|
[238] Noch heftet' unverwandt ich meine Augen
Auf jenes grüne Laub, wie der zu tun pflegt,
Der seine Zeit verliert mit Vogelstellen.
Der mehr mir war als Vater, sagte: Sohn
Nun komm; die Zeit, die uns noch zugemessen,
Sind nützlicher wir zu verwenden schuldig. –
Das Antlitz und nicht minder schnell die Schritte
Wandt' ich den Weisen zu, und was sie sprachen
War so, daß ich des Weges Mühn nicht fühlte.
Da hörte ich: »tu' auf, Herr, meine Lippen!«
So herzgewinnend unter Tränen singen,
Daß Freude es zugleich und Schmerz erweckte.
Was ist das, süßer Vater, das ich höre? –
So frug ich. Schatten sind es, die den Knoten
Der Pflicht vielleicht im Gehen lösen, – sagt' er.
Wie Pilger wohl, versunken in Gedanken,
Wenn unterwegs sie Unbekannte treffen,
Nach ihnen umschaun, doch den Schritt nicht hemmen;
So blickte eine Schar uns staunend an,[238]
Die andachtsvoll und schweigend hinter uns
Mit schnell'ren Schritten kam, als sie vorbeiging.
Tief in den dunklen Höhlen sag ihr Auge,
Bleich war ihr Antlitz und so abgezehrt,
Daß eng die Haut sich auf die Knochen legte.
Ich glaube nicht, daß also zum Gerippe
Vertrocknet Erysichthon war vom Fasten,
Als er den Hungertod am meisten scheute.
Ich sagte bei mir selber in Gedanken:
So waren die Jerusalem verloren,
Als in ihr eignes Kind Maria biß. –
Steinlosen Ringen glich die Augenhöhle,
Und wer im Menschenantlitz omo liest,
Der hätte hier das M gar leicht erkannt.
Wer glaubte wohl, daß eines Apfels Duft
Und eines Wassers, das Verlangen weckend,
Man weiß nicht wie, die Schatten so verwandle?
Ich staunte schon, von was so ausgehungert
Sie sei'n; denn unbekannt war mir die Ursach
Von ihrer Magerkeit und Schuppenhaut.
Da, siehe, wandte aus des Hauptes Tiefen
Ein Schatten starren Blick's auf mich die Augen
Und rief dann: Welche Gnade widerfährt mir! –
Nie hätt' ich an den Zügen ihn erkannt;
In seiner Stimme aber offenbarte
Sich was verwüstet schien in seinem Aussehn.
An diesem Funken fachte die Erinn'rung
Der so entstellten Züge neu sich an,
Daß ich Forese's Antlitz drin ersah.
Er bat: Versage nicht dem dürren Aussatz,
Der mir die Haut entfärbt, und nicht dem Mangel
An Fleisch, woran ich leide, deine Antwort;
Nein, sage Wahrheit mir von dir, und wer
Die beiden Seelen sind, die dich begleiten.
Entziehe dich mir nicht und steh' mir Rede. –
Dein Antlitz, das ich schon als tot beweinte,[239]
Erwidert ich, gibt jetzt nicht mindren Grund mir
Zu Tränen, da ich so entstellt es sehe.
Drum sage schnell mir, was euch so entblättert.
Heiß mich nicht reden, während ich so staune;
Es spricht sich schlecht, wenn andres man im Sinn hat. –
Und er zu mir: Es legt der ew'ge Ratschluß
In Wasser und in Baum, dort hinter uns,
Die Kraft, von der ich also mich verzehre.
Die ganze Schar hier, welche weinend singt,
Erstrebt die Heiligung in Durst und Hunger,
Weil maßlos sie der Schlemmerei gefröhnt hat.
Ein Duft geht von dem Apfel und dem Wasser,
Das jenes grüne Laub besprühet, aus,
Der uns Verlangen weckt nach Trank und Speise,
Und nicht nur einmal, wenn wir diesen Ring
Im Kreis' umgehn, erneuert sich die Strafe
(Ich sage Straf' und sollte Freude sagen);
Denn zu dem Baum führt uns der gleiche Wille,
Durch welchen Christus freudig rief Eli,
Als er mit seinem Blute uns befreite. –
Und ich zu ihm: Forese, seit dem Tage,
Wo du die Welt vertauscht für bessres Leben,
Bis heute sind fünf Jahre nicht verstrichen.
War nun in dir die Fähigkeit zu sünd'gen
Erloschen, eh' die Zeit des rechten Schmerzes,
Der wieder uns mit Gott vereint, gekommen,
Wie kamst du schon bis hier herauf? Ich glaubte,
Dort außerhalb des Tor's dich anzutreffen,
Wo Zeit mit gleicher Zeit vergolten wird. –
Und er zu mir: Durch ihre heißen Tränen
Hat meine Nella mich so schnell gefördert,
Der Martern süßen Wermut zu genießen.
Ihr brünstiges Gebet und ihre Seufzer
Enthoben mich dem Abhang wo man wartet,
Und machten frei mich von den andren Kreisen.
Um so viel werter Gott, um so genehmer[240]
Ist meine Witwe, die ich innig liebte,
Je mehr sie einsam ist im guten Wandel.
Selbst die Barbagia in Sardiniens Bergen
Hält mehr auf Scham bei Mädchen und bei Frauen,
Als die Barbagia, wo ich sie zurückließ!
Was soll, o süßer Bruder, ich dir sagen?
Schon seh' ich eine künft'ge Zeit im Geiste,
Der nicht gar alt wird heißen diese Stunde,
Wo von der Kanzel man den Florentiner
Schamlosen Weibern untersagt, die Brüste
Bis zu den Warzen unverdeckt zu zeigen.
Bedurft' es geistlicher und andrer Strafen
Bei Sarazenen- und Barbarenfrauen
Jemals, damit den Busen sie verhüllten?
Doch wären sich die Unverschämten klar,
Was ihrer in des Himmels Kreislauf wartet,
Sie öffneten schon jetzt den Mund zum Heulen.
Denn, täuscht mich nicht, was ich voraus hier sehe,
Beginnt ihr Trauern, eh' die Wange dessen,
Der jetzt dem »Nanna« zuhört, Bart bekleidet.
Nun aber, Bruder, birg dich mir nicht länger;
Du siehst, daß, nicht nur ich, die Seelen alle
Dorthin schaun, wo die Sonne du verhüllest. –
Drauf ich zu ihm: Rufst du dir in's Gedächtnis,
Wie du mit mir und wie mit dir ich lebte,
So wird dich die Erinn'rung noch beschweren.
Von solchem Leben wandte mich erst neulich
Der ab, der vor mir geht, als deren Bruder,
Die dort am Himmel steht (die Sonne wies ich),
Euch voll geleuchtet. Durch die tiefe Nacht
Der wahrhaft Toten hat er mich geleitet
Mit diesem wahren Fleische, das ihm nachfolgt.
Von dort stieg ich empor durch seinen Zuspruch,
Den Berg umkreisend, welcher, was die Welt
An euch verbogen, wieder grade richtet.
Er will so lange, sagt er, mich begleiten,[241]
Bis ich, wo Beatrice sein wird, bin.
Von dort an soll ich sein Geleit entbehren.
Der solches mir verheißet, ist Virgil
(Und dabei zeigt' ich ihn); der andre Schatten
Ist der, um den vorhin in jedem Kreise
Eu'r Reich, das ihn aus sich entläßt, erbebte. –
Ausgewählte Ausgaben von
Die Göttliche Komödie
|
Buchempfehlung
Die vorliegende Übersetzung gibt den wesentlichen Inhalt zweier chinesischer Sammelwerke aus dem ersten vorchristlichen Jahrhundert wieder, die Aufzeichnungen über die Sitten der beiden Vettern Dai De und Dai Schen. In diesen Sammlungen ist der Niederschlag der konfuzianischen Lehre in den Jahrhunderten nach des Meisters Tod enthalten.
278 Seiten, 13.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.
434 Seiten, 19.80 Euro