Venus Mystica

[81] »Ich möchte die Flamme umarmen!«

Aus schwerem Schlaf

in stiller Nacht

weckte mich dies Wort;

ich weiß nicht, wer es sprach;

Stimme, wer bist du?


Nackt, mit bettelnden Fingern,

weiten Armen,

mit Weibesbrüsten,

ein irrer Mund,

flehst du aus der Nacht

die große strahlende Flamme an?

Weg! sie brennt!


Trunken naht ein grauer Blick,

schwelt;

um die klare Glut

mit beiden Knieen

schlingt sich heiß ein hitziger Schooß.

Weib: so nicht!


Kalt, aufrecht seh ich

in dein rauchschwarz flackerndes Haar[81]

die lichte Lohe fassen,

dich verzehrend.

Rein und ruhig

steigt die feurige Säule

aus der kurzen Beschattung

mit dir auf.

Stimme, so, nun darfst du

– jauchze! – die Flamme umarmen.


. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .


Wohl: so hat mein Herz in Züchten

mein unzüchtig Blut bekämpft,

hat in Angst vor seinen Süchten

seine Sehnsuchtsglut gedämpft,


hat mir Sieg auf Sieg errungen,

aber Frieden, Frieden – nein!

In gespenstischen Peinigungen

lebt'ich schreckhaft, bis selbst Dein


reines Lichtgelüst mich reute,

tief in einer trüben Nacht,

die ich schlaflos so wie heute[82]

unter Geistern zugebracht,

Quelle:
Richard Dehmel: Die Verwandlungen der Venus. Berlin 1907, S. 81-83.
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