Sechsundzwanzigster Gesang

[250] Als so am Rand' hin, einer nach dem andern,

Wir gingen und der Meister öfters sagte:

Sei vorsichtig und folge meinen Tritten –

Traf auf die rechte Schulter mich die Sonne,

Die, strahlend, schon den ganzen Abendhimmel,

Statt blau, sowie zuvor, weiß scheinen ließ.

Und glühnder war der Flamme Farbe, wo

Mein Schatten hinfiel; manche Seele aber

Sah, gehend, ich auf dieses Zeichen merken.

Ob dieser Ursach fingen diese Geister

Von mir zu reden an, und einer sagte

Zum andern: Jener scheint kein Schattenkörper.

Dann traten einzelne, soviel sie konnten,[250]

Zu mir heran, gewissenhaft vermeidend,

Den Raum der Flammenqual zu überschreiten.

Der du, wohl nicht weil säumiger du wärest,

Den andren nach, vielleicht aus Ehrfurcht, wandelst,

Gib Antwort mir, den Durst und Feuer brennen.

Bedürftig deiner Antwort bin nicht ich nur:

Wir alle dürsten mehr danach als Inder

Und Mohren sich nach kaltem Wasser sehnen.

Gieb Auskunft uns, weswegen du nicht anders

Als Wand der Sonne dienst, wie wenn du nimmer

Geraten wärest in das Netz des Todes. –

So sprach der ein' aus jener Schar, und Auskunft

Hätt' ich sogleich erteilt, wenn nicht in Anspruch

Ein neues Schauspiel mich genommen hätte.

In des entflammten Weges Mitte kamen,

Den vorigen entgegen, andre Schatten,

Auf die allein sich nun mein Auge wandte.

Da sah von beiden Seiten ich die Schatten

Sich im Vorübereilen paarweis küssen,

Mit kurzem Gruß sich ohne Rast begnügend.

So sieht in ihrer braunen Schar man eine

Ameise, Maul an Maul, die andre grüßen,

Wohl um, wohin es geht und wie zu hören.

Und eh' sie nach der freundlichen Begegnung

Den ersten Schritt getan, bemüht sich, lauter

Noch als die andre, jede Schar zu rufen:

Die Neugekommnen: »Sodom und Gomorrha!«

»Pasiphaë steigt in die Kuh«, die andre,

»Damit der Stier sich ihrer Geilheit füge«.

Wie Kraniche, die teils zur Wüste, teils

Zu den Riphäer Bergen flögen, jene,

Weil Frost sie, diese, weil sie Sonne scheuten,

So ging dann eine Schar, die andre kam

Und fuhr im vorigen Gesange, weinend,

Und in dem Rufe fort, der ihr geziemte.

Und die vorher um Auskunft mich gebeten,[251]

Sie traten, wie zuvor, an mich heran,

Sichtlich auf was ich reden würde merkend.

Ich aber, der schon zweimal ihr Begehren

Gesehn, begann: O Seelen, die ihr Frieden,

Wann es auch sei, gewiß seid zu erlangen,

Nicht unreif und nicht reif ließ meine Glieder

Ich dort zurück; nein sie begleiten hier

Mit ihrem Blute mich und ihren Muskeln.

Empor steig' ich, um nicht mehr blind zu bleiben.

Ein Weib ist droben, das uns Gnad' erwirbt;

Ihr dank' ich's, wenn im Leib' ich zu euch komme.

Doch, soll eu'r höchster Wunsch sich bald erfüllen

Und Herberg' euch der Himmel, der am weit'sten

Sich wölbt und ganz von Lieb' erfüllt ist, werden,

So sagt mir, daß ich einst es niederschreibe,

Wer seid ihr, und wer ist die Schar, die dorten

Von hinnen eilet hinter eurem Rücken? –

Nicht anders steht, betroffen und verwirrt

Der Bergbewohner und verstummt im Schauen,

Betritt die Stadt er bäurisch, unerfahren,

Als in Gebärden jeder Schatten tat.

Doch als sie des Erstaunens sich entledigt,

Das in den edlen Herzen schneller nachläßt,

Begann derselbe, der zuerst mich fragte:

Heil dir, daß du, um seliger zu sterben,

Erfahrung sammeln darfst an unsren Küsten

Die Schatten, die nicht mit uns gehn, sie haben

Durch das gesündigt, weshalb beim Triumphe

Sich Cäsar »Königin!« zurufen hörte.

Darum entfernten sie sich »Sodom!« rufend,

Als Vorwurf für sie selbst, wie du vernahmest,

Und fördern durch die Scham der Flamme Wirkung.

Doch unsre Sünde war hermaphroditisch,

Und weil, statt menschliches Gesetz zu wahren,

Wir, Tieren gleich, der schnöden Lust gehorchten,

Wird, wenn wir scheiden, die zu unsrer Schande[252]

Von uns genannt, die im vertierten Holze

Aus Wollust selber sich zum Tier erniedrigt.

Nun kennst du unsre Schuld und unsre Weise;

Doch, wolltest du noch, wer wir sind, vernehmen,

So langt die Zeit nicht und mir fehlt die Kunde.

Was mich betrifft, will ich dir gern genügen;

Mein Nam' ist Guido Guinizelli. Läutern

Darf ich mich jetzt schon, denn in Reue starb ich. –

Wie nach Lykurgus' Unglück die zwei Söhne

Beim Wiedersehn der Mutter sich gebahrten,

So tat ich, doch mit minderem Erkühnen,

Als ich vernahm, wie der sich selber nannte,

Der mir und all den Bess'ren Vater war,

Die süße Liebesreime je gedichtet.

Nicht redend und nicht hörend ging ich lange

Nachdenklich in sein Anschaun ganz versunken;

Doch näher trat ich nicht, des Feuers wegen.

Als ich geweidet mich zum Schauen hatte,

Erbot ich ihm zu jedem Dienst mich willig

Mit der Beteurung, welche Glauben findet.

Und er zu mir: So lichtes Angedenken

Läßt du in mir zurück durch deine Worte,

Daß Lethe mir's nicht rauben kann noch schwächen;

Doch, soll, was du geschworen, sich bewähren,

So sage mir, warum du solche Liebe

In Worten mir bezeigest und in Blicken? –

Und ich: Der Grund sind eure süßen Lieder,

Die wert den Griffel machen, der sie schrieb,

So lang' der neue Dichterbrauch bestehn wird. –

O Bruder, sagt' er, den ich mit dem Finger

Dir weis' (und einen Schatten vor mir zeigt' er),

Der war ein bessrer Schmidt der Muttersprache.

In Liebesversen und Romanenprosa

Ziemt ihm der Preis, was auch die Toren sagen,

Die den aus Limousin für höher achten.

Mehr auf den Ruf, als auf die Wahrheit schaun sie,[253]

Und stellen so ihr Urteil fest, bevor

Was Kunst und Einsicht sagen, sie vernommen.

So tat vor Zeiten oft man mit Guittone,

Den jeder pries, weil er ihn preisen hörte,

Bis jetzt die Wahrheit obgesiegt durch manche.

Ist dir solch hoher Vorzug nun geworden,

Daß in das Kloster dir zu gehn erlaubt ist,

In welchem Christus des Kapitels Abt ist,

So richt' an ihn für mich ein Vaterunser,

So weit als wir's in dieser Welt bedürfen,

Wo die Versuchung uns nicht länger anficht. –

Dann, wohl um einem andren Raum zu geben,

Der nächst ihm ging, verschwand er in dem Feuer,

Dem Fisch gleich, der im Wasser niederfährt.

Ich trat zu dem, der mir gezeigt war, vor

Und sagt' ihm, welchen freudigen Empfang

Für seinen Namen mein Verlangen sichre.

Darauf begann er willig so zu reden:

Die Bitte, die ihr höflich tut, erfreut mich,

So daß ich mich nicht bergen kann noch will.

Ich bin Arnald und unter Tränen sing' ich.

Wohl seh' ich trauernd die vergangne Torheit;

Doch schon erquickt mich die gehoffte Freude.

Darum beschwör' ich euch bei jener Kraft,

Die euch zum Gipfel führt von diesen Stufen,

Daß ihr bei Zeiten meines Leid's gedenket! –

Drauf barg er sich im Feuer, das sie läutert.

Quelle:
Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. Berlin [1916], S. 250-254.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Die Göttliche Komödie
Die Göttliche Komödie
La Commedia / Die göttliche Komödie: I. Inferno / Hölle Italienisch/Deutsch
Inferno: Die göttliche Komödie
Die Göttliche Komödie
Die Göttliche Komödie (insel taschenbuch)

Buchempfehlung

Diderot, Denis

Rameaus Neffe

Rameaus Neffe

In einem belebten Café plaudert der Neffe des bekannten Komponisten Rameau mit dem Erzähler über die unauflösliche Widersprüchlichkeit von Individuum und Gesellschaft, von Kunst und Moral. Der Text erschien zuerst 1805 in der deutschen Übersetzung von Goethe, das französische Original galt lange als verschollen, bis es 1891 - 130 Jahre nach seiner Entstehung - durch Zufall in einem Pariser Antiquariat entdeckt wurde.

74 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon