Dritter Gesang

[155] Obwohl die schnelle Flucht die andren alle

Weithin verstreute über jene Fläche

Zum Berg hin, wo Gerechtigkeit uns züchtigt,

Schloß ich mich doch dem treuen Führer an;

Wie wär' ich ohne ihn auch vorgegangen,

Wer hätte mich den Berg hinaufgeleitet?

Es schien mir, daß ihn sein Bewußtsein schelte.

O unbeflecktes, würdiges Gewissen,

Wie ist ein kleiner Fehl dir herber Vorwurf!

Als sich der Eile seine Füß' entschlugen,

Die jeder Handlung raubt den rechten Anstand,

Erschloß mein Geist sich, der bisher gebannt war,

Begierig neue Dinge wahrzunehmen,

Und zu dem Berge wandt' ich meine Blicke,

Der mehr als einer aus dem Meere auftaucht.

Und, was in meinem Rücken rötlich glühte,

Das Sonnenlicht, war vor mir unterbrochen

In der Gestalt, in der mein Leib es hemmte.

Als nur vor mir ich dunkel sah die Erde,

Da kehrt' ich voller Schrecken mich zur Seite,

Weil ich verlassen mich vom Führer wähnte.

Doch, der mir Stütze war und Trost, begann,

Mir gänzlich zugekehrt: Warum mißtraust du,

Glaubst du mich fern und daß ich dich nicht führe?

Schon sinkt der Abend dort wo meinen Körper,

In dem ich Schatten warf, Neapel hegt,

Das ihn den Brundusinern hat entnommen.

Ist denn kein Schatten jetzt vor mir zu sehen,

So wundre dich's nicht mehr, als daß ein Himmel

Dem andren keinen Strahl des Lichts verdecket.

Um Qualen zu erdulden, Frost und Gluten,

Gibt Leiber, jenen ähnlich die wir hatten,

Die Kraft uns, die geheimhält, wie sie schaffe.[156]

Betört ist, wer mit menschlichem Verstande

Den Weg ohn' End' erspähn will, den ein Wesen

In drei Personen geht in seinem Wirken.

Begnügt, ihr Menschen, euch bei dem »So ist es!« –

Denn, wäret, alles zu verstehn, ihr fähig,

So brauchte nicht Maria zu gebären;

Wohl sah't vergeblich solche ihr verlangen,

Die, wenn je einer, Frucht erwarten durften

Der Sehnsucht, die für sie nun ew'ge Qual ist.

Den Aristoteles und Plato mein' ich

Und andre mehr. – Alsdann senkt er die Stirne

Und schwieg, nachhängend traurigen Gedanken.

Zum Fuß des Berges waren wir gelangt;

Doch war der Felsenhang von solcher Steile,

Daß fruchtlos blieb des Bein's Behendigkeit.

Die wüstesten, die jähsten Felsensteige

Dort von Turbia bis gen Lerici

Sind im Vergleiche gar bequeme Treppen.

Wenn man nun wüßte, wo der Berg sich senket,

Begann mein Meister, seine Schritte hemmend,

So daß, wer keine Flügel hat, hinaufkann. –

Und während er, den Blick zur Erde senkend,

Des Weg's Beschaffenheit noch untersuchte,

Und an der Felsenwand empor ich schaute,

Sah eine Schar von Geistern linkerhand

Ich ihre Füße auf uns zu bewegen;

Jedoch so langsam, daß man's kaum gewahr ward.

Erhebe, sagt' ich da, dein Auge, Meister,

Dort sind, wenn du nicht selber Auskunft findest,

Die ob des Weges uns belehren werden. –

Er blickte auf und mit entschlossnem Tone

Erwidert' er: So komm; die gehn gar sachte,

Du aber hoffe sicher, lieber Sohn! –

Wir mochten Schritt gegangen sein,

Und jene Geisterschar war uns nur noch

Um eines guten Wurfes Weite fern,[157]

Als an die harte Wand des hohen Ufers

Sich drängend alle unbeweglich standen,

Wie wer, des Weg's unsicher, spähend stehn bleibt.

Ihr wohlgestorbnen, schon erkornen Seelen,

Also begann Virgil, bei jenem Frieden

Der eurer aller, wie ich glaube, wartet,

Sagt uns, wo sich des Berges Steile senket,

So daß hinaufzusteigen möglich werde.

Zeit zu verlieren scheut zumeist der Kluge. –

So wie die Schäflein aus der Hürde kommen

Zu zweien oder drei'n, indes die andren

Furchtsam so Aug' als Schnauze niedersenken,

Und was das erste tut, das tun die andren;

Einfach und still und das warum nicht wissend,

Stehn sie, ihm angedrängt, sobald es stehn bleibt.

