Dreißigster Gesang

[405] Es glüht vielleicht Sechstausend Meilen weit

Von uns die Mittagsstund', und diese Welt

Senkt ihren Schatten fast zum ebnen Bette,

Wenn von des Himmels Mitte, der für uns[405]

Der tiefe ist, schon manches Sternes Schimmer

Nicht mehr herabreicht bis auf unsren Grund.

Und wenn der Sonne lichte Dienerin

Dann weiterschreitet, schließen sich die Augen

Des Himmels nacheinander bis zum hellsten.

In solcher Weis' erlosch vor meinen Blicken

Allmählich der Triumph, der immerdar

Den Punkt umspielt, der mich bewältigte,

Scheinbar von dem umschlossen, was er einschließt;

Drum hießen Lieb' und jenes Anblick's Ende,

Den Blick auf's neu, mich auf Beatrix richten.

Wenn alles was bisher von ihr gesagt ward

Zu einem einz'gen Lob verbunden wäre,

So wär' es diesmal dennoch zu gering.

Es übersteigt die Schönheit, die ich sah,

Nicht unser Maß nur; nein, ich glaube sicher,

Daß nur ihr Schöpfer ganz sich ihrer freut.

Besiegt erkenn' ich mich an dieser Stelle,

Wie so weit über ihre Kraft noch nimmer

Den Stoff Tragöd' und Komiker gefunden.

Denn, wie dem schwächsten Aug' im Strahl der Sonne,

So schwindet dem Gedächtnis seine Kraft,

Erinnert es sich an dies süße Lächeln.

Vom ersten Tag, wo ich im Erdenleben

Ihr Antlitz sah, bis hin zu diesem Anblick

War meinem Lied das Folgen nicht benommen;

Hier aber muß ich davon, ihrer Schönheit

Noch weiter dichtend nachzufolgen, abstehn,

Wie jeder Künstler von dem letzten Ziele.

Schön, wie zu schildern ich sie höhrer Stimme,

Als meiner Tuba zusteht, überlasse,

Indes ihr schweres Werk nun diese endet,

Begann mit eines sichren Führers Miene

Und Ton sie: Aus dem größten Körper sind wir

Zum Himmel nun gelangt, der reines Licht ist,

Licht der Erkenntnis, ganz erfüllt von Liebe,[406]

Von Liebe wahren Heiles voller Wonne,

Der Wonne, welcher keine Süße gleichkommt.

Des Paradieses ein' und andre Heerschar

Wirst du hier sehn: in der Gestalt die eine,

In der sie beim Gericht sich zeigen wird. –

Wie, unvorhergesehn, ein Blitz die Geister

Der Sehkraft so zerstreut, daß unempfänglich

Das Aug' er macht, selbst für den stärksten Eindruck,

So glänzte um mich her lebend'ges Licht,

Mit einem Schleier solcher Helligkeit

Mich rings umgebend, daß ich sonst nichts sah:

Die Liebe, die dem Himmel Frieden gibt,

Nimmt immer in sich auf mit solchem Gruße,

Daß reif der Leuchter sei für seine Flamme. –

Als diese kurzen Worte kaum zu mir

Gelangt, ward ich gewahr, daß nun erhoben

Ich über meine eignen Kräfte sei.

Und so entbrannte ich in neuer Sehkraft,

Daß meine Augen standgehalten hätten

Jedwedem Lichte, auch dem allerhellsten.

Lichtfülle sah ich, glänzend wie von Blitzen,

Gestaltet wie ein Fluß, des beide Ufer

Die wunderbarste Pracht des Frühlings malte.

Es sprühten aus dem Fluß lebend'ge Funken,

Die in die Blumen rings sich niederließen,

Rubinen gleich, gefaßt in goldne Reifen.

Dann tauchten sie, wie von den Düften trunken

Sich wieder unter in den Wunderstrom,

Indessen andre sich aus ihm erhoben.

Der hohe Wunsch, der dich entflammt und dränget,

Kenntnis von dem, was du erblickst, zu haben,

Erfreut mich um so mehr, je mehr er anwächst.

Doch mußt du erst von diesem Wasser trinken,

Bevor so hoher Durst in dir gestillt wird. –

So sprach zu mir die Sonne meiner Augen.

