[Es war im Herbst, man machte Wein]

[671] Es war im Herbst, man machte Wein,

Da hört' ich nachts mein Kissen schrein,


Frau Königin schlief still bei mir,

Ich dacht: »Das Mohrle schreit nach dir.«


Abends ging ich den Weinbergweg,

Den ich so gern zu gehen pfleg'.


Die Stadt lag unten voll Gelichter,

Häuser weinselig wie Gesichter,


Wie Phantasie glühte der Fluß,

Wer darauf geht, ertrinken muß.


Froh bei den Winzern traf ich sie,

Und still sprach ich: Jetzt oder nie!


Das Mohrle ließ aus allen Taschen

Ihr Lachen los wie aus Weinflaschen,


Wir lachten in den Weinberglauben,

Die Herzen gärten wie die Trauben,


Man ließ Raketen glühend steigen,

Als müßt' man die Gefühle zeigen.


Der Most nimmt manchen Gott im Sturm,

Viel öfters noch den Erdenwurm,


Wir knackten Nüsse, tranken Most,

Herz stieß ans Herz und sagte: Prost!


Als mit den Winzern heim wir zogen,

Ist von der Hand mein Ring geflogen.


Ein steinern Heil'genbild dort stand,

Da flog der Ehring von der Hand.
[671]

Weiß schien das Antlitz der Madonnen,

Vom Garten, wo nur Nonnen wohnen.


Als tät sie mir 'n vom Finger ziehn,

So flog der Ring zum Garten hin.


Den Liebestanz tat ich just lehren,

Der Himmel wollt' es mir verwehren,


Denn plötzlich Regen runterrannte

Und man sein Parapluie aufspannte.


Doch wir tanzten im Regen fort,

Die Füße hatten froh das Wort,


Das Herz schlug Takt hinter der Weste,

Ich hob den Arm mit schönster Geste.


Da war's, daß mir der Ring fortflog,

Er, der nicht gern mit mir betrog.


Ich suchte ihn in allen Falten,

Die Nonnen haben ihn behalten.


Vielleicht, wenn er im Garten liegt

Und kleine Eheringe kriegt,


Verliebt werden die Nonnen werden

Und Klöster schwinden von der Erden.


So scherzte ich darüber hin,

Weil's Mohrle mich zu lieben schien.


Zum Weinberg führten tausend Stufen,

Beim Aufstieg manchem Müh sie schufen,


Ich hab' es umgekehrt gemacht,

Der Abstieg hat mir Müh' gebracht,


Dacht' ich an Mohrles Haustürschwelle,

Die wartete als Trennungsstelle.
[672]

Liegt still die Stadt nachts hinter Türen,

Tut man aus Häusern 's Küssen spüren.


Was ganze Häuser glücklich macht,

Ansteckend wirkt das oft bei Nacht,


Und auch aus Mohrles Stiegenhaus

Sah's Dunkel ansteckend hinaus.


Liebt man still, jeder wissen muß,

Sehnt auch der andre einen Kuß.


Dies zu ergründen, macht oft bänger

Und man verabschiedet sich länger.


Endlich suchte mein Mund sich aus

Den besten Platz im Stiegenhaus.


Das Stiegenhaus ward Himmelsleiter,

Oben sprach's Mohrle: »'s geht nicht weiter.«


Ich bat: »O, öffne deine Tür!«

»Ach,« rief sie, »welche Angst ich spür'!


O, eine Angst, nicht zu beschreiben,

Mein Balzer, du mußt draußen bleiben.«


Die Tür fiel auf die Nas' mir zu,

's Schlüsselloch rief: »Geliebter du.«


Seufzend hat dann die Tür geschwiegen

Und ließ mich seufzend draußen liegen.


Und drinn und draußen horchte man,

Wer wohl am tiefsten seufzen kann.


Auch dieser Treppe war dann eigen:

Schwerer war das Hinuntersteigen.


Quelle:
Max Dauthendey: Gesammelte Werke in 6 Bänden, Band 4: Lyrik und kleinere Versdichtungen, München 1925, S. 671-673.
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