gleichen sein, wenn –«

»Aber nun kommen Sie doch endlich mit der Pointe – ich weiß absolut nicht, worauf das Alles hinauslaufen soll – ich habe keine Zeit, um – –«

»Sie sind« – Lydia war sehr ruhig und kühl geworden – »hier als Armenanwalt vor mir aufgetreten – bitte, sagen Sie mir: welche direkten Gründe haben Sie dazu veranlaßt – –?«

»Welche direkten Gründe? Nun, ich denke, ich hätte Ihnen das sattsam vorgerechnet –: meine[387] moralischen Anschauungen – meine ethischen Principien – –«

»Hm! . Und Sie täuschen sich wirklich nicht selbst, Herr Doctor –? Was hat Sie auf einmal so in den Harnisch gebracht, wo Sie doch, so viel ich mich wenigstens erinnern kann, früher – –«

»Jawohl! Früher! – Kommen Sie nur so! Das sieht Ihnen ähnlich! 'N Weib! Nun ja! Aber ich bin eben Gott sei Dank! ein And'rer geworden – ich – ich bin – –« Adam war doch etwas unsicher, kleinlaut, betreten geworden. Lydia merkte diese zarte Nuance sehr fein heraus. Sie wurde kühner. Und jetzt zuckte eine Vermuthung in ihr auf, kurz, jäh, schießend und so unmittelbar, daß sie fast unverknüpft, selbständig erschien, aber darum nur um so nachdrücklicher zwang, um so mehr und um so schneller überzeugte.

»Ich werde Ihnen sagen, Herr Doctor, wem Sie mit dem Gelde helfen wollen – und damit sind dann auch die bewußten direkten Gründe bloßgelegt – –«

»Nun –?« fragte Adam, halb ehrlich-neugierig, halb verlegen, jedenfalls sehr peinlich berührt, so etwas wie geheimes Schuldbewußtsein in der Brust.

»Sie wollen das Geld für – für – Irmers haben –?«

»Nun –? Und wenn das der Fall wäre – –« antwortete Adam überlaut, mit affektirtem Trotz –

»Sie – Sie lieben Hedwig Irmer –?« Lydia hatte doch sehr leise gesprochen.[388]

»Aha! Jetzt spielen Sie das Gespräch auf ein Gebiet hinüber, gnädige Frau, das Ihnen allerdings angenehmer sein möchte, als die Distel- und Nesselfelder, die ich Ihnen – na! – – ich sage ja – nee! zu köstlich! zu köstlich –! Uebrigens 'n bekannter Weiberkniff – –«

»Bitte! Beantworten Sie meine Frage –«

»Liegt Ihnen wirklich so viel daran, gnädige Frau –? Nun denn: Wenn das auch der Fall wäre – wenn ich Hedwig Irmer – liebte – was wäre dann? Was hat das damit zu thun, daß – –«

»Was dann wäre, Herr Doctor –? Hm –! Dann wären Sie nicht nur mit mir fertig, wie Sie sich vorhin auszudrücken beliebten – dann wäre ich allerdings auch mit Ihnen fertig – –«

Lydia stand hinter der Lehne eines Fauteuils, an welcher sie sich jetzt mit ihren kleinen, vollen Händen fest anhielt. Die ganze Gestalt war in sich zusammengesunken, wie von einem tiefen, seelischen Schmerze überwältigt.

»Sie auch mit mir –« sprach Adam leise nach und fuhr sich mit der linken Hand über die Stirn.

Und eine jähe, gewaltige Wandlung erfaßte ihn. Wie ein Riß klaffte es durch die Dünste und Nebel, in die er sich hineinphantasirt hatte. Dieses Weib da liebte ihn – und er – er liebte in diesem Augenblicke auch das Weib, er liebte es heiß, leidenschaftlich, bis zum Wahnsinn, bis zur Verzweiflung. Das Andere, was er da vorhin zu ihr gesprochen hatte – das war ja Alles nur Einbildung, Humbug,[389] elender Mumpitz gewesen, tristes Phrasengequatsche, fadenscheiniges Blendwerk. Er ein socialer Vergeltungsfanatiker? Es war zum Lachen, zum Todtlachen. Er liebte die Schönheit und den Glanz, die heitere Vornehmheit und die geschmackvolle Pracht, den verständnißvoll arrangirten Luxus, die bestechende Form und den zwanglos, elegant gesammelten Inhalt. Und jetzt bot sich ihm zum letzten Male dieses Glück an, dieses Glück, das seinem Wesen und seiner Gestalt nach ihm einzig congenial war. Er sollte die Hand, die sich ihm lockend entgegenstreckte, zurückweisen, weil es eine Armuth gab, die darbte, ein Elend, das litt, eine Noth, die nach Rache schrie? Was ging ihn diese Armuth an? Was dieses Elend? Was diese Noth, die nach Rache schrie? Was diese problematische Rache? Nichts, Nichts, Nichts. Hier ein Weib, das ihn liebte, hier Schönheit und Fülle, Unabhängigkeit und Sorglosigkeit, hier alle Instrumente zur Erzeugung feiner Stimmungen, alle Waffen für Erwerbung großer Genüsse und Erlebnisse – dort ein Haufen Lumpen, Schmutz, Unrath in brutaler, nackter Nüchternheit, stinkende Fäulniß, Dunst, Moder, Schweiß, Staub, Dreck – – und er zweifelte noch, was er wählen sollte? Er zauderte noch? Und alle Wunden, die ihm das kleine, enge, allenthalben hemmende Leben, dem er sich je und je hatte unterwerfen müssen, geschlagen und die nur ein galgenhumoristischer Leichtsinn nothdürftig hatte vernarben lassen ... sie brachen wieder auf und bluteten in erneuter Frische. Aller Demüthigungen,[390] Zugeständnisse und Kapitulationen, die er hatte auf sich nehmen müssen, und die er weiter und weiter würde auf sich nehmen müssen, wenn er die äußere Niedrigkeit seines Lebens nicht abschüttelte und von sich warf, gedachte er, und es ergriff ihn ein ungestümes Grauen vor ihnen und ein zehrendes, bohrendes Mitleid mit sich selber. Die »Bataillone der Zukunft« – mochten sie ruhig weitermarschiren, näher und näher heran – noch war ihre Stunde nicht gekommen, noch standen sie nicht auf dem Kampfplatze, bereit zu vergelten, zu stürzen und neu zu gründen – und unterweilen ließ sich noch eine Spanne Zeit gewinnen, da man glücklich sein durfte im Schooße der Schönheit und Leidenschaft – und einen Traum träumen durfte in irdischer Trunkenheit, wohl einen flüchtigen und vergänglichen, aber auch hinreißend schönen und unvergeßlichen Traum. Nachher das Erwachen – was ging ihn das jetzt an? Jetzt? Nichts, nichts, nichts – –

Adam schritt langsam auf Lydia zu ... und als er dicht hinter ihr stand, sprach er mit leiser, gepreßter, heiser vibrierender Stimme: »Verzeih' mir, Lydia – ich – ich war von Sinnen vorhin – ich wußte nicht – – ach! Du weißt nicht, wie unglücklich ich bin – –«

Und Lydia sah zu ihm auf, feucht schimmerte es in ihren Augen – »Ja! Du mußt sehr unglücklich sein, Adam –« sagte sie ebenso leise ... Dann wischte sie sich mit ihrem zarten, weißen Battisttaschentuch die Thränen aus den Augen, legte ihre[391] kleinen, vollen Hände auf Adams Schultern und sah ihm fest, klar ins Gesicht und sprach: »Ich will Dich gesund und glücklich machen, Adam. Du sollst nicht mehr suchen, Du sollst gefunden haben. Ich weiß, Du liebst Hedwig Irmer nicht. Das hast Du vorhin nur so gesagt, um – – ich aber liebe Dich, Adam – bleibe bei mir. Willst Du – ja? – willst Du –?«

»Lydia –!«

Sie küßte ihn auf den Mund, sehr scheu, verschämt und hastig. »Aber jetzt geh' –« sprach sie nun – »ich reise morgen früh gegen Elf ab – komm nach dem Bahnhof, wenn Du kannst – ja? Wir sehen uns bald wieder –«

Adam wandte sich langsam ab. Seine Glieder waren ihm sehr schwer, er wollte gehen.

»Ach ja! Das Geld!« rief ihn Lydia noch einmal zurück. Er hatte die delikate Angelegenheit allerdings ganz vergessen müssen. »Es steht Dir natürlich zur Verfügung – sofort, wenn Du willst. Geh bitte zu meinem Banquier, Behrendt & Comp., Adalbertstr. 12 – warte! ich schreibe ihm gleich 'n paar Worte –«

Wie gebrochen schwankte Adam eine kleine Frist später zum Zimmer hinaus. – Hatte er das bessere Theil erwählet? – – –

Endlich bog er in die Straße ein, wo das Comptoir von Behrendt & Comp. lag. Langsam war er aus seinem Taumel, seiner einschnürenden Hingenommenheit und Befangenheit wieder zu sich[392] zurückgekommen, war er wieder nüchterner und einfacher, klarer geworden. Die Kritik erwachte und die kritische Entscheidungsfähigkeit, aber nur erst in eckigen, unbeholfenen Sprüngen, in vagen, unsicheren Andeutungen. Adam stapfte mit verbogenen Schritten vorwärts, er nickte öfter vor sich hin, warf den Kopf mit nervösem Accent nach rechts, nach links, und malte mit den Händen allerlei geheimnißvoll-unverständliche Figuren in die Luft. Er wußte: es hatte sich ihm da etwas Unerwartetes ereignet, sein Leben war scharfen Ruckes um eine Ecke geschossen und in eine andere, ganz andere Richtung eingelaufen. Aber er trug Scheu, sich in das Neue, das ihm zugefallen war, zu vertiefen, er constatirte es nur, halb widerwillig, halb erfreut darüber und auf seine Fortsetzung gespannt. Zumeist trieb es ihn, den nächsten, zunächstliegenden Vortheil aus dem ihm widerfahrenen Glücke zu ziehen. Er hatte ja Irmers helfen wollen. Dieser Gedanke hatte die tiefste Furche in seinem Gehirn gegraben. Es zog und zerrte an ihm, wie aus einer unergründlichen Tiefe seiner Seele zu ihm sprechend und ihn lenkend. Also erst 'mal bei dem Esel von Banquier auschwirren und das Geld erheben. Das ging sehr glatt, beinahe zu glatt für Adams Gefühl. Dem Herrn Doctor wäre eine kleine, reelle Abwechslung sehr willkommen gewesen.

Adam rannte sporenstreichs nach dem nächsten Postamte, schrieb vier Anweisungen und zahlte die tausend Mark an die Adresse Hedwig Irmers ein. Er konnte das Geld gar nicht schnell genug loswerden. Nun[393] athmete er auf. Das war der Kaufpreis. Da lag er. Der Postbeamte strich die dreißig Silberlinge gleichgültig ein. Er war frei. Tausend Mark – das war auch immerhin eine ganz anständige Summe als Abschlagszahlung auf – nun! eben auf gewisse etwaige Alimente ....

Adam stand wieder auf der Straße. Er wußte nicht, was er mit sich anfangen sollte. Nach Hause gehen mochte er nicht. Ein heftiger Ekel vor seiner Wohnung ergriff ihn. In dieser hin- und hervibrirenden, zerklüfteten Stimmung konnte er ja doch nicht arbeiten. Er war nicht fähig, sich zu sammeln. Er wußte, wenn er zu Hause säße, in der Einsamkeit seines Zimmers, würde seine Unrast noch wachsen und wachsen. Die Enge, die Stille würden ihn erdrücken. Immer nur würde an ihm zerren, würde in ihm wühlen, was er tagüber erlebt ... zerren, wühlen in schneidender Eintönigkeit, mit symmetrischem, unerträglichem, schauderhaft correctem Despotismus. Aber wie sollte er seine Unrast auslösen? Eine leise Sehnsucht nach etwas Neuem, Unerlebtem, Abenteuerlichem durchzitterte seine Brust. Er hätte sich so gern vergessen machen lassen, er suchte Betäubung, und war's auch gemeine, geschmacklose Betäubung.

Es war zwischen sieben und acht Uhr. In den Straßen lag dunstige Wärme, beklemmende Stickluft, heiße, brasige Stimmung. Der Himmel war unrein, unreinlich, abstoßend zerquirlt und verzettelt, hier ein Ballen schmutziggrauer Wolken mit matter oder dunkler gefärbten Rändern, die von tödtlicher Langweile zu[394] triefen schienen, dort eine Spanne Wolkenlosigkeit von der blaugrünen Bleifarbe des Nelkenkrautes. Allenthalben breite, auf- und niederfluthende Menschenströme, behagliches Schlendern und gleichsam geöltes Hinschießen. Hunderte von entlassenen Arbeitssclaven, die aus ihren Sälen und Höhlen kamen und eine karge Stunde der Freiheit genießen wollten. Aus dem Innern steinerner Thorwege und Hansfluren, aus geöffneten Kellerfenstern quoll feuchte, kalte Luft.

Adam ließ sich von der Masse mit forttreiben. Es war ihm gleichgültig wohin. Es war ihm schon recht so. Er hatte kein Ziel: das Schwimmen mit dem Strome kam ihm heute außerordentlich gelegen. Es dünkte ihn auch so passend zu der gesammten Verfassung seiner Verhältnisse, der schnurrigen Beschaffenheit seiner Lebenssituation, so, wie sie heute von einer schönen Frau eingerenkt und bestimmt war. Es galt, sich bei Zeiten daran zu gewöhnen, daß man einen festen Punkt gewonnen hatte, von dem aus man sich dem realen, lebendigen Leben einfügen und einordnen sollte.

Jetzt verspürte Adam einen zaghaft zupfenden Hunger in sich. Und auch die Neigung zu einem guten, schweren Glase Bier streckte verstohlen ihre kleinen, warmen, mahnenden, bittenden Fingerchen aus. Aber wohin sollte er gehen? Die Lokale, die er gewöhnlich besuchte, waren ihm momentan über Alles verhaßt. Er konnte es nicht über sich gewinnen, eins oder das andere aufzusuchen. Jetzt nur keine bekannten Räume, die, gegenständliche Erinnerungskeime, von irgend welchen[395] Erlebnissen zu erzählen wußten! Und jetzt nur keine bekannten Gesichter! Es aber mit einer Bierwirthschaft aufzunehmen, die ihm noch fremd war, davon hielt ihn eine starke, unerklärliche Scheu zurück, vielleicht ein Mißtrauen gegen neue Objecte, denen er sich bei seiner nervösen Zerfahrenheit und geistigen Ungleichmäßigkeit zur Zeit nicht gewachsen fühlte. Er mußte über sich lächeln, konnte sich aber nicht zwingen, aus seiner lächerlichen Unentschlossenheit herauszugehen. So trollte er weiter. Und jetzt bog er plötzlich in eine Thür ein, die zu einem Lokale führte, in dem er früher öfter verkehrt hatte. Er wußte nicht, wie er so jäh und unvermittelt dazu kam, hier einzutreten. Er schüttelte den Kopf und öffnete mechanisch die Thür. Nun stand er im Zimmer und suchte nach einem Platze.

Es war ein Restaurant ziemlich untergeordneten Ranges. Im Winter gab es Tingeltangel hier, und Adam war einige Male mit Bekannten hier 'reingefallen, um sich den geschmacklosen, stumpfsinnigen Ulk anzusehen.

Im vorderen Theile des Raumes lag noch Abendhelle, spinnendes, merkwürdig keusches Zwielicht. Hinten in der Nähe des Buffets brannte schon eine trübe, gelangweilte Gasflamme. Sie schien sich ziemlich anachronistisch vorzukommen.

An den rohen, mit beleidigender Bestimmtheit aneinandergestellten Tischen saßen ein paar Gäste. Gesprochen wurde nicht viel. Ab und zu klapperte ein Bierseidel. Die Athmosphäre war warm, schweißdunstig,[396] dazu der impertinent scharfe Gestank von schlechten Cigarren.

Adam setzte sich an den ersten besten Tisch in der Mitte des Zimmers. Aus dem Hintergrunde, aus der Nachbarschaft des Buffets, kam eine Kellnerin auf ihn zu.

»Sie wünschen –?« fragte sie mürrisch, abstoßend.

