Zehnter Gesang

[322] Indem die unnennbare erste Kraft

Auf ihren Sohn mit jener Liebe blickte,

Die stets von einem und der andern ausgeht,

Schuf sie was sich in Geist und Raum bewegt

Mit solcher Ordnung, daß wer dies betrachtet,

Nicht ohne Vorschmack von ihr selber sein kann.

So hebe Leser zu den hohen Rädern

Mit mir den Blick denn auf jener Stelle,

Wo sich Bewegung und Bewegung treffen.

Und da beginne, jenes Meisters Kunst[322]

Voll Staunens zu beschaun, der seine Schöpfung

So liebt, daß er das Aug' nicht von ihr wendet.

Sieh, wie von dort der schräge Kreis sich abzweigt,

Der die Planeten trägt, damit Genüge

Der Welt geschehe, welche sie herbeiruft.

Und hätte ihre Bahn nicht schräge Richtung,

So blieb' erfolglos manche Himmelskraft

Und tot die meiste Fähigkeit auf Erden.

Entfernte jene Bahn von grader Richtung

Sich mehr und minder, bliebe manches drunten

Und oben mangelhaft in eurer Schöpfung.

Nun bleib' auf deiner Bank, o Leser, sitzen

Und denke dem was dir kredenzt ward nach,

Soll, eh du müde bist, dir Freude werden.

Ich trug dir auf; nun nimm dir selbst die Speise,

Weil jener Stoff, des Schreiber ich geworden,

Ausschließlich meine Sorg' in Anspruch nimmt.

Der größte von den Dienern der Natur,

Durch den des Himmels Kraft im All sich ausprägt

Und der die Zeit mit seinem Licht uns abmißt,

Bewegte sich mit jenem Himmelsteile,

Den oben ich erwähnte, in der Spirale,

In der er täglich sich uns früher zeigt.

Schon war ich ihm verbunden; doch das Steigen

Ward ich nur so gewahr, wie man den ersten

Gedanken kommen sieht, bevor er da ist.

Beatrix ist es, die mich so vom Guten

Zum Besseren geleitet, und so plötzlich,

Daß ihr Vollbringen keine Zeit umfaßt.

Wie mußte selber reich an Lichte sein,

Was in der Sonne, die ich nun betreten,

Durch Licht mir, nicht durch Farbe, sichtbar ward!

Ob ich Talent anriefe, Kunst und Übung,

Nie sagt' ich's so, daß man sich's denken könnte;

Doch kann man's glauben und zu schaun verlangen.

Ist unsre Phantasie für solche Hoheit[323]

Zu niedrig, soll uns das nicht Wunder nehmen;

Bewältigte die Sonne doch kein Auge.

So strahlte dort die vierte Schar der Kinder

Des hohen Vaters, der sie immer sättigt,

Beweisend wie er haucht und wie er zeuget.

Und es begann Beatrix: Danke, danke

Der Sonne aller Engel, daß aus Gnade

Zu dieser sichtbaren sie dich erhob! –

Nie war ein Menschenherz so ganz von Andacht

Durchdrungen und niemals so gern bereit,

Sich Gott mit jedem Wunsche zu ergeben,

Als ich bei jenen Worten, und so gänzlich

Versenkte sich in ihn nur meine Liebe,

Daß in Vergessen sie Beatrix hüllte.

Nicht zürnte drum sie; nein, sie lächelte,

So daß das Leuchten ihrer freud'gen Augen

Den ein'gen Sinn in zwei Gefühle teilte.

Viel Flammen, heller als die Sonne, sah ich

Nun uns, als ihren Mittelpunkt, umkränzen,

An Stimmen süßer noch, als licht dem Auge.

So sehn umgürtet wir Latona's Tochter,

Wenn so die Luft gesättigt ist von Dünsten,

Daß sie die Fäden solchen Gürtels festhält.

Im Himmelshof, von dem ich wiederkehre,

Trifft man viel Edelsteine schön und wertvoll,

So daß unmöglich ist sie auszuführen,

Und dieser Lichter Lied war solcher Art.

Wer sich dorthin zu fliegen nicht befiedert,

Dem gebe von dorther der Stumme Kunde.

Nachdem so singend jene lichten Sonnen

Sich dreimal um uns her gedreht im Kreise,

Wie Sterne in des festen Poles Nähe,

Erschienen sie gleich Frau'n, die nicht im Tanze

Hineilen, sondern still aufhorchend weilen,

Bis sie die neue Weise aufgefaßt.

Und aus dem einen hört' ich so beginnen:[324]

Erglänzt in dir der Gnadenstrahl, an welchem

Wahrhafte Liebe sich entflammt, und liebend

Zu immer höhrem Liebesreichtum anwächst,

So daß sie diese Leiter dich hinanführt,

Die niemand, der nicht wiederkehrt, hinabsteigt,

So wäre, wer den Wein aus seiner Flasche

Nicht deinem Durst gewährte, gleich dem Wasser

Unfrei, das nicht hinab zum Meere fließet.

Die Blüten willst du kennen, draus der Kranz

Besteht, den deine Herrin liebend anblickt,

Der Herrin, die dich für den Himmel zeitigt.

Ich war ein Lamm von jener heil'gen Herde,

Die Sankt Dominicus auf Pfaden führt,

Wo man gedeiht, wenn man nicht Eitlem nachjagt.

Der mir der nächste ist zu meiner Rechten,

War Bruder mir und Meister, er ist Albrecht

Von Cöln und ich bin Thomas von Aquino.

Willst du der andern ebenso gewiß sein,

So laß, entlang dem sel'gen Blumenkranze,

Dein Auge meinem Wort im Kreise folgen.

Dies andre Flammen leuchtet aus dem Lächeln

Des Grazian, der beiderlei Gerichten

So half, daß man sich freut im Paradiese.

Der aber nach ihm unsres Chores Schmuck ist,

War jener Petrus, der der heil'gen Kirche,

Wie einst die Witwe, seinen Schatz geboten.

Das fünfte Licht, in unsrem Kreis das schönste,

Haucht solche Liebe aus, daß alle Welt

Dort unten Kunde von ihm haben möchte:

Der hohe Geist, in den so tiefes Wissen

Gelegt ward, daß, wenn Wahrheit wahr, kein Zweiter

Zu solchem Schaun sich aufschwang, weilt in ihm.

Das nächste Licht gehört der Kerze an,

Die dort im Fleische die Natur der Engel

Und ihren Dienst am richtigsten erschaute.

Aus jenem kleinen Licht daneben lächelt[325]

Der Christenzeiten kräftiger Verteid'ger,

Auf dessen Wort sich Augustinus stützte.

Hat nun dein geistig Auge, meinem Lobe

Nachfolgend, sich gewandt von Licht zu Lichte,

So fühlt bereits den Durst es nach dem achten.

Im Anschau'n alles Heils freut sich in ihm

Die heil'ge Seele, die den Trug der Welt

Dem offenbart, der recht vernahm die Kunde.

Es ruht der Leib, aus welchem sie verjagt ward,

Dort in Cieldauro; aber sie erhob sich

Von Martern und Exil zu solchem Frieden.

Sieh' weiterhin den brünst'gen Hauch des Beda,

Des Isidor und jenes Richard flammen,

Der an Gedankentiefe mehr als Mensch war.

Und der, von dem dein Blick zu mir zurückkehrt,

Ist eines Geistes Leuchte, dem in ernsten

Gedanken spät der Tod zu kommen schien.

Das ew'ge Licht von jenem Sigier ist es,

Der, als er las, wo Streu die Gasse deckt,

Schlußfolgernd neidenswerte Wahrheit nachwies. –

Dann sah ich, gleich dem Uhrwerk, das zur Stunde,

Wo, um die Gunst des Bräut'gams zu gewinnen,

Sich Gottes Braut erhebt zur frühen Mette,

Uns ruft, und, wie die Räder zieh'n und treiben,

Tin Tin erklingen läßt, so süßen Tones,

Daß liebend schwillt der gottbereite Geist,

Sich jenes ruhmesreiche Rad bewegen

Und Stimm' und Stimme also sich in Wohlklang

Und Süß' entsprechen, als man nur verstehn kann,

Wo solcher Wonne Ewigkeit gewährt ist.

Quelle:
Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. Berlin [1916], S. 322-326.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Die Göttliche Komödie
Die Göttliche Komödie
La Commedia / Die göttliche Komödie: I. Inferno / Hölle Italienisch/Deutsch
Inferno: Die göttliche Komödie
Die Göttliche Komödie
Die Göttliche Komödie (insel taschenbuch)

Buchempfehlung

Gryphius, Andreas

Leo Armenius

Leo Armenius

Am Heiligen Abend des Jahres 820 führt eine Verschwörung am Hofe zu Konstantinopel zur Ermordung Kaiser Leos des Armeniers. Gryphius schildert in seinem dramatischen Erstling wie Michael Balbus, einst Vertrauter Leos, sich auf den Kaiserthron erhebt.

98 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon