Karl IX. nach der Bartholomäusnacht

[411] Der König Karl war leichenfahl:

Er wankte durch den leeren Saal.


»Wie lang doch eine Novembernacht,

Wenn man sie einsam still durchwacht!

Wie flog die gestrige vorbei

Mit Schießen und brüllendem Mordgeschrei! –


Ich kann nicht Menschen um mich haben:

Sie riechen nach Blut wie Leichenraben. –


Bei dem ersten Rapport, – wie dem schwarzen Tavannes

Schon das Blut so rot aus dem Barte rann!

Und zu neuem Jagen lief er fort,

Seine gellende Losung: ›Tod und Mord!‹


Und des jungen Guise zerkratztes Gesicht!

Er lachte: ›Das half der Ketzerin nicht!

Ich hab' sie gezwungen und dann erschossen!‹

Daß er mir's erzählte, das hat mich verdrossen:

Und wie in die Seine sprangen zwei Schwestern – –:

Ich kann sie nicht sehn, die Genossen von gestern.
[411]

Wenn nur die Sekunde vorüber wär',

Da die Glocke des Louvre, dumpf und schwer,

Das Zeichen gab, wie wir's ausgemacht:

Das war ein Viertel vor Mitternacht:

Wie rasch gleich drauf das Pistol gekracht! –


O Mutter, ich wälz' es auf dein Gewissen!

Du hast an der zögernden Hand mir gerissen!

Ich wollte nicht dran! – Es ward mir bang: –

Du schobst in die Faust mir den Glockenstrang

Und zerrtest mich plötzlich ... –

Horch! Welch' ein Klang! –

Hui weh! Da schlägt es Dreiviertel! – Weh! –

Rings blutige Schatten, wohin ich seh'!


Luft! Luft! Ich ersticke! Rings wirbeln Gespenster!

Rasch auf mit dem Laden! – Weh, das ist das Fenster:

Hier schoß ich heraus! Angoulême lud! –


Was wirbelt herein wie Nebelflut?

Aus dem Nebel schwillt eine weiße Gestalt –:

Ach, ich kenne dies Haupt mit dem klaffenden Spalt,

Mit den rieselnden Wunden ohne Zahl –

Mit dem silbernen Haar! – Ich nicht, Admiral!

Der Guise war's und Paul Medici, –

Ich war nicht darunter, Coligny!

Er greift mich! Zu Hilfe! Wachen, herbei!« – –


Durch das schweigende Louvre schrillt sein Schrei. – –


Der König hat nach dieser Nacht

Nicht eine mehr allein verbracht:

Zumauern ließ er das Erkerfenster:

Doch es schwebten durch Ziegel und Kalk die Gespenster,

Und sie haben ihn blaß und schweigend umschwebt

In jeder Nacht, die er noch gelebt. – –

Quelle:
Felix Dahn: Gesammelte Werke. Band 5: Gedichte und Balladen, Leipzig 1912, S. 411-412.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Balladen
Balladen Und Lieder (German Edition)

Buchempfehlung

Stifter, Adalbert

Zwei Schwestern

Zwei Schwestern

Camilla und Maria, zwei Schwestern, die unteschiedlicher kaum sein könnten; eine begnadete Violinistin und eine hemdsärmelige Gärtnerin. Als Alfred sich in Maria verliebt, weist diese ihn ab weil sie weiß, dass Camilla ihn liebt. Die Kunst und das bürgerliche Leben. Ein Gegensatz, der Stifter zeit seines Schaffens begleitet, künstlerisch wie lebensweltlich, und in dieser Allegorie erneuten Ausdruck findet.

114 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon