Siebzehnter Gesang

[213] Erinn're Leser dich, wenn im Gebirge

Dich je ein Nebel überfiel, durch den du

Nicht anders sahst, als durch das Fell der Maulwurf,

Wie dann, wenn erst die dichten feuchten Dünste

Zu lockern sich beginnen, schwachen Scheines

Das Licht der Sonnenscheibe durch sie eindringt,

Dann wird es ohne Mühe dir gelingen,

Dir vorzustellen, wie zuerst die Sonne

Ich wiedersah, die eben unterging.

So trat ich, nach des Meisters sich'ren Schritten

Mich richtend, aus der Wolke in die Strahlen,

Die schon am nied'ren Uferrand erstarben.

Einbildungskraft, die du uns manches Mal

Uns selber so entrückst, daß wirs nicht hörten,

Ob um uns tausendfach Posaunen klängen,

Wer regt dich an, da dich der Sinn nicht wachruft? –

Ein Licht ist's, das bald aus sich selbst der Himmel

Gebildet, bald ein höhrer Wille sendet.

In meiner Vorstellung erschien ein Abbild

Der Bosheit jener, die sich in den Vogel

Verwandelt, den zumeist erfreut das Singen.

Und so sehr war in sich zurückgezogen[213]

Mein Geist, daß keine Art von äuß'rem Eindruck

Er damals in sich aufgenommen hätte.

Es stürzte in die hohe Phantasie

Dann ein Gekreuzigter, nach seinem Aussehn

Stolz und erzürnt, und ebenso verschied er.

Es standen um ihn Ahasver, der große,

Esther, die Königin, und Mardochai,

Der so gerecht im Handeln war und Reden.

Als dann dies Bild von selbst, wie es gekommen,

Verschwunden war, gleichwie, sobald das Wasser,

Das sie umhüllte, fehlt, zerspringt die Blase,

Erschien in meiner Vision ein Mädchen,

Das heftig weinend rief, o Königin,

Warum hast zürnend du dich selbst vernichtet?

Lavinien nicht zu lassen, tötetest

Du dich; jetzt hast du mich verlassen, Mutter,

Und deinen Sturz betraur' ich vor dem fremden. –

So wie der Schlaf, wenn er vom neuen Lichte,

Das plötzlich die geschloss'nen Augen trifft,

Verscheucht wird, eh' er ganz entschwindet, nachzuckt,

Also versanken diese inn'ren Bilder,

Sobald ein Lichtglanz mir das Antlitz traf,

Um vieles größer, als wir ihn gewohnt sind.

Ich wandte mich zu sehen, wo ich wäre;

Da hört' ich sagen: Hier steigt man hinauf. –

Darob vergaß ich jedes andre Denken.

Und so begierig wurde mein Verlangen,

Mit Augen den zu sehn, der so gesprochen,

Daß nicht geruht es, ohn' Erfüllung, hätte.

Doch wie die Sonne unsren Blick bewältigt

Und uns ihr Bild durch Übermaß verschleiert,

So reichte dort auch meine Kraft nicht hin.

Ein gottgesandter Geist, der ungebeten

Den Weg hinaufzugehn uns anweist, ist es

Und er verbirgt sich in dem eignen Lichte.

Er hilft uns so, wie jedermann sich selber;[214]

Denn, wer die Not sieht, und auf Bitten wartet,

Der denkt böswillig schon an das Verweigern.

Laß solcher Ladung uns'ren Fuß denn folgen.

Beschleun'gen wir das Steigen, eh' es Nacht wird;

Unmöglich wär's nachher bis Tages Anbruch. –

So sprach mein Führer und die Schritte wandten

Wir beide, er und ich, der Treppe zu,

Und als ich kaum erreicht die erste Stufe,

Fühlt' ich mir nahe wie ein Flügelschlagen,

Gleich Windshauch im Gesicht, und: selig sind,

Die ohne Zorn friedfertig sind –, so tönt' es. –

Schon waren über uns die letzten Strahlen,

Auf welche dann die Nacht folgt, so erhaben,

Daß Sterne hin und wieder uns erschienen,

O meine Kraft, was schwindest du mir so? –

Sagt' ich zu mir, als ich die Kraft der Füße

So unerwartet mir versagen fühlte.

Wir waren da, wo nicht weiter aufwärts

Die Treppe steigt, und fühlten uns gehalten

Dem Schiffe gleich, das auf den Strand gelaufen.

Erst horcht' ich eine Weile, ob vielleicht

Im neuen Kreis' ich etwas hören möchte.

Dann sagt' ich, meinem Meister zugewendet:

O süßer Vater, welche Übertretung

Wird in dem Kreis gebüßt, in dem wir weilen?

Nicht ruhe, ruht der Fuß, auch deine Rede. –

Und er zu mir: Ergänzt wird hier die Liebe

Zum Guten, die an's Maß der Pflicht nicht reichte;

Hier schlägt man neu das schlaff geführte Ruder.

Doch, daß noch völliger du mich verstehest,

So wende deinen Geist mir zu; ergiebig

An guter Frucht wird dann dir unser Weilen.

So wenig das Geschöpf, als wie der Schöpfer

War, wie du selber weißt, je ohne Liebe,

Die bald Natur und bald der Wille einflößt.

Die Liebe von Natur kann niemals irren;[215]

Die andre kann es wegen schlechten Zieles

Und allzu schwacher und zu großer Kraft.

Ist auf die ersten Güter sie gerichtet,

Und hält sie in den niedren rechtes Maß,

So kann sie nimmer schlechte Lust erzeugen;

Doch, kehrt sie sich zum Bösen, oder strebt sie

Zum Guten übereifrig oder lässig,

So wirkt dem Schöpfer das Geschöpf entgegen.

Hieraus kannst du entnehmen, daß die Liebe

In euch der Samen ist jedweder Tugend

Und jeder Handlung, welche Strafe fordert.

Weil nun die Liebe nimmer von dem Heile

Der eignen Wesenheit sich wenden kann,

Sind vor dem Selbsthaß alle Dinge sicher.

Und weil kein Wesen sich getrennt vom höchsten

Und nur auf sich beruhend, denken läßt,

Kann sich der Haß nie gegen jenes kehren.

So bleibt denn, teil' ich anders richtig ein,

Daß man des Nächsten Unheil liebt, und dreifach

Kann solche Lieb' entstehn in eurem Staube.

Der eine hofft vom Niedergang des Nächsten

Die eigene Erhebung und wünscht deshalb

Herabgedrückt von seiner Höhe jenen.

Der andre fürchtet, Macht, Gunst, Ruhm und Ehre,

Sobald der Nächste aufsteigt, zu verlieren,

Und scheut dies so, daß er ihm Unheil anwünscht.

Der Dritte fühlt sich durch Beleidigung

So sehr beschämt, daß er nach Rache dürstet

Und deshalb auf des Nachbarn Übel sinnet.

Solch' dreifach falsche Liebe wird hier unten

Beweint; doch sollst du nun von der vernehmen,

Die mit unricht'gem Maß zum Guten strebt.

Ein Gut nimmt jeder wahr, ob auch verworren,

In dem Befriedigung die Seele finde,

Weshalb jedweder strebt, dies zu erreichen.

Ist lässig eure Lieb' es zu erkennen,[216]

Ist sie es im Erwerben, so bestraft euch,

Nachdem ihr recht bereu't habt, dieser Kreis.

Noch gibt es Güter, die nicht glücklich machen,

Die nicht das Heil sind, nicht der gute Keim,

In welchem alle guten Früchte wurzeln.

Geht solchem Gut zu sehr die Liebe nach,

Wird über uns beweint sie in drei Kreisen.

Warum indes die Büßung dreigeteilt ist,

Verschweig' ich, daß du selber es erkundest. –

Quelle:
Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. Berlin [1916], S. 213-217.
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