19.

[109] In diesen Zellen schlafen sie,

Die Mittelding' von Mensch und Tiere,

Behandelt wie das liebe Vieh,

Wie dies gestreckt auf alle Viere.

Wie dumpf, wie dunstig rings ums Haus

Und drin welch Toben, Stampfen, Schreien!

Hier Lieder voller frohem Graus,

Dort irrer Glieder Selbstkasteien!


O Wahnsinn! Schreckliches Gespenst,

Die Geißel in entfleischten Händen,

Wenn du bald frech vorüberrennst,

Bald lauernd schleichst an unsern Wänden,

Wer bürgt dafür, daß deine Faust

Nicht plötzlich unsren Scheitel treffe,

Und daß, der bei den Tollen haust,

Der Geist nicht längst uns selber äffe?


Die kranke Lieb', den kranken Stolz,

Wir sperren sie in ehrne Stäbe,

Um unser Maß aus dürrem Holz

Ziehn wir jedwede Wucherrebe,

Was nicht so denkt, wie wir, und nicht

So fühlt, das zählen wir zu Kranken,

Und ob nicht just Gesundheit spricht

Aus ihren taumelnden Gedanken?


So sperrst du auch den Löwen ein,

Du zeigst ihn keck in deinen Gittern,

Und fühlest doch bei seinem Schrei'n

Das Herz im Leibe dir erzittern;[110]

Nennst du ihn toll, nennst du ihn frei,

Wenn er zerreißt, der ihn gehütet,

Und seinem Zwingherrn stolz vorbei

Blutlechzend durch die Gassen wütet?


Pocht auf das Monopol »Vernunft«

Nicht allzufest in Euren Sitzen,

Groß ist der Narren heil'ge Zunft,

Dies Haus stets offen für Novizen.

Die dort am letzten Fenster, war

Vor Jahren eine schmucke Dirne,

Demanten blitzten ihr im Haar

Und Anmut von der schönen Stirne.


Um ihres Mundes Lächeln rang

Ein Heer von albernen Gesellen,

Jetzt lacht sie, daß den Gang entlang

Die Töne schrecklich widergellen;

Einst kniete man vor diesem Weib,

Jetzt sieh', wie sie sich schamlos windet

Und gierig den entweihten Leib

Dem Knechte beut, des Hand sie bindet.


Ich fühlte, wenn ich nächtig schritt

Wohl oft so was von Wahnsinns Nähe,

Dicht hinter mir ein plumper Tritt,

Im Ohr Gelächter und Gekrähe;

Es packte mich im Nackenhaar

Und raunte schauerliche Weisen,

Und aus dem Dunkel starrte klar

Ein Aug' mich an mit Flammenkreisen.


Das ist, wovor mir bangt und graust:

Nur nicht in dieses Hauses Schrecken,

Nicht unter jener Henker Faust,

Nicht in das Schrei'n und Zähneblecken!

Und doch zu diesem Tore zieht

mich immerfort ein heimlich Harren ...

Hinein, hinaus? ... Mein Fuß entflieht,

Sobald die schweren Riegel knarren.

Quelle:
Franz von Dingelstedt: Lieder eines kosmopolitischen Nachtwächters, Tübingen 1978, S. 109-111.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Lieder eines kosmopolitischen Nachtwächters
Lieder eines kosmopolitischen Nachtwächters (Deutsche Texte)

Buchempfehlung

Haffner, Carl

Die Fledermaus. Operette in drei Aufzügen

Die Fledermaus. Operette in drei Aufzügen

Die Fledermaus ist eine berühmtesten Operetten von Johann Strauß, sie wird regelmäßig an großen internationalen Opernhäusern inszeniert. Der eingängig ironische Ton des Librettos von Carl Haffner hat großen Anteil an dem bis heute währenden Erfolg.

74 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon