[21] Hedwig Irmer war die drei Treppen zu ihrer Wohnung langsam emporgestiegen. Sie hatte beim Hinaufgehen öfter inne halten, öfter stehen bleiben und Athem schöpfen müssen. Was war ihr nur? Es lag ein Druck auf ihr, den sie sich nicht erklären konnte. Schreckte sie auf einmal zurück vor der Enge, Einförmigkeit und Kärglichkeit der Existenz, die sie mit ihrem halb gelähmten, halb blinden, schwerhörigen Vater führte? Nun schon seit Jahr und Tag führte? Sie kam wieder einmal draußen aus der Welt. Wohl war sie im Grunde sehr gleichgültig durch diese sie umflirrende Welt gegangen. Sie besaß nicht das Talent, sich in die Herzen der Menschen hineinzudenken. Sie hatte nicht das Bedürfniß, hinter jeder Gesichtsmaske ein Schicksal zu suchen. Sie dachte an die Menschen eigentlich kaum, sie dachte kaum an sich, sie lebte nur auf, bestätigte sich nur, wenn sie mit ihrem Vater in intim-wissenschaftlichen, zumeist philosophischen Verkehr trat. Eine tiefere Tendenz ihrer Natur stellte dieses ernste Studium allerdings auch nicht dar. Sie mußte sich oft zwingen, zu den Büchern zu greifen, wenn nicht eine[22] unmittelbare Anregung dazu von ihrem Vater vorausgegangen war. Alle diese Weisheiten der modernen Philosophie waren ihr ja so gleichgültig. Die Stürme ihrer Seele waren vorüber. Ihr Blut war todt. Grenzenlos nüchtern und kahl lag das Leben vor ihr ... eine große, öde, handflache Ebene ... lag es vor ihr ... würde es vor ihr liegen, weiter und weiter – wenn sie es nicht eines Tages freiwillig ausblies ... lag es vor ihr mit seinem kleinlichen Kampf ums Dasein, seinen erbärmlichen Mühen und Sorgen, seinem reizlosen, einförmigen, so unendlich überflüssigen Wellenschlage ... Immer dieselbe Mechanik, immer dasselbe einschläfernde Surren der Spindel ... Hatte ihr die Philosophie ihres Vaters diese Ruhe und Kälte und Theilnahmlosigkeit gebracht? Damals, als sich die Wasser der Katastrophe verlaufen, hatte er sie eingeführt in seine Gedankenwelt, in seine philosophischen Glaubenssätze ... hatte er ihr Stille und Trost durch die Erkenntniß bringen wollen. Nun – und? Darüber waren fast fünf Jahre hingegangen. Die Stürme ihrer Seele waren vorüber, ihr Blut war todt, ihre Natur eingefroren. Manchmal wohl ... manchmal raschelte plötzlich ein heißer, schwüler Sehnsuchtshauch durch die dürren Blätter der Resignationsphilosophie, in der ihr Vater lebte und deren Resultate auch ihr einleuchten mußten. Aber sie konstatirte eigentlich diese Resultate nur vernunftsmäßig, sie besaß nicht Grund und Bedürfniß, sich dieselben verinnerlicht zuzueignen.
Hedwig hatte auf dem schmalen, engen, von[23] einer blakenden Küchenlampe mit angebrochenem Cylinder nothdürftig erhellten Corridor Hut und Mantel abgelegt, war eine Sekunde vor einem kleinen, schmucklosen, halb erblindeten Wandspiegel stehen geblieben, hatte flüchtig an ihrem Haar geordnet ... und war sodann durch die nächste Thür in ein Zimmer eingetreten, welches sich als Wohnzimmer zugleich und Arbeitsgemach ihres Vaters benahm. Der Raum, mittelgroß, einigermaßen behaglich eingerichtet, augenblicklich von einer milden Wärme durchfüllt. Rechts hinten in der Ecke, neben dem jetzt rouleaux- und teppichverhangenen Fenster, stand der Schreibtisch ihres Vaters, ein ansehnliches, massiveichenes Gestell, nach Einrichtung und Ausstattung mit dem ganzen Wirrwarr behaftet, den eine starke geistige Thätigkeit, welche für die kleinliche Krämerordnung der Dinge keine Zeit hat, herausfordert und bestehen läßt. Rechts vom Schreibtisch drückte sich ein hohes Bücherregal an die Wand, in dessen Fächern es auch recht bunt aussah. Fräulein Hedwig besaß entschieden wenig Sinn für häusliche Ordnung.