Noch sagte sie: Der Fluß und die Topase,[407]

Die aus- und eingehn, und der Blumen Lächeln

Sind ihrer Wahrheit schattengleiches Vorspiel.

Auch sind an sich nicht schwierig diese Dinge;

Der Mangel liegt allein auf deiner Seite,

Weil noch dein Auge nicht soweit hinaufreicht. –

So eilte nie ein Kind, der Muttermilch

Das Antlitz zugewandt, wenn es, verspätet

Weit über die gewohnte Zeit, erwachte,

Als ich, um meiner Augen Spiegelkraft

Noch zu vermehren, mich zur Welle neigte,

Die, um vollkommener zu machen, fließt.

Kaum, daß die Ränder meiner Augenlider

Davon getrunken, so erschien zur Rundung

Der Fluß, der lang sich streckte, mir gewandelt.

Und wie ein Mensch, der hinter einer Larve

Sich barg, ein anderer geworden scheint,

Wirft er das Scheinbild ab, das ihn verhüllte;

So wandelten die Blüten und die Funken

Sich mir zu höhrem Freudenfest, so daß ich

Die beiden Himmelshöfe nun gewahrte.

O Lichtglanz Gottes, der mir den erhabnen

Triumph des wahren Reichs zu sehn gewährt,

Gib du mir Kraft, wie ich ihn sah, zu schildern!

Licht ist dort oben, welches dem Geschöpfe

Gott sichtbar werden läßt, das seinen Frieden

Nur in dem Anschaun seines Schöpfers findet.

Und es erstreckt in Kreisesform so weit sich,

Daß seines Umfangs Maß, selbst für die Sonne

Ein Gürtel wäre von zu großer Weite.

Das Auge sieht von ihm nichts als nur Strahlen,

Die, auf des erstbewegten Himmels Umkreis

Zurückgestrahlt, ihm Kraft verleihn und Leben.

Und wie ein Hügel sich im Wasser spiegelt,

Als wollt' er sehn, wie reich geschmückt an Kräutern

Und Blüten er vom Fuß zum Gipfel ist,

So sah ich was von uns zu jener Höhe[408]

Heimkehrte, sich auf mehr als tausend Stufen

Im Lichte, das sie rings umragten, spiegeln.

Umfaßt die niedrigste von diesen Schwellen

So großes Licht, wie mächtig muß der Umfang

Der äußren Blätter dieser Rose sein!

Und doch verlor in solcher Weit' und Höhe

Mein Blick sich nicht; nein er erfaßte völlig

Das Wie und das Wiegroß von dieser Wonne.

Dort gibt und raubt nicht Nähe und nicht Ferne;

Denn da wo unvermittelt Gott regiert,

Sind der Natur Gesetze unwirksam.

In's gelbe Zentrum jener ew'gen Rose,

Die sich ausdehnt und abstuft und zur Sonne

Des steten Lenzes Lobesdüfte sendet,

Geleitete Beatrix mich, der schwieg

Und reden wollte; doch sie sagte: Schaue

Wie groß die Schar der weißen Kleider ist.

Sieh, wie so weit der Umfang unsrer Stadt ist,

Sieh, wie so voll schon unsre Sitze sind,

Daß, sie zu füllen, wen'ge nur noch fehlen.

In jenem großen Stuhl, zu dem die Krone,

Mit welcher er schon prangt, dein Auge lenkte,

Wird, eh' an diesem Hochzeitsmahl du teilnimmst,

Des hohen Heinrichs Seele, der auf Erden

Den Purpur tragen wird, und der Italien

Zu heilen kommt, eh' es bereit ist, thronen.

Es hat die blinde Gier, die euch verzaubert,

Euch so betört, daß ihr dem Kinde gleichet,

Das Hungers stirbt und doch die Amme fortjagt.

Und wer um jene Zeit dem geistlichen

Gerichtshof vorsitzt, wird geheim und offen

Nicht auf demselben Wege mit ihm gehn.

Doch wird ihn Gott in diesem heil'gen Amte

Nicht lange dulden, dann stürzt er hinab,

Wo Simon Magus büßt was er verdient hat,

Und tiefer drängt er noch den von Anagni.

Quelle:
Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. Berlin [1916], S. 405-409.
Lizenz:
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