»Ein Bairisch und 'was zu essen –«

»Ein belegtes Brötchen, Frankfurter Würstchen, Aal in Gelèe oder –? –«

»Bringen Sie mir 'n belegtes Brötchen –«

»Mit Wurst, Schinken, Käse –?«

»Ach Gott, das ist gleichgültig ... also meinetwegen mit Käse, Schweizerkäse – es ist ja ganz egal – – nur 'n Bissel hurtig, mein Fräulein – –«

Die Kellnerin begnügte sich, eine verächtliche Kopfbewegung zu machen und ging ab. Jetzt stellte sie das Bier vor Adam hin und zündete eine zweite Gasflamme an.

Adam schräg gegenüber, am Nebentische, saß ein junger Kerl, der darauf zu brennen schien, sich mit dem neuen Ankömmling in ein Gespräch einzulassen. Er war augenscheinlich nicht mehr ganz nüchtern. Seine Hände zitterten, wenn er nach dem Glase griff, er fuhr unruhig auf seinem Stuhle hin und her und tolpatschte unbeholfen an seinem Cigarrenstummel herum, den er schon ganz zerkaut und zerdrückt hatte.

»Ick bin Sie man nämlich heute nur in absentia[397] hier ...« lallte er jetzt zu Adam hinüber – »eigentlich bin ick sozusagen von Hause aus, wissen Se, gelernter Klempner, aber Sie müssen doch zugeben, wenn Unsereener mit Bismarcken oben ... na! wie heeßt nur das Nest ... ja! in Stralsund Theolojie studirt hat – –«

»Greifswald wollen Sie wohl sagen –« bemerkte Adam lächelnd und nahm sein Käsebrötchen in Empfang, das ihm eben die Kellnerin mit brutaler Nachlässigkeit hinschob.

»Ein klein Wenig höflicher dürftest Du auch sein, mein Kind – das könnte wahrhaftig nichts schaden – –«

Das zur Ordnung gerufene Fräulein warf ihrem Kritiker nur einen finsteren, drohenden Blick zu und setzte sich an den Nebentisch. Sie sagte kein Wort.

»Wat meenen Se? . Greifs ... Greifswald? Mir solls Recht sin ... hähähä ... ick bin ja heute, müssen Se wissen, nur in absentia hier – und wenn Eener mit Bismarcken Theolojie studirt hat, kann er ooch wohl cen kleenet Wörtchen mitreden in de Weltgeschichte, verstehen Se mich! ... Habe ich etwa nicht Recht –? ...«

»Na! und wie haben Sie Recht, mein Bester! Ich bin nämlich auch bloß in absentia hier – wir sind ja Alle nur in absentia auf der Welt – –«

»Na! Ick habe doch also Recht! . Sage ick denn det nich –? .«

»Meinetwegen! Aber jetzt lassen Sie mich gefälligst[398] mit Ihrem Quatsch zufrieden, lieber Mitmensch – ja –?«

Der brave Klempnergeselle war sehr verschüchtert. Er sah Adam groß, erschrocken an, setzte dann ein blödes Verlegenheitslächeln, das ironisch und pfiffig sein sollte, auf seine häßlichen, scharfen Züge, die gelblichgrau und runzlig waren wie rauhe Elephantenhaut, und tastete unsicher nach seinem Glase.

»Und ick bin man doch bloß in absentia hier ... det sage ick und dabei bleibe ick –« murmelte er in seinem Kauderwälsch von reinem Schriftdeutsch und Berliner Dialect vor sich hin ...

»Bringen Sie mir noch 'n Glas!« commandirte Adam nach einer Weile, während der er sein frugales Brötchen und den ersten Krug des ziemlich warmen und abgestandenen Bieres bewältigt hatte.

Jetzt setzte sich die Kellnerin mit an seinen Tisch. Sie sah ihn mit ihren kalten, dunklen Augen fest an.

»Was habe ich Ihnen nur gethan, mein Fräulein –?« fragte Adam, dem diese energische Musterung unangenehm, unbequem war.

Das Mädchen schüttelte ein ganz klein Wenig den Kopf und fixirte Adam ruhig weiter.

»Wollen Sie die Blume trinken –?«

»Ich danke –«

Jetzt spielte Adam den Beleidigten. Er sah das kleine, knurrige Weib herausfordernd an. Dabei bemerkte er, daß die Donna kein uninteressantes Gesicht hatte. Die Züge waren nur etwas scharf,[399] herb, zu nuancirt gefaltet, die Haut zerrissen und porös, als ob sie früher stark geschminkt worden wäre.

Neue Gäste kamen. Handwerker mit den breitspurigen Gerüchen ihrer Werkstätten, Arbeiter: gebückt, gekrümmt, nachlässig, schleppend und schwerfällig im Gang, unreinlich, abgeschunden, zerrissen, rußig, allenthalben mit Fabriksspuren und Arbeitsnarben besät, in den Gesichtern Gleichgültigkeit, Stumpfsinn, oft auch zehrenden Gram, der sich in den Physiognomie'n seinen bestimmten Ausdruck geschaffen, hier und da Spuren einstiger Intelligenz, aber stark verwischt und verkümmert. Ab und zu erschien wohl auch Einer, der nach Kleidung und Benehmen einer »besseren« Gesellschaftsklasse angehörte. Das Sprechen wurde lauter, schriller, die Stimmen vermischten und verwirrten sich. Jetzt brannten alle Gasflammen, das letzte Streifchen, das letzte Pünktchen müden, graublauen Abendlichts war aufgezehrt. Man hatte in den Eingeweiden der Häuser keine Zeit, auf das völlige Hinsterben des Tages zu warten. Der konnte sich draußen auf der Straße, wo die breiten, schwarzen Schatten lagen, auf dem Felde, im Walde mit der siegenden Finsterniß abfinden. Hier lechzte das Leben nach neuen Krystallen. Verblutende läßt man allein. Auch das Licht, das verblutet. Und so bleibt es keusch und makellos. –

Hinter dem Busset war der Wirth erschienen. Die Kellnerin lief auf und ab. Sie behandelte die Gäste schroff, herb. Das gefiel Adam. Er ließ sie[400] nicht aus den Augen. Sie mußte das fühlen. Oefter, mit jähem, unvermitteltem Rucke, sah sie sich nach ihm um. Er fing ihren Blick lächelnd, ironisch, wie in halber, kopfnickender Genugthuung lächelnd, auf. Sie zuckte zurück ... und sah doch wieder zu ihm hinüber. Wohl streng und finster ... und doch dünkte es Adam zuweilen, als läge ein heißes, namenlos heißes und brünstiges Flehen in diesem Blick – eine erschütternde Bitte um Hülfe ... Rettung ... Erlösung .... So blieb er sitzen ... und trank – ihr zu Gefallen. Sie interessirte ihn jetzt. Wieder Eine ... wieder Eine ... wieder Eine ... Aber es war nun einmal so. Und er konnte sich des geheimnißvoll zwingenden, immer wachsenden Eindruckes nicht erwehren. Und er trank weiter – ihr zu Gefallen. Sie sah ihn so eigenthümlich an, wenn sie ein frisches Glas Bier vor ihm hinstellte. Und jetzt waren gerade alle Gäste versorgt, und sie hatte einen freien Augenblick. Sie wandte sich langsam nach Adam um. Der winkte ihr mit den Augen. Sie trat zu ihm hin und beugte sich zu ihm nieder. Gesicht lag neben Gesicht, Adam hörte ihr heftiges, hastiges Athmen. »Wie heißt Du –?« raunte er ihr leise zu.

»Leni. Bleib' noch 'n Bißchen hier – ich muß Dir nachher 'was sagen – –«

Und er blieb und blieb und trank und trank weiter – ihr zu Gefallen. Er fühlte, wie das schaale, abgestandene Zeug Gewalt über ihn gewann, wie seine Gedanken kürzer, eckiger, springender wurden,[401] seine Bewegungen schwerer, ungelenker ... er starrte öfter vor sich hin, secunden-, minutenlang, das Sprechen und Schreien und Klappern um ihn herum rann zusammen zu einem schweren, dumpfen, summenden Geräusch, jetzt war es ihm plötzlich einmal, als ob er sich einen Augenblick vorher ganz vergessen hatte, er hatte eine Secunde lang nicht existirt, er hatte stumpf vor sich hingebrütet und war doch zugleich ganz ausgelöscht gewesen, nun rollte er sich wieder auf und gliederte sich, straffte sich ... und da züngelte Leni's Blick wieder zu ihm herüber ... und bat ihn ... und fragte ihn ... und flehte ihn an ... und sie kam zu ihm, berührte leise sein Haar, liebkoste ihn ... und bog seinen Kopf zu sich in die Höhe und schaute in seine Augen mit ihren kalten, dunklen, menschenanklagenden Augen. Und er blieb und blieb und trank und trank weiter: dieses warme, abgestandene, zähschleimige Gesöff weiter – ihr zu Gefallen, ihr zu Liebe –

Nun lief das Lokal mit all' dem zechenden, schreienden Menschengesindel, was sich da zufällig in ihm zusammengefunden hatte, um Adam im Kreise herum. Das war fatal. Er hatte die bewußte »Contenance« verloren. Nur eine Prise frischer Luft konnte hier mildern.

Der Angezechte hatte eine gewisse Furcht vor dem Aufstehen. Immer wieder sank er in sich zusammen und blieb sitzen. Endlich, ohne daß er es noch einmal bewußt gewollt hatte, schnellte er mit[402] einem verbogenen Rucke in die Höhe und tastete schwerfällig-ungelenk nach seinem Hute. Die Kellnerin kam auf ihn zugelaufen.

»Was habe ich –?« fragte Adam mit schwerer, unsicherer Zunge.

»Du willst schon gehen –? Warum denn –?«

»Mir ist nicht wohl ... Das ist auch 'n Dunst – 'ne Luft – 'n Gestank – hier – nicht zum Aushalten! . Also wie viel Bier? . Und ... und ... das ... das Bröt – chen –?«

Leni rechnete mürrisch zusammen. Sie hatte wieder ihr erstes, abweisendes, verächtlich achselzuckendes Benehmen angenommen. Adam warf das Geld auf den Tisch. Das Weib war ihm jetzt verflucht gleichgültig. Nur 'raus aus dieser entsetzlichen Bude! Er hatte keine Zeit, den Beichtvater zu spielen ... oder verpflichtende Zärtlichkeiten sich abschmeicheln zu lassen.

»Adieu! Ich komm morgen wieder –«

»Ach Du! Geh' nur! Du bist ooch nicht anders –«

»Du wirst ja sehen, daß ich Wort halte – –«

»Meinetwegen brauchst Du nich zu kommen –«

»Nu denn nich, meine Theure! Adieu!«

An der Thür sah sich Adam noch einmal um. Das war ein graues, widerlich verqualmtes, schwerfällig hin- und herschaukelndes Bild, was er da vor sich hatte. Leni war verschwunden, wie hinweggenommen, verschluckt. Nein! doch nicht. Da hinten am Buffet flirrte ihre rothe Taille in falbem, verhangenem[403] Scheine. Und jetzt kam das matte Flämmchen wieder näher und wurde größer, körperlicher. Adam stieß die Thür auf.

Die Luft auf der Gasse war nicht viel frischer. Oefter lief ein kleiner, kühlerer, sanft athmender Wind vorüber, der Adam wohl that. Er wurde bald ruhiger, sicherer, klarer. In den Lüften schwamm noch die letzte, die allerletzte, fast farblose Erinnerung an das weiße Licht des Tages. Bald kam der Mond herauf. Mit einer leisen, discreten Helle überhäufte er zaghaft den Himmel. Einige Tropfen fielen, bald hörte der Regen wieder auf. Adam stapfte weiter und ließ sich alle Stimmungserscheinungen der anbrechenden, schwülen Sommernacht gefallen.

Die Straßen waren leerer geworden, das Leben stiller, heimlicher, verhaltener. Adam ward es ganz sonderbar zu Sinn. Er kam sich so grenzenlos allein, vereinsamt vor, wie ausgesetzt, wie ausgestoßen. Er empfand Mitleid mit sich in dieser großen Einsamkeit. Sein Weg ging durch kleine, enge Straßen und Gassen. Selten begegnete ihm ein Mensch, ein unbekannter, aus den Schatten des Abends auftauchender Mensch, ein Einzelner, vielleicht auch ein Vereinzelter, oder Zwei oder Drei. Vor einer Thür, unter einem Fenster, stand wohl auch hier und da ein Pärchen und flüsterte. Adam zog vorüber. Manchmal wunderte er sich im Stillen über das, an dem er vorüberzog, wunderte sich über die warme, geschmeidige Sommernacht, über dies und das aus[404] der Welt und dem Menschenleben, was ihm gerade als schärferer Gedanke, in schärferem Bilde zufiel und aufging, wunderte sich langsam über die bunten Erlebnisse seiner letzten Tage. Er wunderte sich mit der intimen und tolpatschigen Naivetät des Kindes. Er lächelte verstohlen vor sich hin und that sehr geheimnißvoll. Er war sehr glücklich.

Nun trieb er durch eine breitere, hellere, belebtere Straße. Und wieder kam das Gefühl grenzenloser Vereinsamtheit über ihn, jetzt noch stärker, bezwingender, noch mehr niederwuchtend und einschnürend. Oefter war es ihm, als müßte er einen Schrei ausstoßen, einen kurzen, harten Schrei ... einen dunklen, verlorenen Ruf durch die Nacht, einen Ruf der Sehnsucht ... einen Schrei brennender Herzensverzweiflung. Unter den Menschen, die da ihm entgegenkamen, die da an ihm vorübergingen, mußte doch so Mancher sein, der ihn verstehen würde, wenn er ihm seine Brust öffnete, der sich zu ihm gesellen, der mit ihm weitergehen würde, wenn er seine Sehnsucht und sein heimliches Weh erfahren. Oh! Wenn er riefe – gewiß! sie würden kommen, froh, daß sie Einen und Andere gefunden, die ihresgleichen wären. Aber er ging weiter, in sich versunken, der Ruf erstickte und erstarb in seinem Munde, er schrie nicht, er hatte nicht den Muth dazu.

Der Mond war durchgebrochen. Mit seiner goldgelben, massiven, durch ihre scharfe Plastik und Umrissenheit geradezu aufdringlichen Fülle stand er in einem See flimmernden, stahlblauen Aethers. Ihm[405] zu Häupten und zu Füßen, an seinen Flanken hatten sich vielgestaltige, ungefüge Wolkengruppen hingelagert, mächtige Wülste und Kämme, Schichten, mit sich emporsträubendem oder herabfaserndem, braungelb beleuchtetem Gestreif. Stetig wechselte das Bild, die Formen verschwammen in einander und schoben sich zusammen, gewaltige Thierleiber wuchsen heraus, Drachengestalten und Krokodile mit klaffenden Rachen, Wälle mit Burgen quaderten sich empor ... und in gigantischen Umrissen quollen nicht zu verschwollene Profile von ungeheueren Menschengesichtern auf ...

Aber solange Adam mit den Augen der großen Himmelsscene entgegenging, stand der Mond unangetastet, wie in selbstverständlicher Souveränetät, inmitten seines flimmernden, stahlblauen Aethersees. Und um ihn herum, von seinem gelbweißem Lichte übergossen, das imposante Spiel der Phaenomene, die wurden, waren, gewesen waren und wiederum wurden. –

Adam sah nach der Uhr. Es ging auf die elfte Stunde. Nun dachte er daran, sich heimwärts zu schlagen. Er war eigentlich recht abgespannt, er hatte gar nicht mehr Alles beisammen, worüber er sonst verfügte. Und doch faßte ihn ein unklares Gefühl an und hielt ihn zurück. Mechanisch trollte er sich weiter. Es war ihm, als ob er vor sich selber immer mehr erlösche, als ob sich alles Geistige in ihm verstofflichte und zur Epidermis hinaustriebe, hinauseiterte. Er mußte über diese Wahrnehmung lachen, der Vorgang dünkte ihn zu dumm.[406]

Nun war er mit einem Male in die Nähe des bewußten Parkes gekommen. Es zog ihn hinein, da drinnen mochte es noch mehr Leben geben, als hier auf den schmalen Gassen der Vorstadt. Und plötzlich sehnte er sich nach dem Leben, wie es sich im zärtlichen Widerspiel zweier Menschen, die auf einander gestimmt worden, erfüllt. Das war wohl ein kleinliches, schwächliches Gefühl. Er warf es von sich und suchte nach neuer Speise des Geistes. Er dachte an Lydia, die ja seine Braut sein sollte. Er blieb mitten auf dem Wege stehen, blinzelte zum Monde hinauf, der eben die Finsterniß einer breitleibigen Wolke überwunden hatte und wieder in seinen flimmernden, stahlblauen Aethersee schoß. Adam gab sich alle Mühe, Lydias Gesicht im Geiste deutlich vor sich zu schauen. Es gelang ihm nicht, manchmal blitzte es vor ihm auf, jetzt glaubte er sie deutlich zu fassen, wie sie zu ihm sagte: »Ja! Du mußt sehr unglücklich sein, Adam –«, aber nur eine Sekunde war's, Alles verschwamm wieder, die Linien der Züge wollten sich in der Erinnerung nicht zurückgewinnen lassen, und auch der Ton ihrer Stimme, auf den Adam horchte, ganz still, mit verhaltenem Athem horchte, flirrte nur in undeutlichen: Surren an ihm vorüber. Wie weit war sie ihm, wie wenig intim und unverlierbar gehörte sie ihm, wie nachlässig hatte er im Geiste ihren Besitz gehütet!

Hier und da, von den Bänken her in den Waldnischen, an den Wegen, an den breiten und schmalen Pfaden, gab es leise flüsternde Stimmen. Menschen[407] zu Zweien und Mehreren, schritten still an Adam vorüber, manchmal war's dem, als träumte er, als wäre er emporgehoben und schwebte dahin, so leicht erschien ihm auf kurze Spannen das Gehen im dünnen, feinen Staubmehle des Weges. Es war doch Alles sehr merkwürdig auf der Welt, man konnte darüber still vergnügt lächeln, alles Vielfältige, Zerrissene und Vertheilte stand jenseits dieses verschollenen Reiches, in dem man so ganz vergessen durfte, daß es sehr rauhe Reibungen gab und so viele Ecken, Kanten und Spitzen, an denen man sich verwunden sollte.

Nun setzte sich Adam auf eine Bank, die gerade leer war. Er dehnte behaglich die Beine weit vor sich hin, steckte die Hände in die Hosentaschen und brütete, nur die leisesten Wirbel in der Seele, vor sich hin, das kleine Stück Ringsum mehr von unten herauf anblinzelnd. Vor ihm lag eine große Wiese, hoch, dicht, üppig standen die Gräser und Kräuter, darüber plänkelte ein dünner, zartwolkiger, grauweißer Nebel, dazu das blasse, verschämt tastende Aschenlicht des Mondes. Von jenseits der Wiese, aus einem Garten wohl hinter der dortigen Waldwand, kam verhaltene Musik, der Wind schob verzettelte Töne vernehmbarer dem Lauschenden heran, der Ruf eines Nachtvogels stieg aus den Lufthöhen nieder. Nun schwieg die Musik. Ein zusammengeschmiegtes Pärchen, das sich in brünstiger Hingegebenheit mehr trug als führte, schleifte sich, laut athmend und erregt tuschelnd, vorbei, es verschwand im Walde.[408] Durch die Gräser und Kräuter der Wiese strich ein murmelnd aufblätternder und raschelnd niedersegnender Nachtwind. Adam war ganz allein, überantwortet den sanften Gewalten der schwülen Sommernacht. Er wurde müde, sprach in bunter Willkür Allerlei vor sich hin, fuhr wieder empor, betastete mit halblauten Worten seine verworrenen Gedanken, schüttelte den Kopf und ließ sich vom Schlafe wiederum übermannen ... Unterweilen wuchs die Sommernacht, Adam Mensch schlief, im Walde, auf einer Bank am Wege, als hätte er, wie Unzählige seiner Brüder und Schwestern, keine andere Stätte, da er sein Haupt niederlegen könne. Und er war doch heute erst im Schooße der Schönheit und des Reichthums eingekehrt. –

Eine Stunde wohl saß so Adam in sich zusammengekrümmt da und schlief. Nun mochte ein kühlerer Athemzug des Nachtwindes an ihm gezupft und ihn geweckt haben. Er schlug die Augen langsam auf, starrte verblüfft seine Umgebung an und richtete sich aus seiner halbliegenden Stellung immermehr in die Höhe. Allmählich kam ihm das Bewußtsein seiner Situation. Er lächelte ein klein Wenig, war aber doch sehr mürrisch und suchte nach einer beißenden Glosse auf sich. Er fand keine kräftige, pointirte Wendung, die geistige Münzkraft schien, sich ihm ganz entzogen zu haben. Seine Glieder waren schwer und steif, ein prickelndes Frösteln durchzitterte ihn, seine Augen brannten, seine Stirn war heiß, dicht über den Augen lag ein harter Druck[409] mit trockenem, mechanischem Schmerze. Nun zog er den Hut, der sich arg verschoben hatte, in seine gewöhnliche Lage zurück, knöpfte seinen Rock zu und stand auf. Das Gehen wurde ihm schwer, er konnte den Kopf nicht bewegen, wie er wollte, der Hals war ganz gesteift. Adam sah nach der Uhr, es war nach Mitternacht. Er suchte nach einer Cigarre, gleichsam um außer sich etwas Fremdes, etwas Anderes zu haben, Etwas, das ihn begleitete, das diese Einsamkeit, diese grenzenlose Einsamkeit, die ihn zu erdrücken drohte, zerstreute, unterbrach, verscheuchte, wenigstens mit ihm theilte. Er hatte keinen Genuß an der Cigarre, aber das rothe, runde Auge ihrer Brandstätte tröstete ihn. Mit großen, eiligen Schritten suchte er aus dem Bereiche des Waldes zu entkommen. Die große, monotone, aber ergreifende Poesie der Sommernacht bewegte ihn nicht mehr. Die leidende Creatur konnte nicht über sich hinausgehen.

Nun war er wieder in der Stadt, er hatte das Pflaster wieder unter den Füßen, die flankirenden Häuser schienen, wie ein geheimnißvoller Schutz, eine innige Beruhigung auszuathmen. Die lähmende Dumpfheit, die auf ihm gelegen hatte, wich zurück, das Nervenleben erhöhte sich wieder, die Sinne wachten auf, das Leben pulste von Neuem, wenn auch immer matt noch und stockend. Das heftige Laufen hatte ihn angestrengt, eine schwüle, schweißige Schwere lag in seinen Gliedern. Jetzt wollte Adam endlich nach Hause gehen. Es war Zeit dazu. Allerdings, ob er würde schlafen können, bezweifelte[410] er. Er fieberte immer noch stark, stechende Hitzeschauer liefen an seinem Leibe auf und nieder. Wie mechanisch aufgezogen stapfte er vorwärts. Die Cigarre war ausgegangen, er konnte sich nicht dazu bequemen, sie wieder in Brand zu setzen, er bedurfte ihrer schließlich auch nicht mehr. Jetzt ging er eine breite Straße hinunter, die am Tage, besonders in den späteren Nachmittagsstunden, die belebteste der Stadt war. Am Himmel gab es immer noch sanfte, discrete Mondhelle, die Laternen brannten eine um die andere, still, kleinlaut, verträumt standen die gelbroten Flammen in ihren weißen Glasbauern. Da und dort tauchte noch ein Mensch auf, ein später Zecher, eine satte oder suchende Vagantin, zuweilen auch ein kleiner Schwarm behaglich plaudernder Nachtwandler. Allerlei leises, verworrenes Geräusch summte um Adam herum, ein kleiner Bursche mit einem Korbe verwelkter Blumen, verwelkter Veilchen und Rosen, lief ihm in den Weg, beinahe wäre er über das Kind gestolpert, das ihn mit seinen großen, blöden Augen im blassen, häßlichen, früh entwickelten und zerfalteten Gesicht erschrocken ansah. Adam mußte einem jähen Einfalle folgen, er kaufte sich ein verwelktes, nur noch ein schmutziges Parfüm ausathmendes Veilchensträußchen und warf ein Markstück in den Korb. Die blauschwarzen Blumen zog er mit unendlicher Genugthuung ins Knopfloch und lief weiter. Eine große, bohrende Leere war in ihm, nur manchmal schoß ein Ballen verworrener[411] Vorstellungen und Gedanken empor, dann dünkte ihn das Leben unerträglich schaal und überflüssig, es erschien ihm als ein Dämon, als ein Ungeheuer, und der Ekel vor ihm stellte sich in einem zusammenschnürenden, inneren Krämpfe dar. Wieder überfiel ihn das Gefühl seiner Einsamkeit, Alles hatte sich von ihm losgesagt, er war allein, ganz allein. Er wußte, daß er vor einem großen Unglück stände, er biß sich fest hinein in die Furcht vor diesem geheimnißvollen Unglück, er glaubte an dieses Unglück, er schauderte zurück, der Dämon wurde immer gewaltiger in ihm. Alles war ihm reizlos, er verzweifelte. Die Leidenschaften seiner Seele verachtete er, die Lüge seiner Existenz ging ihm in schneidender Schärfe auf, vor seiner Verlobungskomödie mit Lydia spuckte er aus, er fühlte sich herabgewürdigt, er hatte ein dumpfes, unklares Gefühl, als wäre er bis auf den Tod beleidigt, als könnte er nach der Schmach, die ihn getroffen, die er sich hatte gefallen lassen, nicht mehr leben. So kam er auf den Tod. Er dachte an den Tod, er haschte nach klaren, scharfen Eindrücken vom Tode, er wollte sein Bild zwischen die Zähne des Geistes ziehen und knirschend zermalmen. Sie sollte ihm nichts mehr anhaben, die fahle, zerlöcherte Larve. Aber er konnte das stachlige Gefühl wurmender Todesfurcht nicht los werden, all' sein Anstemmen, sein Empören war vergeblich, schließlich summte er mit verhalten gellender Wut vor sich hin: »O Thanatos, o Thanatos, wie schwarz sind deine[412] Blätter –« Er fürchtete den Tod, er liebte das Leben, die Bewegung, das beflügelte Blut. Plötzlich erschien ihm das Leben sehr werthvoll, er fand mit auffallender Geschicklichkeit tausende seiner Reize, seiner feineren, geistvolleren Freuden. Er beschloß, sich das Leben um jeden Preis zu wahren, selbst wenn er ein Lump, ein Ehrloser, ein Verbrecher darüber werden sollte. Zuweilen hatte er wohl in trister Entsagungsphilosophie gemacht. Er mußte jetzt über diese Bubenstreiche lachen. Er lachte laut, unheimlich laut. Wünsche, Begierden, Hoffnungen, kühne, bedeutende Hoffnungen sproßten auf in seiner Brust. Er wollte leben, wollte leben um jeden Preis. Was? Entsagen, ohne genossen zu haben? Da wäre der Tod ein schlechter Witz ohne Pointe. Ah! das verachtete Leben rächt sich. Adam war damit einverstanden. Er wollte sich an sich selber rächen. Und doch durchschaute er den ganzen, brutalen Egoismus des Weltapparats: die Reize und Freuden des Lebens schoben sich wieder zurück vor ihm, weit, weit in einen dämmerungsverschwommenen Hintergrund zurück. Vor sich sah er jetzt nur steinichte Wege, ziellose Bahnen. Das Andere lag ja Alles nur in der bestechenden Nähe, war Augenblicksgenuß aus geschwollener Börse, mit vollen, kauenden Backen. So dumm! Und doch gabs große, unabhängige, gebundene Kräfte hier und da in besonderen Menschenherzen, die nach kosmischer Ungebundenheit lechzten. Dabei lebten sie sich aus und entfalteten seltene Schauspiele. War's nicht der Mühe werth, da Zuschauer[413] zu sein? Auch nicht, schließlich auch nicht. Auch nicht der Mühe wert. Und dem Adam eben noch in instinctivem Daseinsgefühl zugejauchzt, das ihn werthvoll gedünkt und begehrenswerth, verwarf er jetzt und verachtete er. Eine große, trübe Leere war in ihm ... und sein Interesse am Weibe, das immer so groß und so stark gewesen, und sein Interesse an der Kunst und an der Natur mit ihren magischen Trostreizen zerstäubte, zerfiel und erstarb in dieser Stimmung, wo er nur noch lebte, weil zufällig über seinen Organismus noch keine andere, fremde, äußere Macht Herr geworden.

Adam ging an einem Nachtcafé vorüber. Sollte er eintreten? Er hatte oft dort gesessen, hatte manchen Scat mit Kameraden und Kumpanen dort gedroschen, manchen faulen Witz gerissen und eine schwere Menge Unflätereien angehört. Sollte er eintreten? Es hatte keinen Zweck. Diese Talmireize des Lebens sind wirklich zu blöde und zu geschmacklos. Er ging weiter. Eine hellerleuchtete Bahnhofsuhr kam in Sicht. Es war Eins durch. Adam blieb stehen. Eine gewaltige Sehnsucht packte ihn, eine fanatische Sehnsucht in die Ferne hinein. Wenn er sich jetzt in den ersten besten Zug warf und hinausfuhr, war er all' den dummen, rüden Krempel los, hatte er alle diese abgeschmackten Lügen hinter sich, verschwamm Alles, schlug Alles zusammen hinter ihm. Da war die Thür. Eine Pforte zu auch einer Zukunft. Er schüttelte wehmütig den Kopf. Ach! Er stak zu tief, zu tief im Schlamme dieses[414] verworrenen Lebens. Nun wollte er nach Hause gehen, endlich nach Hause, auf dem kürzesten Wege. Er bog in eine schmale Gasse ein, die an ihrem Ende breiter wurde. Da links war eine Lücke, wenigstens eine Art von Lücke, eine auffällige Unterbrechung. Ein Haus wurde abgerissen. Einen wüsten Schutthaufen gab's, grauschwarz nahm sich's in der falben Monddämmerung aus, Balkenköpfe ragten aus dem massiven Wirrwar mit den stumpfen Grenzen ihrer plumpen Formen heraus, verschiedene wie geschundene Mauerreste standen herum, herabfaserndes Rohrwerk lugte aus einer verwinkelten Hausecke. Und da war auch noch eine Tapete sichtbar, eine grünschwarze Tapete. Adam war über die Barrière, in deren Mitte eine trübe, verschlafene Oelfunzel blinzelte, geklettert und versuchte, sich so weit als möglich der Wand zu nähern. Es war ihm ein ungestümes Zucken, ein nervöses Prickeln in den Fingern, es trieb und zwang ihn unwiderstehlich, die Tapete zu betasten. Aber der Schutt war zu hoch und zu rissig, zu klüftig, er mußte umkehren. Und da kam ihm der Gedanke: wie sieht die Tapete in deinem Arbeitszimmer aus –? Er besann sich, besann sich, er konnte sich der Farbe nicht erinnern. Der Gedanke, die dumme, einfältige Frage hatte ihn gepackt und ließ ihn nicht wie der los. Sie keilte sich fest in seinem Gehirne. Er dachte nichts anderes mehr, er fragte sich nur immer und immer wieder nach der Tapete in seinem Arbeitszimmer ... wie sie aussähe ...[415] wie sie aussähe ... wie sie aussähe – diese Tapete ... diese Tapete ... diese Tapete ...?

So lief er weiter, seiner Wohnung zu, je näher er ihr kam, um so mehr eilte er, die Schwere seiner Glieder war noch gewachsen, sie war fast unerträglich geworden, seinen Kopf fühlte Adam wie eine schwere, amorph verquollene Masse, er glaubte, ein dumpfes, knurrendes Kreisen in seinem Schädel zu verspüren, Alles war in ihm erstorben, todt, wie aufgesogen von dem Einen, das er wie eine materielle Last in seinem Gehirn empfand ... wie aufgesogen von der Frage, die immer wiederkam und ihn ganz ausfüllte – von der Frage nach der Farbe seiner Tapete ... Und er lief weiter in die Nacht hinein und keuchte halblaut vor sich hin: Tapete ... Tapete ... Tapete ...

Nun stand er vor dem Hause, in dem er wohnte. Er sah unwillkürlich zu seinen Fenstern hinauf. Oben war Licht.

Adam schrak zusammen. Wer war da oben? Wer war in seinem Zimmer? Wer erwartete ihn da? Wer? Wer? Wer? Wer lauerte auf ihn? Ah! Das Unglück! Jawohl, das Unglück, das er schon den ganzen Abend über geahnt hatte! Oder der Tod? Oder der Wahnsinn? Wer saß da hinter diesen blaßerleuchteten Scheiben ... auf einem Fauteuil ... auf dem Sopha ... irgendwo in seinem Zimmer –? Wer kauerte unter dem Tische, auf dem Teppich? Wer? Wer? Wer –?

Aber es konnte ja nicht sein. Es war eine[416] Täuschung. Er schlich sich über den Fahrdamm, leise, ganz leise, als ob ihn Keiner hören sollte ... auch jener Unbekannte nicht, der da oben hinter den blaßerleuchteten Scheiben saß, auch jener unbekannte Gast nicht ... und schaute noch einmal empor. Aber der matte falbe Lichtschein blieb, er blieb, in derselben discreten Stärke, in derselben monotonen Gleichmäßigkeit, er blieb und blieb ... und blieb ... und kein Schatten lief dort oben hinter den Scheiben vorbei ...

Adam athmete tief auf. Er fürchtete sich wohl noch? War er denn ein Mann oder ein schlottriger Bube? Mochte ihn doch dort oben erwarten, wer wollte, wer Lust dazu hatte – ha! er fürchtete sich nicht, gewiß nicht ... er würde jetzt hinaufgehen und sich mit eigenen Augen überzeugen ... und dem Eindringling entgegentreten ... und sich ihm zum Kampfe stellen, wenn's sein mußte – ja! – wenn's sein mußte –

Adams Hände zitterten doch stark, als er das Schlüsselloch suchte. Nun ging er die Treppen in die Höhe, langsam, schwer athmend, immer langsamer, er schleppte sich hinauf, es lag eine dumpfe, schwere, unabwälzbare Furcht auf ihm. Die Heimchen zirpten, auf den Stufen winselten blauschwarze, schwindsüchtige Mondscheinschatten.

Nun stand er auf dem Corridor, dicht vor seiner Thür. Er horchte. Es war Alles still, Alles todtenstill hinter dieser Thür. Nichts regte sich, bewegte sich. Adam athmete schwer. Ein eingekrallter Druck[417] würgte an seiner Kehle. Ha! Fürchtete er sich denn immer noch? Nein! Nein! Er brauchte ja bloß diese Thür aufzureißen ... und er wußte, wer ihn erwartete ... er sah Den, der die Hände nach ihm ausstreckte ... Es war zum Todtlachen! Er fürchtete sich! Und jetzt plötzlich kam ihm der Gedanke an die Tapete wieder, an die Farbe seiner Tapete. Ha! Was ging ihn der an, der da hinter dieser Thür saß und ihn erwartete? Nichts! Nichts! Er wollte ja nur wissen, wie die Tapete in seinem Zimmer aussähe – es war das Einzige, was ihn noch auf der weiten, weiten Welt interessirte – Alles andere war ihm so gleichgültig, so furchtbar gleichgültig – – und wenn der Tod ... und wenn der Wahnsinn ... und wenn irgend ein Unglück mit fletschenden Zähnen hinter dieser Thür saß und auf ihn lauerte – was verschlug's? Ha! War denn das nicht schon der Wahnsinn, diese Wuth, die in ihm brannte und biß und fraß, diese Wuth, die Farbe seiner Tapete, auf die er sich nun einmal nicht besinnen konnte, zu erfassen? War denn das nicht schon der pure, blanke Wahnsinn? Also denn los! Bebend legte Adam die Hand auf die Klinke und riß die Thür auf.

Das Zimmer lag in stillem Frieden. Auf dem Tische brannte ruhig die Lampe. Auf dem Sopha saß Emmy. Sie war gegen die Lehne zurückgesunken und schlief. Langsam und ruhig, tief, sicher, gesund ging ihr Athem. Auf dem Tische lag ein aufgeschlagenes Buch.[418]

Adam zog die Thür mechanisch hinter sich zu und blieb dicht an der Schwelle stehen. Mit großen, starren Augen schaute er auf die friedliche Idylle hin, die in klaren Linien, in scharfer Plastik vor ihm lag. Ein Fenster war offen, ein warmer Nachthauch säuselte flüsternd herein, leise knisterte das Licht der Lampe.

Adam athmete tief auf. Er nahm den Hut ab und fuhr sich mit der linken Hand über Augen und Stirn. Es war ihm, als glitte Etwas von ihm nieder, fiele von ihm ab, er glaubte, eine wirkliche, gegenständliche Erleichterung zu verspüren, er war physisch entlastet, er fühlte sich plötzlich freier und beweglicher, seine Glieder waren flüssiger geworden. Der Spuk, vor dem er sich wie ein unmündiger Knabe gefürchtet, vor dem er gezittert, war zerronnen, er war gerettet. Ein unendlich wohlthuendes Gefühl der Geborgenheit kam über den Gefolterten und Abgehetzten.

Adam stand immer noch dicht an der Schwelle. Unwillkürlich scheute er sich, durch das Zimmer zu gehen, er wollte Emmy, die tief und fest zu schlafen schien, nicht aufwecken, er sog sich fest an dem Bilde, das sein Auge schaute, sog sich fest mit der heißen, intimen, ungestümen Dankesinbrunst des Geretteten. Er fürchtete, durch einen lauten, zu lauten Schritt die holde Phantasie zu verscheuchen – und dann, das wußte er, war er ja wieder ihr verfallen, der zerschnürenden Furcht – und ihm, dem zerwühlenden Wahnsinn. Nun wurde Emmy unruhig.[419] Das in ihre Umgebung neu eingetretene Moment lockerte wohl die Decke ihres Schlafes. Ihr Kopf rutschte einige Male, wie suchend, wie in der Absicht, sich zu entwirren und sich einem anderen, dem wirklichen Leben wieder anzupassen, hin und her, der Mund, der vorher ein klein Wenig geöffnet gewesen, schloß sich, nun schlug sie die Augen auf, noch einmal fielen die Lider nieder, jetzt wurden sie abermals mit jähem Rucke emporgezogen, die weit geöffneten Augen starrten Adam wie eine fremde, unheimliche Erscheinung an. Das Weib schnellte empor, sank wieder zurück –: »Adam! – Mein Gott! Ich habe wohl geschlafen –? Aber Du bist lange geblieben –! – Wo bin ich denn nur –? –«

»Bei mir, Emmy – und ich danke Dir, daß Du hier bist –« Das hatte Adam in fast feierlichem Tone gesprochen. Er war mit steifen, correcten Schritten durch das Zimmer geschritten, als wäre er zum Automaten eingedrillt. Emmys Blicke waren erstaunt seiner Curve gefolgt. Es lag ein stummer Schrecken, der sich nur noch nicht ordentlich hervorwagte, in ihren Augen.

»Ich habe lange auf Dich gewartet –« begann sie leise, zaghaft – »sei mir nicht böse, Adam – nachher bin ich wohl eingeschlafen – ich hatte erst gelesen – aber ich hatte keine Ruhe mehr – Du hättest doch 'mal zu mir kommen können, Du Böser –«

Adam stieß ein rauhes, gezacktes, blechernes Lachen aus: »Ah! zur Mätresse dieses – dieses[420] – na! wie heißt denn der Bengel –? – also na ja! – Was? hä! das wäre famos gewesen! ... Da mußt Du Dir aber andere Liebhaber aussuchen, Zerlinchen! ... Ich bin zu gut für so 'ne verfluchte Hurenbagage, wie Ihr alle zusammen – –«

»Adam! Mein Gott! was ist Dir denn–? Ist Dir was passirt –? Und was starrst Du denn die Tapete so an? Mein Gott! Das ist ja furchtbar – Du bist ja – – Adam –!«

Emmy war aufgesprungen und stand jetzt zwischen der einen Sophalehne und dem Tische. Sie war blaß geworden, zitterte und mußte sich rechts und links mit den Händen festhalten.

