Entladung

[15] Ich kam mit meinem Alpenstocke

und offner Brust vom Berg geschlendert,

begegnet mir im Ordensrocke

ein Zug von Nonnen, grau bebändert,

zehn schwarze Paare.


Den Blick zu Boden, steif und stumm,

so kamen sie dahergestiegen,

ich seh die Thäler ringsherum

in leichenhaftem Glanze liegen,

Gewitter drohte.


Fern unten, wo noch Sonne gährte,

zog durch den wolkendunkeln See[16]

ein Dampfschiff seine blanke Fährte,

und Tücher winken hell Ade;

ich schau nach Oben.


Wie sieht die Bergwand düster aus!

ein greller Kirchturm steht davor

und fordert frech den Blitz heraus;

die Tannen sträuben sich empor

wie Warnungszeichen.


Und herrisch kommt der Wind gesaust,

die Straße lang, mit Staub und Frische,

und nimmt die Birken in die Faust

und schüttelt sie wie Flederwische;

es donnert schon.


Die keuschen Ordensröcke stieben;

nur rasch vorbei, ihr armen Schwestern!

ihr dürft nur tote Heilige lieben;

rasch! eure stumpfen Blicke lästern

Natur und Leben.
[17]

Ah: wie die Gletscherkanten glühn!

vom Dampfer hör' ich Juchzer klingen;

der Regen klatscht ins wilde Grün,

und mit dem Wirbelwinde ringen

zwanzig Nonnenwaden.


Da hob ich meine Alpenstange

und schlug ein Kreuz auf ihren Trott

und lachte laut und lachte lange

und herzlich herzlos wie ein Gott –

sie hörten's.


Quelle:
Richard Dehmel: Weib und Welt, Berlin 1896, S. 15-18.
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