Die rote Erde

[274] Herrn Kaiser Karl zu Aachen

Kam's über die Augen schwer:

»Ich fühl's, nicht wird mich wärmen

Die Frühlingssonne mehr.


Noch einmal muß ich umschaun,

Wie's steht in meinem Reich:

O wär' ich bei Awaren

Und Arabern zugleich!


Zugleich am gelben Tiber,

Zugleich am grünen Rhein:

Zu groß ist ach! das Erbe,

Der Erbe, weh! zu klein. – –


Die Nächsten sind die Sachsen:

Bis dorthin reicht's wohl noch;

Sie kämpften dreißig Jahre,

Und ich bezwang sie doch!« –
[274]

Er zieht mit Graf und Bischof

Nochmal durch Sachsenland:

Der Männer sieht man wenig: –

Tot sind sie, landverbannt.


Auf öder, brauner Heide,

Vom Eichbaum überragt,

Liegt ein Gehöft, den Dachfirst

Vom Roßkopf überschragt.


Welk über'n tiefen Ziehbrunn

Nickt der Holunder schwer:

Und frische Hügelgräber, –

Sehr viele! – rings umher. –


Ein Weib tritt auf die Schwelle:

Es zerren an ihrem Rock

Die Knaben mit dem Trutzblick,

Die Mädchen im Flachsgelock.


Sie gaffen auf die Fremden,

Auf die bunte Reiterschar:

Es beugt sich aus der Sänfte

Ein Mann in weißem Haar.


Er streicht den Kopf dem Jüngsten:

Der greift nach der Spange licht:

»Wer ist's?« forscht scheu die Mutter.

»Herr Karl! – Kennst du ihn nicht?«


Laut auf kreischt die Entsetzte

Und reißt die Kinder fort:

»Herr Karl! Der Tod!« – Sie verschwinden

Im nahen Buschwald dort. –
[275]

Der Kaiser nächtet im Kloster.

Leer ist's um den Altar:

Kein Laie, – nur die Mönche. –

»Was scheint dort fern so klar?


Was leuchtet durch das Fenster?«

»O Herr – 's ist nicht geheuer:

Die Sachsen sind's im Walde

Bei Wodans Opferfeuer.« – –


Am andern Morgen rheinwärts

Der Kaiser kehrt die Fahrt;

Er schweigt. – Er betet manchmal;

Er streicht den weißen Bart.


Das Roß führt ihm ein Sachse,

Der alle Steige kennt.

Das Erdreich steht zutage,

Wo der Pfad die Hügel trennt.


Warm dampft es aus den Schollen, –

Karl beugt vom Sattel sich:

»Rot ist hier rings die Erde,

Seit wann? Woher das? – Sprich!«


Da hob der graue Führer

Zu ihm den Blick empor:

»Grün war der Wiesenanger,

Die Heide braun zuvor;


Zweihunderttausend Sachsen,

Die starben blut'gen Tod: –

Davon ist in Westfalen

Die Erde worden rot.«
[276]

Da schüttelt Frost den Kaiser:

»So tief – die Erde rot?

Herr Christus, lösche die Farbe:

Ich tat's auf dein Gebot.«


Starr hat er in die Wolken, –

Auf den Boden starr gesehn:

Der Boden blieb derselbe: –

Kein Wunder ist geschehn. –


Schwer krank kam er nach Aachen

In seinen goldnen Saal:

Er raunte mit sich selber,

Hauptschüttelnd, manchesmal.


Er fragte: »Ist's noch rot dort?«

Als er im Sterben lag. –

Rot blieb Westfalens Erde

Bis auf den heut'gen Tag.

Quelle:
Felix Dahn: Gesammelte Werke. Band 5: Gedichte und Balladen, Leipzig 1912, S. 274-277.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Balladen
Balladen Und Lieder (German Edition)

Buchempfehlung

Neukirch, Benjamin

Gedichte und Satiren

Gedichte und Satiren

»Es giebet viel Leute/ welche die deutsche poesie so hoch erheben/ als ob sie nach allen stücken vollkommen wäre; Hingegen hat es auch andere/ welche sie gantz erniedrigen/ und nichts geschmacktes daran finden/ als die reimen. Beyde sind von ihren vorurtheilen sehr eingenommen. Denn wie sich die ersten um nichts bekümmern/ als was auff ihrem eignen miste gewachsen: Also verachten die andern alles/ was nicht seinen ursprung aus Franckreich hat. Summa: es gehet ihnen/ wie den kleidernarren/ deren etliche alles alte/die andern alles neue für zierlich halten; ungeachtet sie selbst nicht wissen/ was in einem oder dem andern gutes stecket.« B.N.

162 Seiten, 8.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon