[73] Orgon, Damon.
ORGON. Ich bewundere Sie. Ich weiß nicht, was ich Ihnen antworten soll: aber ich kann nicht thun, was Sie von mir begehren. Durch was hat sich wohl mein Sohn einer so großmüthigen Freundschaft werth machen können?
DAMON. Hat denn Ihr unglücklicher Sohn sich niemals Ihrer väterlichen Liebe werth gemacht? Haben Sie ihn niemals geliebt?
ORGON. Ach! wenn ich ihn nicht allzusehr geliebt hätte: so würde ich jetzt ja nicht so bedaurens- und er nicht so strafenswerth seyn!
DAMON. Und wenn Sie ihn geliebet haben; wenn Sie jemals die Empfindungen eines zärtlichen Vaters, bey dem, was Sie an ihm gefunden, empfunden haben: wie können Sie ihn jetzo so verlassen? Ich leugne nicht, daß er gefehlet hat. Aber ist eine Uebereilung, ist ein Fehler, der aus einer verdorbenen Einbildung herkömmt, nicht zu verzeihen? Es ist ein Fehler, an dem sein Herz bey allem dem keinen Theil hat.
ORGON. Hören Sie auf, ihn zu entschuldigen! Sie mögen sagen, was Sie wollen, sein Herz hat gefehlt, und nicht sein Verstand. Wer glauben kann, daß alle Leute niederträchtig und lasterhaft denken, dessen Gedanken müssen selbst niederträchtig und lasterhaft seyn. Er muß sich des Verbrechens fähig finden, das er andern zutrauet. Eine mittelmäßige Thorheit und ein gutes Herz können beysammen stehen: aber wenn die Thorheit gar zu groß ist, so ist gewiß das Herz selten außer Schuld.
DAMON. Bedenken Sie, daß es eine Eigenschaft eines billigen Richters ist, die Fehler zu bessern. Sie zu bestrafen, muß er sich erst unterfangen, wenn alle Mittel zur Besserung vergebens sind. Sie sind kein Richter, Sie sind ein Vater; und Sie wollen lieber Ihren Sohn bestrafen, als ihn bessern?[73]
ORGON. Ihn bessern? Wie ist es möglich, wenn seine Thorheit schon so weit eingewurzelt ist? Wie kann ich ihn verhindern, mistrauisch zu seyn?
DAMON. Wenn Sie ihm diesesmal alle Ursachen seines gehabten Mistrauens zu nichte machen; dann würde er in sich gehen, dann würde er sein Unrecht einsehen und künftig besser denken.
ORGON. Sie verlangen zu viel. Wie geht es an, die Ursachen seines Mistrauens zu heben? Ich habe ihm keine gegeben. Kurz, es ist unmöglich!
DAMON. Dadurch, daß Sie ihm Ihre väterliche Liebe wieder schenken; dadurch, daß Sie ihn mit Climenen verbinden, wird er gebessert und überzeuget werden. Ergreifen Sie die Gelegenheit, einen Menschen, der es vielleicht verdienet, von einem schädlichen Vorurtheile zu befreyen. Sie sind schuldig, es zu thun; die Menschenliebe befiehlt es. Bedenken Sie es, daß dieser Mensch, dessen Glück in Ihren Händen steht, Ihnen sonst lieb war. Bedenken Sie, daß er Ihr Sohn ist, die Freude und Hoffnung Ihres Alters; Natur und Tugend wollen Sie versöhnen. Beyde reden Ihnen zu, Timanten zu verzeihen. Kann das Bitten der Freundschaft Zähren bey Ihnen wirken: so lassen Sie sich durch mich rühren. Verzeihen Sie Ihrem Sohne: der Himmel will es! Machen Sie ihn glücklich: Ihre eigene Ruhe hängt daran! Vergessen Sie seinen Fehler! Glauben Sie, daß er es ist, der jetzo zu Ihren Füßen liegt, und Sie um Verzeihung bittet!
ORGON. O Himmel! Damon! Was thun Sie? Stehen Sie auf; ich kann vor Verwunderung nicht zu mir selbst kommen. Climenen soll ich dem Timant geben? Und Sie bitten mich darum? Climenens bestimmter Bräutigam?
DAMON seufzend. Ja, geben Sie ihm Climenen, ich bitte Sie darum – Verzeihen Sie, daß ich Sie seufzend darum gebethen habe. Ich verliere viel. Ich weiß es. Aber ich kann nicht ruhig seyn, wenn Timant Climenen nicht erhält. Dann hätte er Recht gehabt, auf meine Freundschaft Mistrauen zu setzen; dann wäre ich aller seiner Vorwürfe werth. Dadurch, daß ich Climenen meinem Freunde abtrete, bessere ich ihn; ich mache ihn tugendhaft; ich mache ihn glücklich. Lassen nur Sie sich rühren, lassen Sie sich bewegen, ihm zu verzeihen.
ORGON. Ist es möglich, daß die Großmuth so weit gehen kann? Ich kann es Ihnen nicht verschweigen, ich weiß es, daß Sie Climenen auf das zärtlichste lieben. Ich habe einen Theil einer[74] Unterredung, die Sie vor einigen Stunden mit ihr hatten, angehöret, und Ihrer beider Tugend pressete mir die Thränen aus. Deswegen war es, daß ich Geronten bath, die Verbindung meines Sohnes zu verschieben. Ich könnte mich nicht trösten, wenn ich ein Herz, wie das Ihrige, unglücklich machte. Und Sie, Sie selbst, großmüthiger Freund, Sie selbst sagen Climenen ab? Ich bin bestürzt und gerühret! Sie haben meine Zärtlichkeit gegen Timanten erregt: aber ich kann mich zu nichts entschließen. Ich bewundere Sie, und weiß nicht, was ich Ihnen antworten, ich weiß nicht, was ich denken soll.
DAMON. Also wissen Sie schon alles? Ja, verehrungswürdiger Freund, ja, mein Vater, ich unterstehe mich, Sie so zu nennen, ja, ich liebe Climenen mehr, als mein Leben, aber nicht mehr, als meine Pflicht und meine Tugend. Timant hat sie eher, als ich, geliebet; denn er hat sie eher gesehen. Ich wußte seine Liebe, als ich sie sah, und doch konnte mein schwaches Herz ihren Reizungen nicht widerstehen; es soll dafür bestrafet werden. Sie haben unsern Abschied angesehen. Sie haben die Unschuld unserer Liebe kennen gelernet. Climene liebet die Tugend zu sehr, als daß sie mir nicht Beyfall geben sollte. Sie war für Timant bestimmt, sie soll die Seinige seyn. Machen Sie Ihren Sohn durch Climenens Hand glücklich. Opfern Sie Ihren Zorn der väterlichen Liebe auf, da ich der Freundschaft die stärkste und zärtlichste der Leidenschaften aufopfere. Geben Sie, um ihn ruhig zu machen, ihm Ihre vorige Liebe wieder, da ich mein ganzes Glück für ihn hingebe. Glauben Sie nicht, daß meine Thränen aus Schmerz und aus Schwachheit fließen: sie fließen für einen Freund. Verzeihen Sie ihm! Machen Sie ihn glücklich! Ich beschwöre Sie bey Ihrer eigenen Tugend darum; ich beschwöre Sie bey diesen frommen, menschlichen, mitleidenden Thränen, die ich auf Ihren Wangen sehe! Sie entschließen sich noch nicht?
ORGON. Ja, ich habe mich entschlossen. O Damon! lassen Sie sich umarmen, und Ihre Thränen mit den meinigen mischen. O göttlich tugendhaftes Herz! O entzückende Großmuth! O Tugend, wie groß kannst du die Menschen nicht machen! Ich weine vor Entzücken und vor Schmerzen zugleich. Warum sind Sie denn nicht so glücklich, als Sie es verdienen? Ich bin gerühret, ich bin bezaubert, Ihre Tugend hat gesiegt.
DAMON. Ich danke Ihnen auf das zärtlichste. Also haben Sie Ihrem Sohne verziehen?
ORGON. Ich habe mehr als dieß gethan. Sie als sein Freund wollen eine so große That ihm zu Liebe unternehmen. Was soll ich als[75] ein Vater thun? Alles, was ich thun werde, ist zu wenig, um Ihrer Tugend nachzuahmen. Ich verzeihe ihm. Er hat geglaubet, ich wollte ihn enterben. Ich will ihm mein ganzes Vermögen schon zu meinen Lebzeiten übergeben. Ich will ihm die andere Hälfte des Briefes, der ihm zum Verdachte Anlaß gegeben hat, zeigen, und ihn mit Thränen bitten, mir künftig besser zu trauen. Er wird sich dadurch rühren lassen. Er wird sein Vorurtheil vergessen. Aber Ihnen sollte ich Ihre Braut rauben? Liebster Damon! Nein, meines Sohnes Glück wäre zu theuer erkauft, wenn ich es mit dem Verluste des Ihrigen erwerben sollte.
DAMON. Ihre Zärtlichkeiten sind umsonst. Da ich Climenen nicht erlangen kann, ohne die Freundschaft und die Tugend zu verletzen: so ist es für mich eine Unmöglichkeit geworden, sie zu besitzen. Es ist wahr, ich hatte Climenens Hand angenommen: aber da ich meinen Freund auf ewig von hier entfernt glaubte, so konnte ich der Macht meiner Leidenschaft nicht genug widerstehen. Jetzo ist Ihr Sohn hier: er kann glücklich werden, und ich kann es niemalen seyn; weil ich Climenen entweder verlieren, oder durch einen Fehltritt erkaufen muß. Morgen reise ich von hier ab. Ich werde nicht eher zurückkehren, als bis mein Herz vollkommen frey von seiner Leidenschaft, und so ruhig seyn wird, als es jetzo unruhig ist. Nichts kann meinen Entschluß hintertreiben. Wenn es wahr ist, daß Sie mich hoch schätzen: so verheurathen Sie Climenen mit Ihrem Sohn.
ORGON. Ich kann Ihnen nicht widerstehen, und wollte es doch gern thun. Ich glaube nicht, daß sich Geronte wird besänftigen lassen; und wenn Climene nicht darein williget, so soll sie Timantens Hand nicht annehmen. Hier kömmt Geronte.
DAMON. Gehen Sie ihm entgegen; suchen Sie, ihn zu besänftigen. Sein Zorn ist hitzig: er dauert aber nicht lange; er wird es gewiß thun – Bey Seite. Erhole dich, gequältes Herz! Der erste Kampf ist vorbey, wie viel hast du nicht gelitten! Wie viel ist dir noch zu leiden übrig!
Ausgewählte Ausgaben von
Der Mißtrauische
|
Buchempfehlung
In ihrem ersten Roman ergreift die Autorin das Wort für die jüdische Emanzipation und setzt sich mit dem Thema arrangierter Vernunftehen auseinander. Eine damals weit verbreitete Praxis, der Fanny Lewald selber nur knapp entgehen konnte.
82 Seiten, 5.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.
468 Seiten, 19.80 Euro