Frühling

[546] Komm, holder Frühling, Segenspender,

Aus deinem blauen Wunderhaus,

Und auf das traurigste der Länder

Geuß deine reichen Gaben aus.


Gleich dem verstoßnen Königskinde

Germania frierend sitzt im Wald,

Das Haar zerzaust: ein Spiel der Winde

Ist ihre rührende Gestalt.


Vom Haupt ihr rissen böse Schächer

Den Schleier und die Kronenzier,

Und ach, auf Erden lebt kein Rächer,

Zu Ehr' und Recht zu helfen ihr.


Da nahest der Verlassnen Schlummer,

Erbarmungsreicher Frühling, du,

Und ihre Schmach und ihren Kummer

Deckst du mit grünem Mantel zu.


Und schlingst ihr statt der Kron' von Golde

Den weißen Blütenkranz ins Haar,

Reichst lächelnd ihr die Liliendolde

Statt des entfallnen Zepters dar.


Und läßt sie grünend ihre Wälder

Und ihre stolzen Berge sehn,

Und zeigst ihr lachend ihre Felder

Und ihre dunkelblauen See'n,


Zeigst ihr, wie kräftig prangt ihr Bauer,

Wie blühend ihre Winzerin:

Und durch die Königin der Trauer

Zieht heller ein Gedanke hin.
[547]

Sie träumet hold, die Kummerreiche,

Von Frühlingshoffnung sanft gewiegt,

Ein süßer Glanz das schmerzenbleiche,

Das edle Angesicht durchfliegt.


Sie träumet wohl von einem Lenze,

Da herrlich sie vom Boden springt,

Und wieder Kronen trägt statt Kränze

Und wieder hoch das Zepter schwingt.

Quelle:
Felix Dahn: Gesammelte Werke. Band 5: Gedichte und Balladen, Leipzig 1912, S. 546-548.
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