Erster Gesang

[148] Zeuch auf die Segel, um nun bess're Fluten,

O Schifflein meines Geistes, zu durchschneiden,

Das hinter sich so grimmes Meer zurückläßt.

Von jenem zweiten Reiche will ich singen,

Wo sich der Geist der Abgeschiednen läutert

Und würdig wird zum Himmel aufzusteigen.

Doch hier erhebe ich die tote Dichtkunst,

O heil'ge Musen, denn ich bin der eure,

Und höher schwinge sich Calliope,

Mein Lied mit jenem Klange zu begleiten,

Der so die armen Pieriden traf,

Daß des Verzeihens Hoffnung sie verloren.

Des indischen Sapphires schöne Farbe,

Die sich im Anblick dieser, bis zum ersten

Der Kreise lautren, Luft gesammelt bot,

Gewährte meinen Blicken neue Wonne,

Sobald ich aus der toten Luft hervortrat,

Die mir betrübt so Brust als Augen hatte.

Der ganze Morgenhimmel lacht' im Glanze

Des schönen Wandelsterns, der Liebe fördert,

So daß die Fisch' erblichen, die ihn hegten.

Als ich, nach rechts mich kehrend, jenem Pole

Mein Augenmerk zuwandte, sah' vier Stern' ich,

Die seit den ersten Menschen niemand sah.

Zu freun schien sich der Himmel ihrer Flämmlein.

Wie bist du, mitternächtig Land, verwaiset,

Weil dieser Sterne Anblick dir versagt ist!

Von ihrem Anschaun wandt' ich meine Blicke

Ein wenig mehr dem andren Pole zu,

An dem der Wagen unsichthar geworden.

Da sah, mir nächst, ich einen Greis allein stehn;

Nach seinem Aussehn solcher Ehrfurcht würdig,

Wie größre nie ein Sohn dem Vater schuldet.[148]

Lang trug den Bart er, der, dem Haupthaar ähnlich,

In reichlichem Gemisch von weißen Haaren

Zur Brust herab in Doppelstreifen wallte.

Sein Angesicht umleuchteten die Strahlen

Der heiligen vier Lichter so mit Klarheit,

Daß ich ihn sah, als wie im Licht der Sonne.

Wer seid ihr, die, dem dunklen Bach entgegen,

Entflohn ihr seid dem ewigen Gefängnis? –

So redend, regt' er die ehrwürdigen Haare.

Wer war euch Führer, wer hat euch als Leuchte

Gedient, als ihr herausstiegt aus der Nacht,

Die stets das Höllental bedeckt mit Dunkel?

Ist das Gesetz des Abgrunds so gebrochen,

Hat neuer Ratschluß obgesiegt im Himmel,

Daß, als Verdammt', ihr kommt zu meinem Felsen? –

Bei diesen Worten faßte mich mein Führer

Und hieß mit Worten, Hand und Winken mich,

Durch Aug' und Kniee Ehrfurcht ihm beweisen.

Dann sagt' er: Nicht von freien Stücken kam ich;

Vom Himmel stieg ein Weib, auf deren Bitte

Ich diesem Beistand lieh durch mein Geleite.

Doch weil dein Wunsch es ist, daß ich genauer,

Wie sich's mit uns verhält, dir offenbare,

Kann nicht der meine sein, es zu verschweigen.

Noch nimmer sah den letzten Abend dieser;

Doch bracht' ihn seine Torheit ihm so nahe,

Daß gar geringe Zeit noch daran fehlte.

Gesendet ward ich, wie du schon vernommen,

Um ihn zu retten, und zum Ziele führte

Von allen Wegen der nur, den ich einschlug.

Schon zeigt' ich ihm die Sünder all' und denke

Ihm nun die andren Seelen auch zu zeigen,

Die unter deiner Obhut hier sich läutern.

Viel Zeit bedürft' es, wollt' ich dir erzählen,

Wie ich ihn hergebracht; durch Kraft von oben

Führt' ich ihn her, zu sehn dich und zu hören.[149]

Geneige denn, sein Kommen gutzuheißen.

Nach Freiheit strebt er, deren Wert am besten

Versteht, wer ihrethalb das Leben aufgab.

Du weißt es, denn nicht scheutest du den Tod

In Utica für sie, wo das Gewand

Du ließest, das am großen Tag wird leuchten.

Wir brachen nicht die ewigen Gesetze,

Denn dieser lebt, und ich bin, frei von Minos,

In jenem Kreise, wo die schönen Augen

Von deiner Marcia sind, die noch den Wunsch hegt,

O heil'ges Herz, daß du für dein sie haltest. –

So sei uns, ihr zu Liebe, denn gewogen,

Laß deine sieben Reiche uns durchwandeln.

Erlaubst du, daß dort unten man dich nenne,

So werd' ich unsren Dank ihr überbringen. –

So angenehm war Marcia meinen Augen,

So lang' ich jenseits weilte, sagt' er drauf,

Daß jeden ihrer Wünsch' ich ihr gewährte.

Doch, seit sie jenseits weilt des argen Flusses,

Berührt sie mich nicht mehr nach dem Gesetze,

Das aufgerichtet ward, als ich dort ausging.

Doch wenn, wie du mir sagst, ein Weib vom Himmel

Dich gehn hieß und dich lenkt, bedarf's kein Schmeicheln;

Daß ihrethalb du bittest, muß genügen.

So geh' und sorge, daß mit schlichter Binse

Du diesen kränzest und vom Angesicht,

Ihn rein'gend, jede Schmutzesspur du tilgest;

Denn ungeziemend würd' es sein, mit Augen

Die Nebel noch umfingen, vor den ersten

Der Paradieses-Diener hinzutreten.

Es trägt ringsum an ihrem untren Ende,

Wo Wellen sie bespülen, diese Insel

Der Binsen viel auf ihrem grünen Ufer.

Nicht würde ein Gewächs, das sich belaubte

Und Holz ansetzte, dort am Leben bleiben,

Weil es der Welle Schlägen sich nicht fügte.[150]

Nicht hierher mögt ihr dann zurück euch wenden.

Die Sonne, die gleich aufsteigt, wird euch weisen

Wo ihr den Berg in mindrer Steile angreift. –

Damit verschwand er, aber ich erhob mich

Und schloß mich schweigend eng an meinen Führer,

Auf den ich aufmerksam die Augen wandte.

Darauf begann er: Folge meinen Schritten,

Und kehren wir zurück, denn diese Ebne

Neigt dorthin sich zu ihrem untren Ende.

Schon wich die Dämmerung der Morgenhelle

Und floh gen Westen, so daß aus der Ferne

Des Meeresspiegels Zittern ich erkannte.

Wie wer zum Weg, den er verfehlte, umkehrt

Und meint, bis zu ihm hin geh' er vergebens,

So schritten wir auf jener öden Fläche.

Als wir dorthin gelangten, wo der Tau

Im Kampf ist mit der Sonne, doch an Stellen

Wo länger Schatten bleibt nur schwach verdunstet,

Da streifte mit den ausgespannten Händen

Gelinde das betaute Gras mein Meister.

Ich aber, der erriet, was er bezweckte,

Bot ihm die tränenreichen Wangen dar.

Da ließ die Farbe, die der Hölle Qualen

An mir verhüllt, er völlig wiederkehren.

Dann kamen wir zum öden Meeresstrande,

Der niemals seine Flut durchschiffen sah

Von einem, der dann heimgekehret wäre.

Dort kränzt er mir die Stirn nach jenes Willen,

Und, Wunder! jede unscheinbare Pflanze,

Die er erkor, wuchs an derselben Stelle,

Wo er sie ausriß, gleich in alter Weise.

Quelle:
Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. Berlin [1916], S. 148-151.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Die Göttliche Komödie
Die Göttliche Komödie
La Commedia / Die göttliche Komödie: I. Inferno / Hölle Italienisch/Deutsch
Inferno: Die göttliche Komödie
Die Göttliche Komödie
Die Göttliche Komödie (insel taschenbuch)

Buchempfehlung

Hoffmann von Fallersleben, August Heinrich

Deutsche Lieder aus der Schweiz

Deutsche Lieder aus der Schweiz

»In der jetzigen Zeit, nicht der Völkerwanderung nach Außen, sondern der Völkerregungen nach Innen, wo Welttheile einander bewegen und ein Land um das andre zum Vaterlande reift, wird auch der Dichter mit fortgezogen und wenigstens das Herz will mit schlagen helfen. Wahrlich! man kann nicht anders, und ich achte keinen Mann, der sich jetzo blos der Kunst zuwendet, ohne die Kunst selbst gegen die Zeit zu kehren.« schreibt Jean Paul in dem der Ausgabe vorangestellten Motto. Eines der rund einhundert Lieder, die Hoffmann von Fallersleben 1843 anonym herausgibt, wird zur deutschen Nationalhymne werden.

90 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.

442 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon