|
[290] Abreise von Tobolsk.
Gleich ausser Tobolsk passierten wir über den Irtisz, an welchem die Stadt liegt, folgten dann einige Zeit dem Tobol, der sich in jenen größern Fluß gerade der Stadt gegenüber einmündet und ihr den Namen giebt, wendeten uns aber bald westlich und gelangten in eine große und höchst beschwerliche und unangenehme Wüste, welche voll dürrer Hügel und sumpfiger Niederungen war. Man hatte uns in Tobolsk versichert, wir hätten nichts mehr von jenen nomadischen Räubern zu befürchten, welche uns bis dahin hätten gefährlich werden können, da sie niemals oder doch höchst selten über den Irtisz – der weiter nördlich Ob heißt – setzen; diese Versicherung beruhigte uns, so daß wir die Beschwerlichkeiten dieser Wüste desto geduldiger ertrugen; das war aber auch der einzige Vortheil, denn wir hatten nichts desto weniger – freilich nicht mit jenseitigen aber mit diesseitigen, mit den Baschkiren – einen Strauß zu bestehen, die um kein Haar besser als Jene, ja für uns noch schlimmer waren, weil sie weniger roh sind, da sie zuweilen bei den russischen Heeren als leichte Reiterei gebraucht werden. Der Lakai des Prinzen, der in diesen Gegenden bekannt war, unterrichtete unsere Wegweiser, die nur die großen Straßen kannten,[291] wenn es nöthig war, die Städte, wo russische Besatzung lag, zu umgehen; aber dies verlängerte und erschwerte die Reise, weil wir in den Steppen kampiren und daher mancher Bequemlichkeit entbehren mußten, die wir in den Städten gefunden hätten. Der Prinz fühlte dies, und nach einigen Tagen bestand er darauf, mit seinen beiden Getreuen allein auf den Abwegen die Städte zu vermeiden, die Nacht in den Wäldern zuzubringen und uns am Morgen jenseits, entweder zu erwarten oder einzuholen; uns aber nöthigte er zwar nicht in allen, doch den mehresten Städten Nachtquartier zu nehmen. Es ist gewiß, daß dies auch zu unserer Sicherheit dienlich war, denn eine Reisegesellschaft von achtzehn Menschen mit dreißig Pferden konnte sich nicht so leicht der Aufmerksamkeit der russischen Besatzungen entziehen, wie drei einzelne und wohlberittene, des Klima's gewohnte Männer. Diese Betrachtung machte, daß ich desto eher mich bewegen ließ, in das Verlangen des Prinzen einzuwilligen. Auf diese Art setzten wir dann die Reise fort, passirten das Ural-Gebirge, welches die natürliche Grenze zwischen Asien und Europa macht, obschon nicht alle Geographen hierin übereinstimmen, und diese Grenze bald mehr östlich bald mehr westlich – z.B. den Fluß Kama – angeben. Ich überlasse Andern, diesen Zwist zu entscheiden, und halte mich an den Ural, da er wirklich die Wasserscheide bildet, und da ich mich hier etwas früher als am Kama in Europa glaubte, so hatte ich ein entzückendes Gefühl der Heimath, so groß auch noch die Entfernung war, die mich von [292] England trennte. Dem ungeachtet und obschon das Land westlich des Urals bevölkerter ist, so hat doch die europäische Gesittung noch nicht hinlänglich das Uebergewicht gewonnen, um nicht alle Augenblicke an das eben verlassene Asien zu erinnern, das sich ausserhalb des Umfangs der Städte noch immer fühlbar genug aufdringt, denn selbst diejenigen, die sich für griechische Christen ausgeben, mischen noch so viel abgöttischen Aberglauben dazu, daß das Uebrige nur unbedeutend ist, und bloß in kirchlichen Ceremonien besteht. Diejenigen aber, die noch Heiden sind, stecken noch in der tiefsten Barbarei, und wenn die siberischen Nomaden ihren Götzen Chang-chi-Thaungu haben, so hat hier jede Familie ihre eigenen, besondern, oft mehrere kleine Götzen, für die sie aber mehr Aberglauben als Verehrung haben. Besonders ist der Glaube an Zauberei und an die Kraft der Entzauberung ihrer Priester – Schamanen – noch sehr groß. Etwas entfernt von den Städtern ist ihre Kleidung, ihre Dörfer und Wohnungen wenig besser, oft nicht einmal so gut als in der Umgegend von Tobolsk.
Wir setzten unsere Reise noch immer theilweise durch Steppen fort, die oft sehr grasreich waren, und jenen Versicherungen vertrauend, daß keine räuberischen Anfälle mehr zu befürchten seyen, waren wir ganz unbesorgt, als wir unerwartet Gefahr liefen, nicht nur beraubt, sondern sammt und sonders ermordet zu werden. Wir begegneten einem Haufen von wenigstens fünfzig Reitern, die mit Pfeil und Bogen bewaffnet waren, und ganz eine andere Jagd als die von Pelzthieren[293] oder Wildpret zu beabsichtigen schienen. Sie näherten sich und schienen uns zu beobachten; dann entfernten sie sich und kamen wieder ziemlich nahe und zwar so, daß sie uns von allen Seiten umringten. Da dies eben nichts Gutes vermuthen ließ, so setzten wir uns zu einem tüchtigen Widerstande in Bereitschaft. Der junge Prinz sah sie keineswegs für Räuber, sondern für entsandte Reiter an, die beauftragt wären, ihn zu verfolgen und gefangen in die nächste russische Stadt zurückzubringen. Sein Lakai, ein verschlagener und tapferer Bursche, erbot sich, auf Rekognoszirung auszugehen, welchem Vorschlage wir Alle unsern Beifall gaben. Er war mit einem Säbel, zwei Pistolen und einem Karabiner bewaffnet, den er schußfertig vor sich quer über den Sattel hielt, und ritt so weit vor, daß er glaubte, von ihnen verstanden werden zu können; da rief er sie in verschiedenen Sprachen an, ohne daß er eine Antwort erhielt; hingegen glaubte er aus ihren Zeichen und Gebehrden zu erkennen, daß sie ihm winkten, nicht näher an sie zu kommen, ihm sonst mit ihren Bogen drohend. Er lenkte also um und berichtete uns dies Wenige, beifügend, es möchten wohl Baschkiren oder Kalmüken seyn, so viel er aus ihrer Kleidung schliessen könne; was ihm aber das Schlimmste zu seyn scheine, wäre, daß noch andere Haufen in der Gegend zu vermuthen seyen, die keine guten Absichten erwarten liessen. Unsere Bestürzung, die bereits durch das Unerwartete dieser Erscheinung statt fand, ward hierdurch noch vermehrt.
Es lag ungefähr fünfhundert Schritte auf unserer[294] linken Hand ein Gehölze, das zwar von geringer Ausdehnung aber dicht zu seyn schien, und ich urtheilte, daß es zu unserer Vertheidigung höchst vortheilhaft sey; ich befahl daher, der ganze Zug solle sich dahin begeben und wir erreichten selbiges, ohne gestört zu werden. Während wir einige unserer Leute auf Schildwache aussetzten, um die Feinde zu beobachten, mußten Alle Hand an's Werk legen, um durch Zusammenflechten der Baumzweige und durch eine Art Verhau uns sowohl gegen das Ansprengen der Feinde als gegen ihre Pfeile zu decken. Unsere Stellung war wirklich so, daß wir sie nicht besser hätten wünschen können; das Gebüsch lag auf einer vorspringenden Erdzunge, die auf jeder Seite von einem Bache bespühlt war, deren sumpfige Ufer sich ziemlich weit erstreckten und sich in einen Teich oder kleinen See ergossen, aus welchem sie vereinigt ihren Lauf fortsetzen. Man hat uns nachher versichert, dies sey der Ursprung der Wirtska. Wie dem auch sey, so ist gewiß, daß sie uns auf zwei Seiten vortrefflich deckte. Das Wäldchen, wenn man es so nennen darf, bestand aus ungefähr zweihundert Bäumen und die Lage des Orts machte, daß wir nur eine der drei Seiten zu verhauen nöthig hatten, und um die Arbeit noch zu erleichtern, fällten wir entweder einige Bäume, doch so, daß der gefallene Baum noch am Stamme hielt, an einigen Stellen aber war es hinlänglich, bloß die Aeste auf ähnliche Weise halb abzuhacken und hängen zu lassen und zu größerer Festigkeit ineinander zu flechten. Der Feind war auch so gefällig uns gar nicht zu stören, indem er nicht den geringsten[295] Versuch machte, unsere Arbeiten zu verhindern, so daß, als wir in der Eile, weil wir jeden Augenblick den Angriff befürchten mußten, die erste Anlage des Verhacks in seiner ganzen Ausdehnung einigermaßen zu Stande gebracht hatten, wir nun Zeit gewannen, ihn zu vervollständigen und ihn für Reiterei völlig undurchdringlich zu machen. Schon im Augenblick, als wir den Platz so glücklich erreicht hatten, begannen wir zu hoffen, daß es uns möglich seyn werde, den Anfall abzuschlagen, und als wir ihn in solchen Vertheidigungsstand gesetzt hatten, war darüber kein Zweifel mehr, und wir wünschten, daß der Feind jetzt nur angreifen möchte, nicht darum, daß wir so kampflustig und streitsüchtig gewesen wären, sondern bloß deßwegen, um die Sache je eher je lieber zur Entscheidung zu bringen und unsere Reise fortsetzen zu können. Diese war und blieb die Hauptsache.
Es war eigentlich mein guter Portugiese, der unsere Wehranstalten angegeben und geleitet hatte. Er besaß die vortreffliche Eigenschaft, seine Kaltblütigkeit und Besonnenheit in jeder Lage beizubehalten, und seine mancherlei Schicksale und die vielerlei Gefahren, die er ausgestanden, hatten ihm eine solche Erfahrung gewährt, daß er überall Bescheid wußte. Er unterrichtete uns auch, wie wir uns im Fall des Angriffs benehmen sollten, damit immer ein Theil der Mannschaft geladene Gewehre und den Vortheil hätte, feuern zu können, wenn es nöthig wäre. Zu dem Ende theilte er uns in vier Haufen, jeden von vier Mann, ich sollte das Oberkommando führen, und er wolle überall nachsehen[296] und angeben, was zu thun sey. Herr Wilson befand sich in einer seltsamen Stimmung, denn es ist mir unmöglich, zu entscheiden, ob er mehr und öfter Kleinmuth oder Zornwuth äusserte. Er schwor, er wolle eben so gern sein Leben verlieren, als seine Reichthümer. Jenes sey ihm nicht einen Pfenning werth, wenn er darben müsse. Bald glaubte er schon gefangen genommen, zum Sklaven gemacht zu werden und seine schönen Kaufgüter als Raub wegführen zu sehen; bald wollte er aus unserer wohlverwahrten sichern Schanze einen Ausfall wagen und die Feinde sämmtlich in die Pfanne hauen. Obwohl ich mich nun nicht so hinreissen ließ, so war ich doch nichts weniger als wohlgemuth; besonders betrübte und ärgerte es mich, nach einem so langen thätigen Leben und nach einer bis jetzt so glücklichen Reise mich der Gefahr ausgesetzt zu sehen, so zu sagen vor dem Hafen Schiffbruch zu leiden, oder, was mir fürchterlicher als der Tod war, von diesen Unmenschen in die Sklaverei geführt zu werden. Ich war daher völlig entschlossen, mich bis auf den letzten Blutstropfen zu wehren. Der junge Prinz zeigte wahren Heldenmuth; ohne viel zu sprechen, noch weniger zu drohen, konnte man es ihm an seiner ganzen Haltung ansehen, daß er zum Kampf bereit war und keinem nachstehen würde. Der Portugiese blieb sich gleich, behauptete aber, wenn Jeder seine Pflicht thue, so sey unsere Stellung so vortheilhaft und so fest, daß der Feind uns nichts anhaben könne, nur müsse man sich wohl hüten, einen Ausfall zu wagen, der uns nur unserm Verderben entgegenführen würde. Er hat uns,[297] nicht auf Gerathewohl, sondern nur dann zu feuern, wenn der Feind auf halbe Schußweite sich genähert habe, uns Zeit zu geben wohl zu zielen, damit kein Schuß fehle; ein treffender Schuß sey besser, als hundert, die in die Luft fliegen und dergleichen mehr. Es ist gewiß, daß sein Gleichmuth so wie die Wahrheit und Faßlichkeit seiner guten Rathgebungen auf Alle einen ermuthigenden Eindruck machten, denn Jeder konnte leicht bemerken, daß er aus Ueberzeugung und mit Sachkenntniß sprach.
In dieser Verfassung erwarteten wir mit Ungeduld, was endlich der Feind beginnen werde. Seine Unentschlossenheit war nicht zu verkennen und flößte uns Hoffnung ein. Es vergiengen mehrere Stunden und der Tag neigte sich schon zum Abend, was uns wieder Besorgniß verursachte, daß sie uns erst im Dunkel der Nacht angreifen würden, die ihnen mehr vortheilhaft war als uns. Doch als wir es am wenigsten vermutheten, drangen sie plötzlich und mit Geschrei auf uns an und wir entdeckten, was wir bis dahin nicht bemerkt hatten, daß ihre Anzahl sich wohl auf hundert Köpfe vermehrt habe, wobei sich auch einige Weiber befanden. Sie mochten etwas mehr als halbe Schußweite entfernt seyn, als ich ein einzelnes Gewehr über ihre Köpfe wegfeuern und ihnen zurufen ließ, fragend, was sie begehrten und mit dem Befehl, sogleich abzuziehen. Allein sie verstanden uns nicht und der Schuß schien sie nur mehr anzumuthigen als einzuschüchtern; sie sprengten auf unsern Verhau los, in der Meinung, dort leicht durchzudringen. Der Portugiese bat uns[298] nicht eher zu feuern, als bis er uns ein Zeichen gebe, inzwischen aber wohl entweder auf die nächsten Feinde, oder auf den dichtesten Haufen zu zielen; er ließ sie aber auf höchstens zehn Schritte herannahen, dann gab er den Wink, wir machten ein allgemeines Feuer, denn wir hatten jeder mehrere geladene Gewehre in Bereitschaft, und da jedes mit mehrern Kugeln geladen war, so war unsere Begrüßung von nicht geringer Wirkung; viele todte und verwundete Menschen und Pferde und das Ungewohnte einer unerwarteten Gegenwehr trieb sie sogleich auseinander, und sie zogen sich wohl auf tausend Schritte zurück. Wir benutzten ihre Entfernung, um mit der Hälfte unserer Mannschaft einen Ausfall zu thun, um den Erfolg unsers Feuers zu beobachten. Wir fanden vierzehn Todte, aber keine Verwundeten, die sie wahrscheinlich mit fortgebracht hatten, dagegen eilf verwundete oder todte Pferde und sechs, denen nichts fehlte, deren Reiter aber vermuthlich unter den Todten lagen; es waren zwar kleine magere Thiere, aber munter und dauerhaft, die Zügel und das Riemwerk waren äusserst schlecht; diese waren unsere ganze Beute. Man fand bei einigen der Todten kleine ungestaltete, in Holz oder Bein grob ausgeschnittene Figuren, die wahrscheinlich Götzen waren. Nachdem wir uns eine halbe Stunde mit dem Besichtigen dieser Gegenstände beschäftigt, ohne uns weiter als höchstens hundert Schritte von unserm Posten zu entfernen und die Pferde dahin gebracht hatten, fanden wir, daß während dem alle Flinten wieder waren geladen worden und wir hofften von weiterm Angriffe[299] verschont zu bleiben, da die Dämmerung schon merklich einbrach. Wir waren aber kaum eine Viertelstunde wieder eingerückt, so kamen ungefähr dreißig Mann herangeritten, die uns genau beobachteten und so weit das Terrain es ihnen gestattete, vor unserm Verhau hin und her trabten, um wahrscheinlich eine zugänglichere Stelle zum Eindringen zu finden, sie sahen uns jedoch auf jedem Punkte in so guter Verfassung, daß sie desto weniger einen Versuch wagten, da ich auf diejenigen, die zu nahe kamen, einzelne Schüsse feuern ließ, und wir konnten, ungeachtet der stets zunehmenden Dunkelheit, bemerken, daß es nicht ohne Erfolg geschehen war, denn wir hörten ein klägliches Gewinsel, das mit dem gänzlichen Rückzuge der Feinde immer schwächer ward.
So erwarteten wir den Anbruch des Tages mehr mit Ungeduld als mit Besorgniß, da wir keinen fernern Angriff vermutheten und gerne unsere Straße fortgezogen wären, doch nicht wagen durften, aufzubrechen, ehe wir von dem gänzlichen Abzuge der Feinde versichert waren. Wir waren abgemattet und konnten doch nur wenig Ruhe geniessen, da wir abwechselnd Schildwache stehen mußten, um nicht überfallen zu werden, und die Ungewißheit, worin wir schwebten, und die vorherigen Anstrengungen uns sehr angegriffen hatten. Zum Glück war unsere Verschanzung in so gutem Stande, daß wir nicht genöthigt waren, daran zu arbeiten. Was uns indeß nicht wenig tröstete, war die Hoffnung, daß der Feind nach dem derben Empfang, den er sowohl bei'm Angriffe als bei der nachherigen[300] Rekognoszirung gefunden, sich werde haben abschrecken und uns ungestört abziehen lassen. Wir hatten aber ohne Wirth gerechnet.
Der Tag ließ uns eine höchst niederschlagende Entdeckung machen, denn weit entfernt, abgezogen zu seyn, hatte sich der Feind wieder bis auf dreihundert Schritte von uns genähert und wir konnten deutlich bemerken, daß er wohl vierhundert Mann stark war und theils Gezelte theils Hütten errichtet hatte, als ob er uns völlig einschliessen und förmlich belagern oder durch Hunger bezwingen wolle. Ja wirklich, nun war guter Rath theuer; unsere Lebensmittel reichten kaum noch auf vier Tage hin und wir hatten noch drei Tagreisen zu machen, ehe es uns möglich war, die nächste Stadt, wo wir uns wieder damit versehen konnten, zu erreichen. Zudem war die verlorne Zeit, die Furcht, zu spät in Archangel einzutreffen und die Ungewißheit des Ausgangs unserer dermaligen Fehde hinlänglich, uns beinahe zur Verzweiflung zu bringen. Indessen fühlte ich mich doch in einem bessern Gemüthszustande als damals, wo ich und Herr Wilson in Gefahr waren, mit unserer ganzen Schiffsmannschaft als Seeräuber behandelt zu werden. Der Prinz, noch ganz vom Feuer der Jugend beseelt, dachte ausschließlich nur an den Kampf mit dem Feinde, da er für den Verlust eines mit vieler Mühe erworbenen Vermögens und für die Gefahr durch Hunger aufgerieben zu werden, keinen Sinn oder wenigstens nicht genug Kenntniß und Erfahrung hatte; bei jungen Leuten verdrängt die Gegenwart alle Gedanken auf die Zukunft. So[301] wenig dies auch Beifall verdiente, so hat es doch auch seinen Nutzen und dies bestätigte sich auch an uns; die muthvolle Sprache des jungen Helden erhob uns zuerst aus der tiefen Niedergeschlagenheit, die gewiß unser Verderben herbeigeführt haben würde; und als der alte Portugiese ihm beistimmte und bewies, daß, wenn es uns nur recht Ernst wäre, den Posten tüchtig zu vertheidigen, dieser uns in Stand setze, alle Angriffe dieses Raubgesindels zurückzuschlagen, so faßten nach und nach Alle frischen Muth und den Entschluß, sich bis auf den letzten Mann zu wehren.
Wider unsere Erwartung blieb der Feind in völliger Unthätigkeit. Hingegen bemerkten wir, daß er von Zeit zu Zeit Verstärkungen erhielt. Wir schlossen daraus, daß er aus einem zahlreichen Stamme bestehe, der in mehrere Haufen vertheilt das Land durchstreife, um Beute zu machen; daß der erste Trupp, mit dem wir gefochten, ein solcher Haufe gewesen, sich aber zu schwach befunden, uns zu überwältigen und dem zufolge Boten an die übrigen geschickt habe, um sich alle oder doch die meisten zu vereinigen, um unsere Personen als Sklaven und unsere Waaren als gute Beute wegzunehmen. Ich benutzte die Zeit, welche die sorglose und unkluge Unthätigkeit dieser Räuberhorde uns länger gewährte, als wir wünschten, den Lakaien des Prinzen und die beiden Wegweiser in Gegenwart des Prinzen und Herrn Wilsons zu befragen, ob ihnen keine Seitenwege bekannt wären, auf welchen wir uns unbemerkt aus der Schlinge ziehen und dem Feinde in der nächtlichen Finsterniß entschlüpfen könnten? Die Wegweiser,[302] nur gewohnt Karavanen nach Archangel zu führen, welche die große Landstraße nie verlassen dürfen, kannten nur diese; der Lakai des Prinzen hingegen, der wohl mehr Gelegenheit gehabt haben mochte, Abwege zu suchen, beantwortete meine Frage so, daß, wenn ich vorzöge, dem Feinde zu entweichen, statt ihn zu bekämpfen, er allerdings Weg und Steg kenne, uns so zu führen, daß dem Feind nichts als das leere Nachsehen übrig bleibe; doch dürfe er nicht unterlassen mir anzuzeigen, daß der Prinz sein Herr sich lieber mit dem Feinde zu schlagen als ihm zu entfliehen wünsche, und er ohne dessen Einwilligung sich der Leitung nicht unterziehen werde. Ich bemerkte ihm hierauf, daß er seinen Herrn nicht recht verstanden habe; daß, ungeachtet der Prinz uns bereits Beweise seiner Tapferkeit gegeben, er doch weit entfernt sey, nur um des Vergnügens willen zu kämpfen, da das Mißverhältniß der Anzahl zwischen beiden Theilen zu groß sey, um einen glücklichen Ausgang des Gefechts zu hoffen, da der Feind sich schon auf fünf bis sechshundert Mann belaufe und sich stündlich vermehre; daß, wenn es nur auf einen Kampf ankäme, ich der Erste wäre, um diesen vorzuziehen; es sey aber nicht die Frage und man könne gar nicht daran denken, unsern Posten zu verlassen und den Feind anzugreifen, denn in diesem Fall müßten wir ohne anders der Menge unterliegen; die Lagerung des Feindes zeige aber allgenugsam, daß er uns nur einschliessen und durch Mangel zur Uebergabe nöthigen wolle; wenn er also einen sichern Weg wisse, uns zu befreien, so wolle ich ihm die Einwilligung[303] seines Herrn zuverläßig verschaffen. Er betheuerte hierauf, daß er seinen Kopf verbürge, uns sicher und glücklich aus den Händen der Feinde zu retten. Dies sagte ich ihm in Gegenwart des Prinzen und unterhielt mich dann mit diesem ganz allein. Ich stellte ihm noch einmal das Nämliche vor und fügte dann noch hinzu, daß sein Herr Vater ihn mir ganz besonders empfohlen und ihn, wie er sich selbst erinnern werde, ermahnt habe, sich gänzlich meiner Führung zu überlassen; jetzt sey der Augenblick da, um der Empfehlung sowohl als der Ermahnung Genüge zu leisten. In einem Gefecht konnte es leicht geschehen, daß er getödtet, verwundet oder gefangen würde, auch selbst im Fall wir obsiegten, was doch bei der unverhältnißmäßigen Ueberzahl der Feinde nicht anders möglich wäre, als wenn wir unsern Posten gar nicht verließen, was uns zu nichts als zum Hungertode führe. Ueberdies wagten Herr Wilson und ich, nebst unserm Leben und Freiheit, alle unsere Reichthümer, die Frucht unsäglicher Anstrengungen, langer Reisen und großer Gefahren, und ich halte mich überzeugt, er würde uns nicht so großem Verlust aussetzen, bloß um seine Kampflust zu befriedigen und ein Dutzend von diesem elenden Gesindel über den Haufen zu schiessen. Er war gerührt, und versicherte mich, daß schon mein bloßer Wunsch hinlänglich wäre, um sich demselben sehr gerne zu fügen, wenn auch alle übrigen Gründe nicht vorhanden wären, und ich möchte daher alles so anordnen, wie ich es gut fände, und auf seine Bereitwilligkeit zählen. Hierauf gab er selbst seinem Lakaien Befehl, dem meinigen[304] zukommen und sein Bestes zu thun, damit wir unbemerkt uns wegschleichen könnten. Der ganzen Reisegesellschaft aber empfahl ich, sich bereit zu halten auf den ersten Wink und in aller Stille abziehen zu können, und da Jeder von uns diesen Weg der Befreiung vorzog, so fand sich alles in Kurzem in völliger Bereitschaft.
Indeß machte Herr Wilson allerlei Glossen, warum es auf einen jungen Menschen, der nichts weiter als mein Sekretär sey, so viel ankomme, daß mein eigener Bedienter, wofür er den Lakaien hielt, Jenem mehr als mir selbst gehorche; er fand gar viel darüber einzuwenden, und wollte sogar dem Prinzen eine derbe Lektion geben, aber ich bat ihn, sich nicht zu bemühen, da ich unter meinen Leuten schon Ordnung zu halten wissen werde, ohne daß Andere sich einmischten. Ich hatte nicht gut gefunden, ihm das Geheimniß anzuvertrauen und er erfuhr es auch nicht eher als nach unserer Ankunft in England, wo ich dann eine tüchtige Strafpredigt über meine Unvorsichtigkeit erhielt, ein so gefährliches Wagstück unternommen und anderer Leute Leben und Eigenthum in Gefahr gesetzt zu haben, bloß um einem Prinzen eine Gefälligkeit zu erweisen. Uneigennützige Ausübung der Menschenliebe war in seinen Augen eine Thorheit und sein Kaufmannsgeist entsetzte sich noch, wie er keine Gefahr mehr zu befürchten hatte, vor derjenigen, in welcher er vor einigen Monaten, ihm selbst unbewußt, sich befunden hatte.
Bei einbrechender Dämmerung machten wir an verschiedenen Orten Wachfeuer an und nahmen solche[305] Vorsorgen, daß sie vor Anbruch des Tages nicht erlöschen konnten, um die Feinde im Wahne zu erhalten, wir hielten uns noch in unserer Verschanzung; sobald aber die Nacht völlig eingetreten war, folgte der ganze Zug unserm Führer in größter Stille nach, welche der weiche Boden dieser weitgedehnten Sandebenen nicht wenig begünstigte. Nach einigen Stunden bemerkten wir am östlichen Horizont eine blasse Hellung, die sich allmählig vermehrte. Es war der aufgehende Mond, einige Tage nach dem letzten Viertel, was uns Anfangs Besorgniß, entdeckt zu werden, verursachte, hernach aber sahen wir ein, daß das, was wir befürchteten, uns zuträglich war, denn wir konnten nun unsern Marsch desto mehr beschleunigen, während der Feind unsern Posten und seine Wachfeuer emsig bewachte. Was er bei der Entdeckung des leeren Nestes für Augen gemacht und was er weiter unternommen hat, ist uns nie kund worden, denn wir sahen und hörten nichts weiter von ihm. So lange noch die Sterne am unbewölkten klaren Himmel funkelten, war der Nordstern der Führer unsers Wegweisers; als es lichter ward und bei Tage behielt er ungefähr dieselbe Richtung bei, und wir gelangten um acht Uhr früh an ein Dorf, Kermansinsk, wo wir den ganzen Tag über blieben. Einige unserer Pferde waren durch den angestrengten Marsch unbrauchbar geworden und erst jetzt sahen wir ein, wie gut es gewesen, daß selbst unsere Feinde uns von ihren Pferden zur Beute überlassen mußten, um unser Fortkommen zu erleichtern.
Nachdem wir den Tag über im benannten Dorfe[306] ausgeruhet, setzten wir eine Stunde vor Nacht die Reise fort und trafen des andern Vormittags um 10 Uhr in dem großen Flecken Ozomoisk ein, nachdem wir über einen kleinen Fluß, die Kirtza, gegangen waren.
Hier hielten wir uns fünf Tage auf, um von den ausgestandenen Mühseligkeiten auszuruhen, denn man versicherte zu unserer großen Beruhigung, daß wir von jenem Raubgesindel nichts mehr zu befürchten hätten. Auch versahen wir uns hier mit Lebensmitteln und mit einigen frischen Pferden, weil am zweiten Tage wieder vier derselben unbrauchbar geworden und drei gefallen waren. Ein Marsch von fünf Tagreisen brachte uns nach Weussima an der Wiczegda, welche in die Dwina einmündet und am 3. Juli 1704 kamen wir in Lawrenskoi an, wo das Ende unserer mühseligen Landreise uns große Zufriedenheit gewährte, denn hier konnten wir uns einschiffen und auf diesem Flusse in sieben Tagen Archangel erreichen. Wir entliessen hier unsere Wegweiser und die Knechte, welche die Pferde geleitet hatten, verkauften diese, weil wir ihrer nicht mehr bedurften, mietheten dagegen zwei Flußschiffe, die groß genug waren, um unser Geräth und unsere Waaren zu fassen und eine Jacht für uns selbst, worin wir am 12. Juli von Lawrenskoi abfuhren und die Dwina hinunter nach einer bequemen Reise wohlbehalten in Archangel am 19ten anlangten. Unsere ganze Reise zu Lande und zu Wasser, von Peking bis hieher, mit Inbegriff des Aufenthalts in [307] Tobolsk hatte beinahe ein und ein halbes Jahr gedauert.
Ausgewählte Ausgaben von
Robinson Crusoe
|
Buchempfehlung
Das chinesische Lebensbuch über das Geheimnis der Goldenen Blüte wird seit dem achten Jahrhundert mündlich überliefert. Diese Ausgabe folgt der Übersetzung von Richard Wilhelm.
50 Seiten, 3.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.
428 Seiten, 16.80 Euro