Die Harfe

[41] Unruhig steht der hohe Kiefernforst,

die Wolken wälzen sich von Ost nach Westen,

lautlos und hastig ziehn die Krähn zu Horst,

dumpf tönt die Waldung aus den braunen Aesten,

und dumpfer tönt mein Schritt.


Hier über diese Hügel ging ich schon,

als ich noch nicht den Sturm der Sehnsucht kannte,

noch nicht bei euerm urweltlichen Ton

die Arme hob und ins Erhabne spannte,

ihr dunkeln Riesen rings.


In großen Zwischenräumen, kaum bewegt,

erheben sich die graugewordnen Schäfte,

durch ihre grüngebliebnen Kronen fegt

die Wucht der lauten und verhaltnen Kräfte

wie damals.
[42]

Und Eine steht, wie eines Erdgotts Hand

in fünf gewaltige Finger hochgespalten,

die glänzt noch goldbraun bis zum Wurzelstand

und langt noch höher als die starren alten

einsamen Stämme.


Durch die fünf Finger geht ein zäher Kampf,

als wollten sie sich aneinanderzwängen,

durch ihre Kuppen wühlt und spielt ein Krampf,

als rissen sie mit Inbrunst an den Strängen

einer verwunschnen Harfe.


Und von der Harfe kommt ein Himmelston

und pflanzt sich mächtig fort von Ost nach Westen,

den kenn ich tief seit meiner Jugend schon,

dumpf tönt die Waldung aus den braunen Aesten:

komm, Sturm, erhöre mich!


Wie hab ich mich nach einer Hand gesehnt,

die mächtig ganz in meine würde passen![43]

wie hab ich mir die Finger wundgedehnt!

die ganze Hand, die konnte Niemand fassen!

Da ballt' ich wüst die Faust.


Ich habe mit Wollüsten jeder Art

mich zwischen Gott und Tier herumgetrieben:

ich steh, und schmerzhaft reiß ich mir den Bart:

nur Eine Wollust ist mir treu geblieben:

zur ganzen Welt.


Komm, Sturm der Allmacht, schüttel den starren Forst,

schüttelst auch mich, du urweltliches Treiben,

in scheuen Haufen ziehn die Krähn zu Horst,

gieb mir die Kraft, Einsam zu bleiben,

Welt!


Quelle:
Richard Dehmel: Weib und Welt, Berlin 1896, S. 41-44.
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