In seinem Sessel vor dem Schreibtisch sitzt Doctor Leonhard Irmer. Er hat sich zurückgelehnt, der Kopf hängt ein Wenig der Brust zu, die Arme liegen auf den Lehnen des Sessels. Die Augen zumeist halb geschlossen, blinzelnd, öfter ganz überlidert. Das gedämpfte Licht der mit einem grünen Schirm bedeckten Lampe fällt auf sein Gesicht. Dieses Gesicht hat einen großen, fesselnden Zug, einen außergewöhnlichen Stil. Leidend, sehr leidend erscheint[24] es mit seiner mehr krankhaft weißen, denn verschossen angeröthelten Farbe. Stirn gefurcht, um Nase und Mund pointirte Schmerzensfalten. Hinter dieser hohen Stirn ist viel gedacht worden, diese Unterpartie des Gesichts hat sich wohl oft genug für ein bitteres, ironisches Lächeln hergeben müssen. Ein gestutzter, weißgrauer Bart liegt um Kinn und Wangen. Das spärliche Kopfhaar vertheilt sich in einigen dünnen, sprödfasrigen Strähnen über die Platte.
»Guten Abend, lieber Papa!« Hedwig begrüßt ihren Vater mit angenommener Munterkeit.
»Guten Abend, mein Kind! Du bist recht lange heute ...« Herr Doctor Irmer spricht langsam, schleppend, halblaut, undeutlich. Mehr mit den Lippen, denn mit dem inneren Munde.
»Findest Du, Papa? Ich bin etwas langsam gegangen – mag sein! Hier ist die Volkszeitung. Soll ich Dir jetzt vorlesen oder nach Tisch? Das Buch von Dühring war nicht vorräthig. Ich habe es bestellt. In acht Tagen werden wir's haben. Brauchst Du's zu irgend einer Arbeit? ...«
Der Vater schüttelt den Kopf.
»Na! dann schadet's ja nichts! Dann können wir ja warten. Emma holt wohl ein zum Abendbrot? Schmerzt der Kopf noch so, Papa? Wenn Du Dich nur entschließen könntest, wieder einmal eine Straße zu gehen – die ewige Stubenluft thut Dir nicht gut –«
»Morgen vielleicht ... morgen, Hedwig ... Ich möchte Dir eigentlich noch vor Tisch ... vor Tisch[25] einige Zeilen dictieren – willst Du ... ja? ... Du weißt: zu dem Aufsatze ›Poesie und Philosophie in ihrem gegenseitigen Verhältniß‹ – aber nachher – nachher stört uns doch das Essen wieder – – was steht denn heute in der Volkszeitung ...?«
Hedwig rückt sich einen Stuhl neben den Sessel ihres Vaters, faltet die Zeitung auseinander und liest zuerst die Telegramme.
Vater und Tochter haben mit der Zeit ein eigenthümliches Verhältniß zu einander gefunden.
Irmer ist ein hoher Fünfziger, Hedwig dreiundzwanzig Jahre alt. Sie hat sich, allerdings mit einer gewissen Aeußerlichkeit, in die Anschauungen ihres Vaters eingelebt, sie hat es gelernt, sich seinen Gewohnheiten zu fügen. Sie ist seine Gehilfin, seine Schülerin, seine einzige, zuverlässige Lebensstütze geworden. Die Stürme ihrer Seele sind vorüber, ihr Blut ist todt, sie braucht sich nicht mehr zu bezwingen, sie kann alles mechanisch, alles hübsch automatenhaft bewältigen. Ihr Vater fragt nicht viel darnach, ob sie sich zur gläubigen, wirklich überzeugten Anhängerin entwickelt. Er besitzt den Egoismus des Kranken, des Leidenden, des Hülflosen. Er lebt ganz in der Welt seiner Gedanken. Die andere Welt, der Mutterboden der geistigen, dünkt ihn so ziemlich verschollen. Die Sphäre der Idee hat für ihn fast etwas Körperliches, formell Reales angenommen. Er sinnt über die Räthsel der Dinge nach. Er sieht, denkt, träumt, visionirt, combinirt, gewinnt. Nichts ist ihm das Individuum mehr.[26] Nicht reizt es ihn mehr, individuelle Entdeckungen zu machen. Damit hat er abgeschlossen. Ob er auch schon über die Tendenz der Selbsterkenntniß hinausgekommen? Kaum. Er wird auch noch nicht wissen, wer er ist.
Hedwig hat keine Neigung, sich über ihren Vater zu wundern. Sie hat eben überhaupt keine Neigungen mehr. Liebt sie ihren Vater? Er erhält sie, sie darf bei ihm wohnen, zusammenwohnen mit ihm in den wenigen, engen Räumen, für die er den Miethszins nothdürftig zusammenarbeitet. Ein paar Heller sind ihnen noch aus früheren, volleren, runderen Zeiten geblieben. Die beiden Leute kommen einigermaßen aus. Hedwig kann sich sogar noch ein »Dienstmädchen« halten.
Es ist ein farbloses, eintöniges Leben, das sie lebt. Wird es ihr öfter nicht doch zu Sinn, als müßte sie aufspringen, einmal laut ... laut aufschreien – aufschreien, wie Jesus, ehe er am Kreuze verreckte – und dann hinausstürzen aus dieser lähmenden Enge – irgendwohin – irgend Etwas, von dem sie sich beängstigend-unklar bezwungen fühlt, befriedigen –? In dieser dämonischen Oscillation sich ausleben? ... Wird es ihr also nicht öfter doch zu Sinn? Nein! Sie kann sich nicht erinnern, von solchen elementaren Erschütterungen heimgesucht zu sein. Vielleicht dann und wann einmal ein jähes Aufzucken – mehr war's nicht – nein! mehr nicht. Manchmal sagt sie sich ganz klar und vernunftsmäßig: dies und das im Leben müßte doch eigentlich auch für mich noch[27] einen Reiz besitzen, da es doch Millionen Andere auch reizt – in irgend einem Stärkegrade reizt –? Hm! Das Theater! Die Musik! Geht nicht durch die Träume ihrer Nächte manchmal ein Schatten, der ihr in die Seele prickelt? Ist die Luft nur voll von Stecknadeln? Da sitzt ein Stück comprimirten Lebens vor ihr – ihr Vater. Ein Menschenalter liegt hinter ihm. Von allen Seiten ist das Leben zu ihm herangekommen. Der nun Einsame besaß einmal tausend Beziehungen. So viel verrauscht, so viel vergilbt, vergessen, verschleppt und verloren! Freut sie sich nicht doch darüber, wenn ihr manchmal unter ihres Vaters Anleitung und Führung ein Gedanke tiefer Eigenthum wird, eine Erkenntniß ihr in schärferen Linien aufgeht? So sonderbar ist ihr dann und wann. Etwas in klarer Grenzbestimmung erfassen, macht ihr zeitweilig doch eine Art Spaß, so etwas wie Vergnügen. Sie weiß: darüber vergißt man sich am Besten und Leichtesten. Aber sie weiß auch: Stimmungen sind Blasen, die aufsteigen, sich eine Sekunde lang irisfarben brüsten und zerplatzen. Unhemmbar rollt der Grundstrom weiter. Zu der und der Grundcombination haben sich die Moleküle ihres Wesens zusammengeschlossen. Sie bleibt, diese Combination; sie bestimmt ihr Leben. Von ihr wird sie in Gedanken, Wort und That geleitet. Eine »Bekehrung«, eine entscheidende Beeinflussung ist nicht mehr möglich. Das Schicksal vollzieht sich. Hedwig weiß, daß ihr einmal eine überschäumende Leidenschaft aus[28] der Brust gebrochen. Vor Jahren. Sind neue Ausbrüche möglich? Aber Nichts stört ja ihre Kreise. Sie war einmal ein sehr sinnliches Weib. Wie nüchtern sie bleibt, wenn sie jetzt an ihre »Schmach« denkt, wenn sie sich ihres Kindes erinnert! Wie kalt sie bleibt, wenn es ihr einfällt, daß dieses Kind ihr entrissen worden ist! Sie hat es nicht geliebt. Nein! Sie hat es nicht geliebt. Sie haßt auch den Vater des Kindes nicht. Es ist ihr wirklich Alles gleichgültig, sehr gleichgültig. Die Stürme ihrer Seele sind vorüber und ihr Blut ist todt.
Hedwig ist bei dem Verzehren ihrer Sardellenleberwurst und bei dem Hinunternippen ihres Glases Dresdener Tafelbiers sehr schweigsam gewesen. Sie hat ihrem Vater die Bissen zurechtgeschnitten und selbst sehr mechanisch die Speisen zu sich genommen. Nun streicht sie sich mit der Serviette über den kleinen, feinlippigen Mund und schellt. Emma tritt ein und deckt ab. Herrn Doctor Irmer ist es nicht aufgefallen, daß seine Tochter während des Essens so verschlossen gewesen. Ihm ist es sehr gleichgültig, was für Selbstbetrachtungen sie anstellt. Er ist, ohne daß er es eigentlich weiß, so verbissen in seine Art, geistig abgelöst, hinweggesondert, zu existiren, daß er kaum mehr im Stande, die leichteste Spur eines subjektiven Zwiespalts zu vermuthen. Wenn es ihm gerade einfällt, bestätigt er sich, daß er durch seine Philosophie seiner Tochter das innere Gleichgewicht, das sie einmal verloren hatte, wiedergegeben. Und er fügt wohl unwillkürlich noch als Ergebniß[29] hinzu, daß Hedwig schon in ihrer Jugend durch ein gewaltiges Wetter gehen mußte, um früh zu Erkenntnissen kommen zu können, die er sich erst in späteren Jahren zueignen durfte. So läßt sich denn aus All' und Jedem etwas Zweckmäßiges und individuell Verwendbares herausdenken.
In den nächsten Stunden liest Hedwig ihrem Vater einige Kapitel aus Hartmanns »Phaenomenologie des sittlichen Bewußtseins« vor. –
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