Venus Heroica:

[129] Psalm an den Geist.


Bleibe dir heilig, Geist:

Herr deiner Seele!

Ein fremder Schein beirrt dich noch:

was spähst du nach Schiffen im Nebel,

von Andern gelenkt?!

Aus deinem Leuchtturm blickst du hinab,

und Ströme, auf denen der Erdball durchs Weltdunkel rast,

reißen an dir und reizen zum Sturz

hinunter ans lauernde Ufer.


Dort standest du schon als Jüngling;

und während Woge auf Woge kam,

schriebst du, den Krückstock tief einbohrend,

Namen auf Namen in den feuchten Triebsand,

geliebte Namen – und keiner blieb.


Manche taten schon so

und wurden stolze Verzweifler.

Aber mächtig macht nur der Glaube;

und Niemand lebt, den sein Tiefstes

nicht noch über die Sonne hinaufweist,[129]

über die Sterne, und weiter.


Sahst du nicht gestern die Zimmerleute,

wie sie die Leiche auf der Leiter trugen,

vom Neubau weg;

machte nicht jeden ihrer schweren Schritte

die Kraft des Abgestürzten

sichrer als je ihn selber?!


Warlich, Keiner von Diesen

wird sich zu Tode stürzen;

und wenn sie einst den Geist aufgeben,

wird jede dieser sechs Handwerkerseelen

– wir Alle sind Erben –

hell triumphierend an den Schauder denken,

als sie den Andern auf seinem Werkzeug trugen.

Bleibe dir heilig, Geist:

Herr deiner Seele!


. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .


Auf denn, Seele! reck die Glieder!

fast beschämt mich mein Geträume;[130]

draußen hör ich meinen biedern

Schuster schon am Werktisch räumen.


Und sein närrischer Altgeselle

wird nun gleich nach Frühstück brüllen

und mich dann mit Bibelstellen

ganz wie Tolstoi mürbe knüllen.


Warte nur, verehrter Schutzpatron:

heut kommt's anderst! Mit den Mucken

deiner christlichen Passion

kannst du dann den Pechdraht jucken.


Ja, ihr würdigen deutschen Volks-Betbasen,

faltet nur entsetzt die Hände!

Ehre genug für eure jüdischen Phrasen,

daß ich meinen Groll euch spende.


Wie mein gallischer Freund Charles Simon grollt,

dem ich mich verbrüdert fühle

mehr als jedem Teutobold:

»la nation c'est la crapüle.«


Himmel! kaum begreif ich noch die Sorgen

meiner düstern Selbstbetrachtung;

fröstelnd wie der junge Morgen

reiß ich mich aus der Umnachtung.


Nur noch Einmal will ich rückwärts schaun[131]

auf die grimmigen Wochen meiner Haft;

nein – sie wehrt es mir mit letztem Grauen,

sie, die Stimme unsrer Schaffenskraft,

Quelle:
Richard Dehmel: Die Verwandlungen der Venus. Berlin 1907, S. 129-132.
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