Tacitus

[240] Der Jungfrau ähnlich, die in Trojas Jubel

Den Weheruf geahnten Unheils warf,

Ungläub'gen Spott allein als Antwort findend,

Kassandra gleich steh' ich in dieser Zeit!

Verderben seh' ich rings, wohin ich schaue,

Mit leisen Geistertritten eilend nahn,

Indes das Volk im Zirkus brausend lärmt

Und seine wilden Bacchanale hält.[240]

Der Tempel darbt des Opfers und das Herz

Der Andacht; ungeglaubte Götter lehrt

Der Priester: fremden Sagen lauscht das Volk,

Die nicht verknüpft sind mit der Väter Taten.

Die Weisen spotten über Jupiter

Und finden keinen andern Gott statt seiner.

Die Kaiser aber kränzen sich mit Rosen,

Denn selten ward der Lorbeer in dem Land;

Und will ein Fürst, der noch ein Römer ist,

Dem Unheil steuern, ist's, wie wenn ein Mann

Mit Schwert und Schild den Strom des Weltmeers hemmt.

Die Jugend schwelgt mit griechischen Hetären,

Indessen Sklaven die Legionen füllen,

Die nur mit Scham zur Schlacht der Adler führt,

Und Laster, ungeheure Laster thronen

Auf allen sieben Hügeln dieser Stadt.

Auf steilem Fels steht dieser Riesenbau:

Er wankt und täglich mehr neigt er zu Fall.

Sie kömmt nicht mehr, die Zeit der Scipionen!

Umsonst singt von Triumph der Dichter Mund:

Es sind die letzten Flügelschläge nur

Des Adlers, dem der Pfeil im Herzen steckt.

Im Osten fliegt des Parthers leicht Geschoß

Schon ungestraft in römische Provinzen,

Und furchtbar pocht die Streitaxt des Germanen

An dieses Reiches morschgewordne Tür.

Uns hält der Feinde Zwist, nicht eigne Macht;

Weh uns, wenn diese waldgeborne Kraft,

Wenn diese freien Ströme sich vereinen

Und mächtig von den Alpen niedergehn.

Was haben wir als Damm, sie abzuwehren?

Den Ruhm der Väter und der Enkel Wahn!

Mir aber sei's vergönnt, vorher zu sterben![241]

Mich ekelt dieser faulgewordnen Zeit,

Und oft beschleicht mich qualvoll der Gedanke:

Die Götter achten dieser Erde nur,

Um uns zu strafen, nicht um uns zu helfen.

Nicht unter diesen Menschen will ich leben:

Aufrollen will ich mir der Zeiten Buch,

Und Großes schau'n, das andre Tage schufen

Doch dieser Zeit will ich empfindungslos,

Ein Demantspiegel, gegenüber stehn

Und zeigen ihr das ungeheure Bild

Der eignen Torheit und der eignen Schuld.

O würd' es ihnen zum Gorgonenhaupt,

Das sie entsetzte und versteinerte:

So blieben sie, ein großes Schreckbild, stehn

Und eine Warnung künftigen Geschlechtern.

Quelle:
Felix Dahn: Gesammelte Werke. Band 5: Gedichte und Balladen, Leipzig 1912, S. 240-242.
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