Vierundzwanzigstes Kapitel:

Das vielleicht nicht jedermann verstehen wird

[110] Mein Großvater war der Große Genius Kohlschrötero; meinen Vater habe ich nie kennengelernt. Die Fee Chingara, meine Mutter, wollte mir nie sagen, wer er sei. Ob sie ihn nun nicht mit Zuverlässigkeit angeben konnte, oder ob sie sich ihrer Wahl schämte, kann ich nicht bestimmen. Denn es geschieht nicht immer, um sich den Anschein der Züchtigkeit zu geben, daß die Frauenzimmer ihre Liebesabenteuer nicht eingestehen, es scheint, daß, wenn der Eitelkeit durch den Stand des Liebhabers geschmeichelt wird, die Tugend weniger dabei verliert. Man machte sich in meiner Kindheit viele Hoffnungen von mir. Ich muß Euch einige Züge daraus erzählen. Ich war noch nicht vier Jahre alt ...

Könntet Ihr Eure Geschichte nicht noch ein wenig früher anfangen? unterbrach sie Tanzai. Nun ja, Ihr seid unstreitig in Eurer Kindheit recht hübsch gewesen; doch laßt uns auf die Zeit kommen, wo Euer Aussehen Euch von Nutzen war.

Gern, gern, versetzte der Maulwurf. Man nennt mich Zwickelbart, weil ich in meiner natürlichen Gestalt einen sehr langen Bart eben der genannten Art unter der linken Backe habe. Barbacela, meine nahe Anverwandte und Pate, wollte mich schlechterdings erziehen, und Chingara willigte um so lieber darein, weil mein Pate, wie sie wußte, nicht nur eine gute Erziehung zu geben imstande war, sondern weil sie dadurch ein Mädchen von sich entfernte, das ihre Reize in der Folge hätte verdunkeln können.

Barbacela trug mich nach der Insel Tändelholm, wovon sie Beherrscherin ist. Unstreitig findet man unter keinem Himmelsstrich weniger Nebel als unter dem dortigen. Die Mannspersonen beschäftigen sich daselbst nur mit Scharaden[111] und Vaudevillen machen. Die Frauenzimmer haben nichts anderes zu tun, als zu gefallen. Trüge es sich zu, daß eine von ihnen, von einem Liebhaber verfolgt, den dort üblichen Anstand so sehr vergäße und bloß das Wort Tugend ausspräche, so würde sie auf ein Jahr aus aller Gesellschaft verbannt werden. Ich will aber damit nicht sagen, daß man immer gleich zu einer Einigung käme. Der Widerstand dauert wenigstens zwei Tage, und wir haben wenige Frauenzimmer gesehen, die sich eher ergeben hätten. Bei Hofe ist dies indessen nicht ohne Beispiel.

Diese Sitten scheinen Euch sonderbar, aber Ihr habt unrecht. Ein Frauenzimmer von denen, die man bei Euch tugendhaft nennt, läßt Euch einen Monat durch auf die Schäferstunde warten. Ein langer Termin! Und am Ende, was gibt sie Euch mehr, als was eine andere, die nicht so mit Zucht und Ehrbarkeit prunkt, Euch gleich anfänglich gewährt? Ihr seht, es kommt auf eins hinaus; die Leidenschaft wird zum Schluß doch den Sieg davontragen. Durch alle die gekünstelten abschlägigen Antworten, die ein Frauenzimmer erteilt, erblickt man ihre Niederlage immer im Hintergrund; sie mag beschleunigt oder verzögert werden, endlich kommt sie doch gewiß, allein die Imagination ist ihr vorausgeeilt, und man hat die Begierden gut beim Ohre zupfen, sie wachen kaum auf; und fügte es sich doch, so wird das Vergnügen, dem sie aus zu großer Ferne winken, sich entweder nicht zur rechten Zeit einstellen oder macht sich auch daraus nichts, gar nicht zu kommen. Die Tugend ist weiter nichts als eine Salbaderin, die Euch um kostbare Zeit zu bringen sucht, und wenn sie die Liebe vertrieben zu haben wähnt ...

Wiederholt doch ein wenig, was Ihr soeben gesagt habt, unterbrach sie Tanzai. Ich will sterben, wenn ich davon eine Silbe verstanden habe. Was für eine Sprache sprecht Ihr da? – Die auf der Insel Tändelholm gewöhnliche, erwiderte[112] der Maulwurf. – Wenn Ihr die meinige reden könntet, entgegnete der Prinz, so würdet Ihr mir ein Vergnügen erzeigen. Wie macht Ihr's denn, daß Ihr Euch selbst versteht? – Ich suche mich zu erraten, antwortete der Maulwurf. Doch laßt mich fortfahren. Ich weiß wahrlich nicht mehr, wo ich stehengeblieben bin. – Da, wo die Tugend salbadert, nahm Neadarne das Wort. – Nicht doch, sagte die Zwickelbart, das war nur eine Bemerkung. – So weiß ich denn nicht mehr, welches die Geschichte war ... Ah! Ihr bliebt bei den Frauenzimmern stehen, die sich auf der Stelle ergeben.

Meine Pate, fuhr der Maulwurf fort, erzog mich in den Sitten des Landes, und ich begann bereits zu wissen, was mein Gesicht wert war, als ich aus der Kindheit trat. Vor einem gewissen Alter sieht man sich, ohne sich in gehörigen Augenschein zu nehmen; studiert man seine Reize nicht, weiß man nicht, was sie wert sind, ist ihr Besitz für uns wie gar nicht vorhanden; das erste Verlangen, sie auf die Probe zu stellen, enthüllt sie unseren Blicken; alsdann erst fängt man an, sich Vorstellungen zu machen. Ohne die Männer würde ein Frauenzimmer schön sein, ohne es zu wissen, ohne es zu mutmaßen.

Ich fand meine Bildung leidlich, als der Genius Schonkilje auf unsere Insel kam. Ich war lebhaft, anziehend, und meine Schönheit war sozusagen mit Koketterie gepaart. Schonkilje faßte die lebhafteste Leidenschaft für mich, allein der Prinz der Scholuchernen, der eine halbe Stunde vor ihm gekommen war, hatte mich gesehen, ins Auge gefaßt und mich erschüttert. In der Liebe hängt alles oft von einer Sekunde ab. Der Genius wußte nicht, daß er zu spät ge kommen war. Ich ward mit Widerwillen seiner Leidenschaft gewahr, und diese Entdeckung nötigte mich, die meinige zu verbergen. Da man meine Liebe für Scholuchern nicht kannte, erstaunte man über die Gleichgültigkeit, die ich[113] gegen den Genius äußerte. Umsonst bediente er sich aller seiner Annehmlichkeiten, umsonst waren seine Seufzer. Die ganze Gerechtigkeit, die ich ihm widerfahren ließ, bestand bloß in Achtung, und das ist eine zu wenig auszeichnende Empfindung für jemand, der sich geschmeichelt hat, lebhaftere Gefühle einzuflößen.

Die glänzendsten Festlichkeiten, die prächtigsten Geschenke, die unterwürfigsten Dienstbeflissenheiten, die schüchternste Ehrerbietung waren die Waffen, deren er sich bediente, meine Strenge zu besiegen. Ich verstellte mich lange gegen ihn. Ich wußte, daß mein Geliebter von seinem Zorn alles zu fürchten hatte, wenn Schonkilje ihn als seinen Nebenbuhler erkannte. Demnach begnügte ich mich, Scholuchernen insgeheim zu sprechen und ihm die liebevollen Bewerbungen und die Geschenke des Genius zum Opfer zu bringen. Ich habe seitdem erfahren, daß dieser Gebrauch nicht neu ist, und daß man dasjenige, was man von dem reichen Liebhaber bekommt, zur Erkaufung desjenigen anwendet, der unser Herz getroffen hat. Mir war um so mehr bange, der Genius möchte gegen Scholuchern einen Verdacht hegen, als er an unserem Hofe der einzige Mann war, der meine Blicke auf sich zu ziehen verdiente. Einen schöneren Tänzer als ihn gibt es auf der Welt nicht. Niemand machte mit mehr Anstand eine Reverenz. Er spielte alle Spiele des Geistes sowohl als des Körpers gar vorzüglich, vom Gänsespiel an bis zum Ballon, erriet alle Rätsel und Scharaden und gab selbst die verwickeltsten auf. Seinem schalkhaften Witze, der nicht nur einzelne Personen, sondern auch die meisten Gerichtskollegien seines Landes, ja selbst auswärtige Reiche aufs stärkste zu turlupinieren wußte, hat man das berühmte Rätsel von dem fußlangen Dinge zu danken, das bellt wie ein Hund und wie eine Katze miaut und dabei doch gar herrlich singt; ein Rätsel, das in Pithäkonion, wo es erschien, weit stärkere Sensation machte als irgendein anderes verdrehtes Zeug, mit dessen[114] Auslegung gegen reichliche Belohnung von allen Enden und Orten Bonzenjünger und Schmiede, Kaufleute und Schuster, Steuereinnehmer und Drehorgelbauer, Müllertöchter und Bonzen die dortige Akademie der Wissenschaften wütend bestürmten, und welches man trotz seiner argen Ungereimtheit den größten Dichtern und Gelehrten des Landes beimaß, wo Scholuchern es so listig auszustreuen Mittel gefunden hatte.

Was nun die Gestalt des Prinzen anlangt, so war sie bezaubernd schön und, wenn man so sagen darf, in die seltensten Annehmlichkeiten gewickelt. Er begleitete alle musikalischen Instrumente mit einer Stimme, die alle bezauberte.

Spielt er die Leier gut? unterbrach Tanzai mit Ungestüm die Erzählerin. – Es war eins seiner Lieblingsinstrumente. – Um so besser, entgegnete der Prinz; es gibt auch kein vortrefflicheres Instrument. Doch fahrt in Eurer Erzählung fort, jetzt nehm ich an Eurem Prinzen vielen Anteil.

Außer den Talenten, die ich eben hererzählt habe, fuhr sie fort, machte er artige Liederchen. Seine aufgeweckte Unterhaltung befriedigte ebensosehr durch ihre Annehmlichkeiten, als seine ernste durch Gründlichkeit. Streng bei den Prüden, frei bei den Koketten, sanft schwärmend bei den Zärtlichen, war keine Dame bei Hofe, deren Wonne er nicht war, keine Mannsperson, deren Eifersucht er nicht regegemacht hätte. Die Überlegenheit seines Geistes machte ihn nicht ungesellig, nachgiebig mit Feinheit, wußte er sich in alles zu schmiegen.

Er verstand besser denn irgend jemand die glänzende Sprache unserer Insel. Jedermann war auf dem Gipfel des Entzückens, wenn er sie von ihm hörte, und wiewohl jenes mürrische Wesen, das man gesunden Menschenverstand nennt, nicht immer höflich mit dem verfuhr, was er sagte, so war doch die unwiderstehliche Eleganz seiner Reden Ursache,[115] daß man dabei nichts verlor, oder daß der gesunde Menschen verstand, hinter einer wunderbaren Menge der bestgesetzten Worte versteckt, selbst seinen ungehirntesten Anhängern von der abgeschmacktesten Geschmacklosigkeit vorgekommen sein würde, wofern er weniger luftig gekleidet gewesen wäre.

In der Tat, der Verstand ist ein Werktagsgeschöpf, das sich immer zeigt, wie es ist; stets besorgt, in Aufgeräumtheit ersäuft zu werden, und das nicht ermangelt, zurückzubeben, wenn sich eine sonderbar gewendete Idee zeigt oder ein Lichtgenie sich eines bequemen Platzes im Herzen bemächtigt. Triumphiert er dennoch bei alledem, so geschieht das auf eine der Menschheit so hohnsprechende Weise, daß die besterzogenste Eigenliebe dadurch in Mißkredit kommt, soviel von ihren Annehmlichkeiten verliert, eine so schlechte Meinung von sich faßt, daß es höchst lächerlich wäre, wenn sie nicht ganz geradezu mit ihm bräche.

Der Witz hingegen hat einen mehr geselligen Charakter; sein anständiges Betragen gibt zu erkennen, daß seine Erziehung nicht von Vorurteilen angesteckt worden ist. Was er denkt, gehört nur ihm, hängt mit nichts zusammen, ist ganz isoliert; er schwingt sich leichten Gefieders empor. Was der Verstand hervorbringt, wird durch die Mühe, die es ihn kostet, schwerfällig; was aber die Imagination gebiert, ist kühn. Die Grandezza von jenem schläfert ein, der Mutwille von dieser aber weckt den Schläfrigsten auf. Jenen sieht man lange zuvor die Heerstraße gar feierlich dahergewandelt kommen, diese überrascht ganz unvermutet. Überlegung benimmt das Treffende, ist wahre Dürftigkeit des Geistes, der Deckmantel eines schwachen Kopfs, der immer tiefer zugrunde gerichtet wird, je länger sie ihm schmeichelt. Der Witz, von allem unabhängig, macht seine Operationen ohne alle Berechnungen. Seine immer verführerische Wirkung, die schneller ist als der Blitz, glänzt, setzt in Erstaunen,[116] blendet, nimmt alle Gestalten an, die man will. Sein immer edles, erhabenes Wesen selbst in Tändeleien spricht zum Vorteil seiner Geburt; und der Verstand, der immer als ein ehrlicher Spießbürger neben ihm figuriert, aus Geistesdürre stets schweigt, unterliegt wider seinen Willen und vermehrt durch seine üble Laune den Triumph seines Nebenbuhlers.

Wahrhaftiger Affe! rief der Prinz. – Ach! wie schön ist das, sagte Neadarne, von Vergnügen durchdrungen, wie schön ist das! Ohne unseren Maulwurf würden wir uns bis zum Umkommen gelangweilt haben. – Ich bin entzückt, entgegnete die Zwickelbart, daß meine Ideen bei Euch nicht verlorengehen. Ich habe mir gleich gedacht, daß Euer Geschmack nichts weniger denn kindisch wäre. – Aber kann man wohl, fragte Neadarne, diese Sprache ohne viele Mühe erlernen? Benimmt dies der Indolenz der Ruhe nichts? – Ich, meines Orts, glaube es nicht, versetzte Tanzai, und denke, daß bei der Anlage, die Ihr jetzt zeigt, und bei den Lektionen, die die Zwickelbart Euch geben wird, Ihr bald ebenso superfiziell sprechen werdet wie sie. O wie erbärmlich klein, fuhr er fort, sich eines so ekelhaften Jargons zu bedienen! Stundenlang verweilt Ihr Euch bei Verstand und Witz, ohne weder von dem einen noch dem anderen einen Funken blicken zu lassen. Wenn Ihr in dem Tone Eure Geschichte fortsetzt, so stehe ich nicht dafür, daß ich sie geduldig anhöre. – Laßt ihn schwatzen, unterbrach Neadarne ihren Gemahl; Ihr sprecht über alles, daß es eine Wonne ist. Der Prinz zuckte die Achseln; die Zwickelbart fuhr so fort:

Quelle:
Claude Prosper Jolyot Crébillon: Der Schaumlöffel. Leipzig 1980, S. 110-117.
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