Aus der Tiefe des Zimmers schlich Adam auf den Zehen der Wand zu. Der Leib war vornübergebeugt, der Kopf zwischen die Schultern gezogen, die ganze Gestalt trug die krampfhafte Gespanntheit eines Irrsinnigen. Zufällig war sein Blick vorhin auf die Tapete über dem Sopha gefallen, war einen Moment dort haften geblieben. Und da war die Erinnerung aufgezuckt und hatte ihm den Gedanken zurückgebracht, der ihn auf seiner Irrfahrt so müde gehetzt. Ha! das war's ja! Das hatte er ja wissen wollen – alles Andere – die Furcht vor dem dunklen Etwas, das da oben auf ihn lauerte, war ja nichts gewesen – nichts – nichts – gar nichts – gegenüber dieser fürchterlichen Neugier auf die Farbe seiner Tapete ... Und nun hatte er die Tapete vor sich. Ha! Die Bestie konnte ihm nun nicht mehr entschlüpfen, er würde[421] sie schon kriegen – ha! jetzt mußte sie Farbe bekennen – jetzt war sie geliefert! – Nichts half ihr mehr – nichts –! –

Emmy wollte sich Adam entgegen werfen. Er schleuderte sie auf die Seite und stürzte sich auf die Wand. Mit geballten Fäusten trommelte er wie ein Verrückter auf der Tapete herum, daß es verschlucktdumpf von der Steinmauer widertönte, er krallte die Fingernägel ein und kratzte gerippte Fetzen herunter. Seine Hände schmerzten ihm nicht, seine Augen waren weit aufgerissen und brannten in unstäter Flamme. »Ha! Also diese dummen, lehmgelben Fratzen hast du, Bestie – und drunter ein so blödes, schauderhaftes Grau – ha! wie diese schönen gelben Blätter und Ranken – und – und die kleinen niedlichen Figürchen – – na ja! – na ja! – – hahaha – ach! – diese Mätzchen – hähähä – diese Mätzchen – und – und ... d– d– d– da – b ... b ... bildet sich – bildet sich ... hähähä ... es ist zum Todtschreien – Todtschreien – Todtschreien – Todtschreien – zum Todtschreien! – na ja! na ja! – denke du – du Weib! – Weib! – Weib! nun denke 'mal: da bilden – bilden sich diese bezechten Ara – arab ... b ... b ... b ... besten noch was druf in – zu dumm! – zu dumm! – und das ist also das Ganze – ach! ach – mir ist grenzenlos elend ums Herz – das ... das Denken hat sie mir verbrannt – die verfluchte Bestie – und nun ist's wieder 'mal nischt – nischt – gar nischt – –[422] – ab – so – lut nischt! Ach! Ist das langweilig – –«

Adam sickerte sich aus, verstummte nun, schob stöhnend die Arme über einander, preßte sie taumelnd gegen die Wand und legte den Kopf darauf, als wäre er müde, todtmüde, als wollte er von all dem elenden, verwirrenden Lebenskram nichts mehr hören und sehen –

Emmy hatte sich gefaßt. Zuerst war sie von einer lähmenden Furcht befallen worden. Die Worte waren ihr im Munde stecken geblieben, sie hatte diese Scene eines unzweifelhaften Irrsinns nicht unterbrechen können. Nun raffte sie sich auf – wie gut war es doch, daß sie hier war, daß sie ihrem Drange, Adam zu sehen und zu sprechen, ob er sie gestern auch impertinent genug behandelt hatte, doch noch nachgegeben! Sie zuckte zusammen bei dem Gedanken, wie furchtbar es gewesen wäre, würde Adam heute allein, sich selbst überlassen geblieben sein. Leise trat sie zu ihm hin: »– Komm, Adam! Sei wieder gut! Du bist krank – Du hast Fieber – was geht Dich die dumme Tapete an! Komm! Setz' Dich hierher aufs Sopha – komm! – neben mich ... Du bist so heiß – soll ich Dir kalte Umschläge machen –? Du wirst sehen: es wird bald besser werden, wenn Du Dich nur ruhig hältst ... Und siehst Du: ich bleibe bei Dir – ja –? Willst Du –?«

Sie hatte den Kranken sanft bei den Armen gefaßt und aufs Sopha gezogen. Müde, ganz entkräftet[423] und haltlos lehnte Adam das Haupt zurück. Er schloß die Augen. Er fühlte sich unsäglich elend, er hätte weinen mögen, nun schluchzte er leise auf. Und doch war es ihm ein liebes, stilles Trostgefühl, daß Emmy in seiner Nähe war.

Die hatte das Fenster geschlossen und die Vorhänge zusammengezogen. Nun ging sie nach dem Schlafzimmer hinüber und suchte nach Leinen für die kalten Umschläge. Sie kam mit dem Waschbecken zurück, rückte einen Stuhl neben das Sopha und begann ihr Liebeswerk. Die »Sünderin« war zur Samariterin geworden.

Allmählich wurde Adam ruhiger, das unendlich wohlthuende Gefühl der Geborgenheit kam wieder über ihn. Er träumte leise vor sich hin, schlief wohl öfter auch einmal eine kleine Weile, dann sickerte er wieder zum Leben, zum annähernden Begreifen seiner momentanen Lage zurück. Einmal flüsterte er »Leni« vor sich hin. Emmy hatte sich neben ihn gesetzt, sie sah ihn mit ihren großen, dunklen Augen traurig an, manchmal strich sie leise, liebkosend mit ihrer kleinen, glatten, kühlen Hand über seine Stirn oder ließ diese kleine, feste, kühle Hand seiner Hand, die immer wieder nach ihr suchte ... Die liebe Trösterin hatte das Buch wieder vorgenommen und las ab und zu ein paar Zeilen. Oefter blinzelte sie Adam von seiner verdämmerten Sophaecke aus an und genoß mit leisem Behagen die hellen, klaren Linien ihres schönen Profils. Da sie ihn alle verlassen hatten, war ihm[424] die »Sünderin« treu geblieben. Nun tickte es ihn aber doch nieder, verhalten war ihm der arge Gedanke gekommen, er konnte ihn nicht unterdrücken, nicht hinunterschlucken, mit einem matten, ironischen Lächeln begann er: »Du bist wohl eigentlich gekommen, Emmy – – Du hast wohl gedacht – – ja! siehst Du – dazu bin ich heute nun doch zu schwach – haha – ich – ich – na! warte nur – wir holen's nach, mein Liebchen –«

»Aber Adam –! Was fällt Dir ein –!«

»Nu ja! Gestern habe ich Dich doch so quasi 'rausgeschmissen – und heute kommst Du – aber es ist doch brav von Dir, Du armes, verrathenes Kind – brav – na warte! – morgen – morgen – –«

»Sei still, Adam! Thu' mir den Gefallen! Wir reden morgen davon ... Aber willst Du nicht lieber zu Bett gehen –? Hier kannst Du doch nicht bleiben ... Ja? – Komm! Ich führe Dich hinüber ... Nachher rücke ich mir 'n Sessel neben Dein Bett und wache bei Dir ... Das ist das Beste – komm!«

Adam gab nach. Es war ihm auch so gleichgültig, was mit ihm geschah. Emmy brachte ihn zu Bett. Sie war um ihn herum, wie eine Mutter, die ihr krankes Kind wartet und pflegt und besorgt in sichere Hut birgt. Mit feiner Discretion, mit tactvollster Gewandtheit brachte sie den Erschöpften auf sein Lager zur Ruhe. Dann zog sie einen Fauteuil neben sein Bett und setzte sich zu ihm. Leise[425] küßte sie ihn auf die Stirn und gab seinen heißen, schweißigen, teigigen Fingern ihre kleine, glatte, kühle, feste Hand zurück. »Nun schlaf' süß, Geliebter, und träume von mir –« flüsterte sie ihm leise zu und fühlte, wie sie erröthete. Wie gut war es, daß er sie nicht sah und nicht dieses Erröthen bemerkte! Adam lächelte matt. Schon zogen die letzten verworrenen Tagesgedanken von ihm. Bald war er eingeschlafen. Leise entzog sie ihm ihre Hand und lehnte sich zurück. Allerlei buntes Zeug schwirrte und flog noch durch ihren Kopf, sie starrte noch eine Weile vor sich hin in die dämmrige Nacht. Dann fielen auch ihr die Augen zu. –

Draußen huschten die ersten, scheuen Frühlichter über den Horizont. –

Quelle:
Hermann Conradi: Adam Mensch. Leipzig [1889], S. 373-426.
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