Also sah damals ich die Spitze jener

Beglückten Herde zögernd sich bewegen,

Im Antlitz schamhaft und im Gange ehrbar.

Als nun das Sonnenlicht zu meiner Rechten

Am Boden unterbrochen sah'n die vordern,

So daß der Schatten fiel von mir zum Fels hin,

Da standen sie und traten scheu zurücke;

Die andren aber hinter ihnen taten

Das gleiche, ob sie wohl den Grund nicht kannten.

Bevor ihr fraget, will ich euch bekennen,

Daß dieser hier ein Menschenkörper ist;

Drum ist das Sonnenlicht vor ihm gespalten.

Erstaunet nicht und seid vielmehr versichert,

Daß er nicht ohne Kraft, gewährt von oben,

Bestrebt ist, diese Felswand zu erklimmen. –

Also mein Meister, und die werten Seelen,

Mit umgekehrter Hand uns winkend riefen:

Kehrt um; dort vorwärts findet ihr den Eingang. –

Und einer aus der Schar begann: Wer immer

Du seiest, schaue her, indes du wandelst,

Ob jemals du dort jenseit mich gesehn hast. –[158]

Ich wandte mich ihm zu mit scharfem Blicke;

Blond war und schön er und von edlem Ansehn,

Doch hatt' ein Hieb gespalten eine Braue.

Als ehrerbietig ich darauf verneinet,

Ihn je gesehn zu haben, sprach er: Sieh' dann! –

Und zeigt' hoch auf der Brust mir eine Wunde.

Dann lächelt' er und sagte: Ich bin Manfred,

Der Enkelsohn der Kaiserin Constanza.

Drum bitt' ich dich, wenn zu der Welt du heimkehrst,

Zu meiner schönen Tochter, die die Mutter

Von Arragon's und von Siziliens Ruhm ist,

Zu gehn, statt Lüge Wahrheit ihr zu künden.

Als mir durchbohrt von zweien Todeswunden

Der Körper war, da übergab ich weinend

Dem Herren mich, der willig zu verzeihn ist.

Entsetzlich waren meine Sünden; doch

So groß ist Gottes Gnadentum, daß jeden,

Der reuig sich ihm zukehrt, er ergreifet.

Wenn dieses Blatt im Worte Gottes besser

Der Hirte von Cosenza, welchen Clemens

Jagd auf mich machen hieß, gelesen hätte,

So ruhten die Gebeine meines Leibes

Noch jetzt bei Benevent am Fuß der Brücke,

Behütet von den aufgehäuften Steinen.

Jetzt schlägt der Regen und zerstreut der Wind sie

Jenseits der Grenze nah dem Verdestrande,

Wohin er bei verlöschtem Licht sie brachte.

Wem sie geflucht, ist drum nicht so verloren,

Daß nicht, so lang die Hoffnung nicht verdorrt ist,

Die ew'ge Lieb' ihm wiederkehren könnte.

Wer ungehorsam stirbt der heil'gen Kirche,

Muß, endet er auch reuig, dreißigmal

Solang' als er in seinem Trotz beharrte,

Von diesem Felsenufer ausgeschlossen

Verweilen, wenn die so bestimmte Frist

Durch wirksames Gebet ihm nicht gekürzt wird.[159]

Erkenne nun, ob du mir wohltun kannst,

Enthüllst du meiner wackeren Constanza

Wie du mich fandest und was mich hier festhält.

Gar förderlich sind hier uns die dort drüben. –

Quelle:
Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. Berlin [1916], S. 155-160.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Die Göttliche Komödie
Die Göttliche Komödie
La Commedia / Die göttliche Komödie: I. Inferno / Hölle Italienisch/Deutsch
Inferno: Die göttliche Komödie
Die Göttliche Komödie
Die Göttliche Komödie (insel taschenbuch)

Buchempfehlung

Kleist, Heinrich von

Die Hermannsschlacht. Ein Drama

Die Hermannsschlacht. Ein Drama

Nach der Niederlage gegen Frankreich rückt Kleist seine 1808 entstandene Bearbeitung des Hermann-Mythos in den Zusammenhang der damals aktuellen politischen Lage. Seine Version der Varusschlacht, die durchaus als Aufforderung zum Widerstand gegen Frankreich verstanden werden konnte, erschien erst 1821, 10 Jahre nach Kleists Tod.

112 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon