Fünfzehnter Gesang

[343] Geneigter Will', in welchen sich die Liebe,

Die nach dem Rechten hinstrebt, immer auflöst,

Wie die verkehrte Liebe in Begierde,

Gebot der süßen Leier nun zu schweigen

Und hieß die heil'gen Saiten, die die Rechte

Des Himmels anzieht oder nachläßt, ruhn.

Wie sollten taub sein für gerechte Bitten

Die Wesen, welche um mir Mut zu machen,

Daß ich sie bitte, jetzt einmütig schwiegen?

Wohl ist es Recht, daß endlos sich beklage,

Wer Dingen, die vergänglich sind, zu Liebe

Auf ewig dieser Liebe sich beraubt!

Wie in der Stille einer klaren Nacht

Rasch durch den Himmel wohl ein Feuer eilt,

Auf sich die Blicke ziehend, die da ruhten,

Als wär's ein Stern, der seinen Ort vertauschet,

Nur daß, von wo es ausging, keiner fehlet,

Und daß es selber kurze Zeit nur dauert,

So eilte von dem Arm des Sterngebildes

Das dort erglänzt, der sich nach rechtshin ausdehnt,

Ein Stern zum Fuße jenes Kreuzes nieder.

Auch schied nicht das Juwel von seinem Bande;

Nein, durch des Kreuzes Strahlen flog es hin,

Wie hinter Alabaster man ein Licht sieht.

So eilte liebevoll herbei Anchises,

Ist unsre größte Muse glaubenswert,

Als im Elysium er den Sohn erblickte.[343]

O du mein Blut, o Gnade, die von Gott

Herniederströmt, Wem wurde je gleich dir

Des Himmels Pforte zweimal aufgeschlossen? –

So sprach dies Licht und fesselte mein Ohr;

Dann wandte ich den Blick zu Beatrice,

Und hier und da fand ich zum Staunen Anlaß.

Denn solch ein Lächeln brannt' in ihren Augen,

Daß ich das höchste mir beschiedne Ziel

Von Gnad' und Paradies erreicht nun glaubte.

Dann fügt', erfreulich, wie dem Ohr, dem Auge,

Der Geist dem Anfang weiteres hinzu,

So tiefen Sinnes, daß ich's nicht verstand.

Indes verbarg er sich mir nicht aus Willkür,

Nein, aus Notwendigkeit, weil sein Gedanke

Hinausflog über sterbliches Verständnis.

Und als der Bogen glühender Erregung

So weit ermäßigt war, daß nun die Rede

Hinabstieg in des Menschengeistes Schranken,

War: Sei gebenedeit du drei und einer,

Der du so gnädig bist in meinem Sohne –

Von dem was mir verständlich war das erste.

Dann fuhr er fort: Gestillt in diesem Lichte,

In dem ich zu dir rede, hast du Sohn,

Der sei's gedankt, die dich zum Flug befiedert,

Den langgehegten und willkommnen Hunger,

Der mir erwuchs, seit ich im großen Buche,

In dem nie Schwarz und Weiß vertauscht wird, las.

Du meinst, zu mir gelange dein Gedanke

So aus dem ersten, wie das fünf und sechs

Hervorgeht aus dem eins, das man erkennt;

Drum fragst du, wer ich sei nicht, noch warum

Ich freudiger mich gegen dich bezeige,

Als irgendwer von dieser frohen Schar.

Wohl glaubst du wahr, denn kleine so wie große

Hier Lebende schauen alle in den Spiegel,

In dem, noch ungedacht, dein Denken kund wird.[344]

Doch, daß der ew'gen Liebe mehr Genüge

Gescheh', in der ich ewig schauend wache,

Und die mir süßer Sehnsucht Durst erweckt,

So künde deine Stimme freudig, sicher

Und kühn den Wunsch und Willen, die du hegst,

Auf welche meine Antwort schon bestimmt ist. –

Nach Beatrice blickt' ich; doch sie hatte

Gehört noch eh' ich sprach, und meinem Willen

Ließ Flügel ihr beifäll'ger Wink erwachsen.

Drauf hub ich an: Seit euch die erste Gleichheit

Erschienen, ward für jeden unter euch

Gleich an Gewichte Wunsch und Fähigkeit;

Denn, die mit Licht und Wärme euch erleuchtet

Und brennen macht, die Sonne ist so gleich,

Daß jedes Bild nur ungenügend wäre.

Doch, aus dem Grunde, der euch offenbar ist,

Sind Wunsch und Fähigkeit bei Sterblichen

Nicht in dem gleichen Maß zum Flug befiedert.

Weil ich, als Sterblicher, daß sie es nicht sind

Jetzt fühle, dank ich mit dem Herzen nur

Für diesen Audruck väterlicher Freude.

Doch bitt' ich dich, lebendiger Topas,

Der du dies köstliche Geschmeide zierest,

Daß du den Durst mir stillst nach deinem Namen. –

O du mein Laub, an dem schon in Erwartung

Ich mich erfreute, ich war deine Wurzel. –

Also begann er, Antwort mir erteilend.

Dann sagt' er weiter: Der, nach dem dein Stamm sich

Benennt, und der seit mehr als hundert Jahren

Den Berg umkreist auf seiner ersten Stufe,

Er war mein Sohn und war dein Ältervater.

Wohl sollst du dich bemühn, durch deine Werke

Der Buße lange Arbeit ihm zu kürzen.

Es war im alten Mauerkreis, von wo

Ihm None noch und Terz gezählt wird, Florenz

Friedfertig, voller Mäßigkeit und schamhaft.[345]

Nicht kannt' es gold'ne Ketten und nicht Kronen,

Nicht aufgeputzte Weiber und nicht Gürtel,

Die mehr als die sie trägt in's Auge fielen.

Noch machte nicht bei der Geburt die Tochter

Dem Vater Sorge; denn noch überschritten

Mitgift und Zeit das Maß nicht beiderseitig.

Noch gab's nicht Häuser von Bewohnern ledig,

Noch war Sardanapal nicht angelangt,

Was in Gemächern man vermag, zu zeigen.

Noch übertraf nicht eu'r Uccellatojo

Den Berg des Marius; aber, wie im Steigen,

Wird auch im Fallen er ihn übertreffen.

Gegürtet sah mit Leder ich und Knochen

Bellincion Berti, und sein Weib vom Spiegel

Mit unbemaltem Angesichte kommen.

Mit bloßem Lederwamms sah ich Del Vecchio

Und Nerli sich begnügen; beider Frauen

Sah bei der Spindel ich und bei der Kunkel.

Die Glücklichen! Der Grabesstätte sicher

War ihrer jede, und um Frankreichs willen

War keine noch in ihrem Bett verlassen.

Die eine wachte sorglich bei der Wiege

Und redete beschwichtigend die Sprache,

An der die Eltern sich zuerst ergötzen.

Es plauderte die zweite mit den Ihren,

Indes dem Wocken sie das Haar entzog,

Von den Trojanern, Fiesole und Rom.

Ein Wunder wär' ein Weib wie die Cianghella,

Ein Lapo Salterello da gewesen,

Wie Cincinnat jetzt und Cornelia wären.

So ruhigem, so schönem Bürgerleben,

So zuverlässiger Genossenschaft,

So süßem Heimatsort hat mich Maria

Gewährt auf lautem Schmerzensschreies Flehen.

In eurem altehrwürd'gen Baptisterium

Ward ich ein Christ zugleich und Cacciaguida.[346]

Moronto hatte ich und Eliseo

Zu Brüdern, aus dem Potal kam mein Weib,

Und da her stammt der Name den du führest.

Dann folgt' ich Kaiser Conrad. Wackre Taten

Gewannen so mir seine Gunst, daß er

Den Gürtel seiner Ritterschaft mir schenkte.

Ich folgt' ihm nach zum Kampf mit des Gesetzes

Verkehrtheit, dessen Volk, was euer Recht ist,

Allein durch eurer Hirten Schuld, sich anmaßt.

Entfesselt von der trügerischen Welt,

In deren Lust viel Seelen sich beflecken,

Ward ich im Kampf mit jenem schnöden Volke

Und kam vom Martertod zu diesem Frieden.

Quelle:
Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. Berlin [1916], S. 343-347.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Die Göttliche Komödie
Die Göttliche Komödie
La Commedia / Die göttliche Komödie: I. Inferno / Hölle Italienisch/Deutsch
Inferno: Die göttliche Komödie
Die Göttliche Komödie
Die Göttliche Komödie (insel taschenbuch)

Buchempfehlung

Gryphius, Andreas

Catharina von Georgien

Catharina von Georgien

Das Trauerspiel erzählt den letzten Tag im Leben der Königin von Georgien, die 1624 nach Jahren in der Gefangenschaft des persischen Schah Abbas gefoltert und schließlich verbrannt wird, da sie seine Liebe, das Eheangebot und damit die Krone Persiens aus Treue zu ihrem ermordeten Mann ausschlägt. Gryphius sieht in seiner Tragödie kein Geschichtsdrama, sondern ein Lehrstück »unaussprechlicher Beständigkeit«.

94 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon