Zwölfter Gesang

[52] Es war der Ort, wo zu des Ufers Abstieg

Wir kamen, felsig und was dort zu schaun war

Von solcher Art, daß jedem Blick drob grauste.

Wie jener Felssturz ist, der diesseits Trento

Durch Erderschütt'rung oder Stützungsmangel

Die Etsch in ihre linke Flanke traf,

So daß vom Gipfel her, von dem er ausging,

Hinab zur Ebne das Geklüft so wild ist,

Daß es ein Niederklettern kaum gestattet,

So war hier des Gesteines jäher Abfall,

Und auf der Fläche abgebrochener Kante

Lag ausgestreckt die ewge Schmach von Kreta,

Die in der falschen Kuh empfangen ward.

Als dieser uns gewahr ward, biß er sich

Gleich einem, der im Zorn entbrannt ist, selber.

Mein Meister aber rief ihn an: Vermeinst du

Vielleicht, der Herzog von Athen sei hier,

Der in der Welt dort oben dir den Tod gab?

Fort, Untier, packe dich, den ich begleite

Kommt nicht von deiner Schwester unterwiesen;

Er geht, um eure Strafen zu betrachten. –

Gleichwie der Stier, der sich im Augenblicke

Wo er den Todesstreich empfangen, losreißt,

Des Gehns unfähig hin und wieder taumelt,

So sah ich Minotaurus sich gebahren.

Da rief mein Führer: Eile schnell vorüber,

Ratsam ist, daß du absteigst, weil er wütet. –

Also begannen nieder wir zu steigen

Auf jenen Trümmersteinen, die sich häufig

Von meiner Füße neuer Last bewegten.

Nachdenkend ging ich; jener aber sagte:

Denkst du dem Absturz nach, der überwacht wird

Von jenem Untier, das ich jetzt gebändigt?[53]

So wisse denn, daß, als zum ersten Male

Ich niederstieg in diese untre Hölle,

Die Felsenwand noch nicht herabgestürzt war.

Doch, irr ich nicht, so war es kurz vorher,

Eh' jener eintraf, der die große Beute

Dem obersten der Höllenkreise raubte,

Als dieses Tal des Stank's von allen Seiten

So sehr erbebte, daß das all auf's neu' ich

Entbrannt von Liebe wähnte, die zum Chaos,

Wie mancher glaubt, die Welt mehrmals gewandelt.

In dem Moment fiel dieser alte Felsen

So hier wie auch noch anderwärts zusammen.

Nun aber wende deinen Blick zu Tale;

Schon naht der Blutstrom sich, in welchem

Gesotten wird, wer durch Gewalttat schadet. –

O blinde Gier, o wahnbetörter Zorn,

Die uns zur Sünd' im kurzen Leben treiben

Und ewiglich zu solcher Qual uns tauchen!

Ein breiter Graben bot sich meinen Blicken,

Der, wie der Meister mir zuvor verkündet,

Im Bogen jenen Talgrund ganz umwand.

Und zwischen Fluß und Felsenabsturz liefen

Zentauren, pfeilbewaffnet, hin und wieder,

Wie sie in unsrer Welt beim Jagen pflegten.

Doch alle hielten an, als sie uns sahen,

Und dreie sonderten sich von den andern,

Nachdem sie Bogen sich und Pfeil' erkoren.

Der eine rief von fern: Die ihr den Felsen

Herniedersteigt, zu welcher Marter kommt ihr?

Sagt ihr's nicht gleich, so drück' ich los den Bogen. –

Mein Meister aber sprach: Die Antwort werden,

Sobald wir unten sind, wir Chiron geben;

Zu deinem Unheil warst du stets so hitzig. –

Dann sagt' er, mich anrührend: Der ist Nessus,

Der für die schöne Dejanira starb

Und mit sich selber sich zu rächen wußte.[54]

Der mittelste, der nieder auf die Brust blickt,

Ist, der Achill erzog, der große Chiron,

Der dritt' ist Pholus, der so voller Zorn war.

Zu Tausenden umkreisen sie den Graben

Und wehren mit dem Pfeilgeschosse jedem,

Der mehr als seine Schuld gestattet auftaucht. –

Als wir genaht den schnellen Ungetieren,

Nahm Chiron einen Pfeil, und mit der Kerbe

Strich zu der Kinnlad' er den Bart zurück.

Dann mit dem großen unverhüllten Munde

Sagt' er zu den Gefährten: Saht ihr wohl,

Wie, was der zweite anrührt, sich beweget?

Der Toten Fuß hat solche Wirkung nimmer. –

Mein Führer, der ihm schon zur Seite stand

Da wo sich Mensch- und Tiergestalt berühren,

Erwidert' ihm: Gewiß ist er lebendig

Ich muß dies dunkle Tal ihm einsam zeigen;

Notwendigkeit, nicht Lust ists, die ihn herbringt.

Sein Hallelujasingen unterbrach

Ein hehrer Geist, der solche Pflicht mir auftrug;

Kein Dieb ist er, ich keines Räubers Schatten.

Doch, bei der Kraft, die auf so wildem Pfade

Mich wandeln heißt, gib aus der Schar der deinen

Uns einen mit, der unsre Schritte leitend

Des Blutstroms Furt uns zeigt, und der hinüber

Auf seinem Rücken diesen, der kein Geist ist

Und durch die Luft nicht gehn kann, willig trage. –

Da wandte Chiron sich zur rechten Seite

Und sagte: Nessus, geh' sie zu geleiten,

Und trefft ihr andre, heiße Platz sie machen. –

So gingen in verläßlicher Begleitung

Den Strand des roten Sudes wir entlang,

Aus dem der Wehruf der Gesottnen tönte.

Bis zu den Brau'n im Blut sah ich die einen:

Das sind Tyrannen, sagte der Zentaur.

Die reichlich Blut vergossen und geplündert,[55]

Beweinen hier erbarmungslose Taten.

Sieh Alexander hier und Dionysen,

Durch den Sizilien arge Zeit erfuhr.

Und jene Stirn mit dunkelschwarzem Haare

Gehört dem Azzolin; der Blonde aber

Ist Obizzo von Este, den in Wahrheit

Der Stiefsohn droben in der Welt gemordet. –

Drauf wandt' ich mich zum Meister; doch er sagte:

Jetzt sei dir Nessus erster, ich nur zweiter. –

Nicht weit davon hielt der Zentaur bei Schatten,

Die aus dem heißen Strom bis zu der Kehle

Auftauchen durften, seine Schritte an.

Auf einen, der allein stand, deutend, sprach er,

Das Herz durchbohrte der in Gottes Schoße,

Das an der Themse Strande noch geehrt wird. –

Und andre Geister sah ich weiterhin,

Die aus dem Fluß so Haupt als Brust erhoben;

Nicht wenige von dieser Zahl erkannt' ich.

Und seichter ward das Blut und immer seichter,

Daß es zuletzt die Füße nur bedeckte;

Da war's, wo wir den Graben überschritten.

Wie du gesehn hast, daß auf dieser Seite,

Sprach der Zentaur, der Strom des heißen Blutes

Sich mehr und mehr verflacht, so sollst du glauben,

Daß dort hinaus sein Boden immer tiefer

Sich senkt, bis er bei jener Stelle anlangt,

Wo Tyrannei in schwerer Marter seufzet:

Dort straft die göttliche Gerechtigkeit

Den Attila, der eine Geißel war,

Nebst Pyrrhus und nebst Sextus, und preßt ewig

Dem Rinier Pazzo und dem von Corneto,

Die raubend heimgesucht des Landes Straßen,

Die Tränen aus, die durch den Sud entquollen. –

Dann wandt er sich zur Rückkehr durch die Furt.[56]

Quelle:
Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. Berlin [1916], S. 52-57.
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