[117] Der junge Mann, der den General begleitete, war ungefähr achtundzwanzig Jahre alt, hochgewachsen, schlank,[117] mit einem schönen, verständigen Gesicht und großen, schwarzen, klug und spöttisch blickenden Augen. Aglaja sah sich gar nicht nach ihm um und deklamierte ruhig das Gedicht weiter, indem sie fortfuhr, nur den Fürsten anzusehen, und sich nur an ihn allein wandte. Dem Fürsten war klar, daß sie dies alles mit irgendeiner besonderen Absicht tat. Aber wenigstens trugen die neuen Gäste einigermaßen zur Verbesserung seiner unbehaglichen Situation bei. Als er sie erblickte, erhob er sich, nickte dem General von weitem freundlich zu und machte ein Zeichen, daß sie die Deklamation nicht unterbrechen möchten; er selbst aber retirierte sich hinter seinen Lehnstuhl, wo er, mit dem linken Arm auf die Lehne gestützt, die Ballade weiter mit anhörte, sozusagen in gesicherter und nicht so komischer Stellung wie vorher, als er auf dem Lehnstuhl saß. Lisaweta Prokofjewna winkte ihrerseits den Ankömmlingen mit gebieterischen Handbewegungen zu, sie möchten stehenbleiben.
Der Fürst interessierte sich übrigens sehr für seinen neuen Gast, der mit dem General gekommen war; er vermutete mit Bestimmtheit in ihm Jewgeni Pawlowitsch Radomski, von dem er schon viel gehört und an den er schon oft gedacht hatte. Nur machte ihn dessen Zivilanzug stutzig, da er gehört hatte, daß Jewgeni Pawlowitsch Offizier sei. Ein spöttisches Lächeln spielte während der ganzen Dauer der Deklamation um die Lippen des neuen Gastes, als wenn er bereits etwas von dem ›armen Ritter‹ gehört hätte.
»Vielleicht rührt der ganze Gedanke von ihm her«, dachte der Fürst im stillen.
Aber mit Aglaja war eine große Veränderung vorgegangen. Statt der ursprünglichen Affektiertheit und Wichtigtuerei, mit der sie zum Deklamieren vorgetreten war, zeigte sie einen solchen Ernst und ein so tiefes Eindringen in den Geist und Sinn des dichterischen Erzeugnisses, sie sprach jedes Wort des Gedichtes mit solchem Verständnis,[118] sie trug die Verse mit so vollendeter Schlichtheit vor, daß sie, als die Deklamation beendet war, nicht nur die allgemeine Aufmerksamkeit gefesselt, sondern auch durch die Wiedergabe des hohen geistigen Gehaltes der Ballade jene besondere, affektierte Feierlichkeit, mit der sie so triumphierend in die Mitte der Veranda getreten war, nachträglich gewissermaßen zum Teil gerechtfertigt hatte. In diesem feierlichen Wesen konnte man jetzt nur ihre grenzenlose und vielleicht naive Hochachtung vor demjenigen sehen, was sie wiederzugeben unternommen hatte. Ihre Augen leuchteten, und ein leiser, kaum bemerkbarer Schauer der Begeisterung und des Entzückens lief einigemal über ihr schönes Gesicht. Sie deklamierte:
»Einstmals lebt' ein armer Ritter,
Schweigsam, herzensgut und schlicht;
Kühn mit jedem Feinde stritt er,
Ernst und blaß war sein Gesicht.
In Verzückung war erschienen
Ihm ein himmlisch Frauenbild,
Nie vergaß er dessen Mienen,
Hehr und edel, hold und mild.
Ganz der Heiligen ergeben,
Mied er alle Frau'n hinfort,
Gönnt' in seinem ganzen Leben
Keinem ird'schen Weib ein Wort.
Und ein Paternoster trug er
Um den Hals als sondre Zier;
Niemals in die Höhe schlug er
Vorm Gesichte das Visier.
Dieser Rittersmann, getrieben
Von des Herzens reiner Glut,[119]
Hat auf seinen Schild geschrieben
A.N.D. mit seinem Blut.
Als ins heil'ge Land sie kamen,
Rief ein jeder Christenheld
Seiner edlen Dame Namen
In der Schlacht auf blut'gem Feld.
›Lumen coeli, sancta rosa!‹
Rief jedoch mit wildem Blick
Unser Ritter; solch Gedroh sah
Scheu der Feind und wich zurück.
Heimgekehrt zur Burg der Väter,
Lebt' er fort, ein trüber Tropf,
Immer einsam, bis er später
Starb, nicht ganz normal im Kopf.«
Wenn der Fürst in späterer Zeit sich an diesen ganzen Vorgang erinnerte, so quälte er sich lange ratlos mit einer für ihn unlösbaren Frage ab: wie es möglich war, eine so echte, schöne Empfindung mit so offenbarem, boshaftem Spott zu vereinigen. Denn daß wirklich Spott dahintersteckte, daran zweifelte er nicht; das fühlte er deutlich, und er hatte zu seiner Auffassung seine guten Gründe: beim Deklamieren hatte sich Aglaja erlaubt, die Buchstaben A.N.D. mit den Buchstaben N.F.B. zu vertauschen. Daß hier kein Irrtum und kein Verhören seinerseits vorlag, daran konnte er nicht zweifeln (die Folgezeit lieferte den Beweis für die Richtigkeit seiner Ansicht). Jedenfalls war Aglajas Ausschreitung (die sicherlich nur als Scherz gemeint, aber doch gar zu keck und leichtsinnig war) vorher überlegt gewesen. Von dem »armen Ritter« hatten alle gesprochen und sich darüber amüsiert, schon vor einem Monat. Und trotzdem mußte der Fürst, wie sehr er auch später sein Gedächtnis anstrengte, zugeben, daß Aglaja jene Buchstaben nicht nur ohne[120] jeden scherzhaften oder spöttischen Beiklang, nicht nur ohne eine besondere Betonung, die ihren geheimen Sinn stärker hervorgehoben hätte, sondern im Gegenteil mit so unverändertem Ernst, mit einer solchen unschuldigen, naiven Einfachheit gesprochen hatte, daß man hätte denken können, eben jene Buchstaben hätten in dem Gedicht gestanden, und es wäre so in dem Buch gedruckt gewesen. Es lag in ihrem Verhalten etwas, was den Fürsten peinlich verletzte. Lisaweta Prokofjewna hatte es natürlich nicht verstanden und weder die Vertauschung der Buchstaben noch die Anspielung gemerkt. General Iwan Fjodorowitsch begriff weiter nichts, als daß da ein Gedicht deklamiert wurde. Von den übrigen Zuhörern hatten sehr viele die Ausschreitung gemerkt und sich über deren Kühnheit und Tendenz gewundert; aber sie schwiegen und bemühten sich, harmlose Gesichter zu machen. Jewgeni Pawlowitsch jedoch hatte (darauf hätte der Fürst wetten mögen) nicht nur verstanden, sondern bestrebte sich auch, dies durch seine Miene zu zeigen: er lächelte überaus spöttisch.
»Ein reizendes Gedicht«, rief die Generalin in aufrichtigem Entzücken, sobald die Deklamation zu Ende war.
»Von wem ist es denn?«
»Von Puschkin, Mama. Machen Sie uns doch nicht solche Schande; man muß sich ja schämen!« rief Adelaida.
»Ihr stellt einen aber auch immer als Dummkopf hin!« erwiderte Lisaweta Prokofjewna gekränkt. »Schämt euch! Sowie wir nach Hause kommen, müßt ihr mir dieses Puschkinsche Gedicht geben.«
»Ich glaube, wir besitzen überhaupt keinen Puschkin.«
»Seit wer weiß wie langer Zeit liegen bei uns zwei ramponierte Bände herum«, fügte Alexandra hinzu.
»Dann schickt sofort jemanden nach der Stadt, um ein Exemplar zu kaufen, Fjodor oder Alexej, gleich mit dem nächsten Zug, am besten Alexej. Aglaja, komm einmal her! Gib mir einen Kuß; du hast sehr schön deklamiert;[121] aber wenn du es ernst gemeint hast«, fügte sie beinah flüsternd hinzu, »so tust du mir leid; und wenn du ihn hast verspotten wollen, dann billige ich dein Benehmen nicht; dann wäre es jedenfalls besser gewesen, die Deklamation ganz zu unterlassen. Verstanden? Geh, mein Kind, ich werde noch mit dir darüber reden; aber wir haben hier schon zu lange gesessen.«
Unterdessen hatte der Fürst den General Iwan Fjodorowitsch begrüßt, und der General hatte ihm Jewgeni Pawlowitsch Radomski vorgestellt.
»Ich habe ihn in Petersburg unterwegs getroffen, und wir sind beide eben erst mit dem Zug angekommen. Er hörte, daß ich hierher ginge, und daß auch alle meine Angehörigen ...«
»Ich hörte, daß auch Sie hier in Pawlowsk seien«, unterbrach ihn Jewgeni Pawlowitsch; »und da ich mir schon längst fest vorgenommen hatte, nicht nur Ihre Bekanntschaft zu suchen, sondern auch nach Ihrer Freundschaft zu streben, so wollte ich keine Zeit verlieren. Sie sind nicht wohl? Ich habe es eben erst gehört ...«
»Ich bin ganz gesund und freue mich sehr, Sie kennenzulernen; Fürst Schtsch. hat mir viel von Ihnen erzählt, und ich habe sogar viel mit ihm von Ihnen gesprochen«, antwortete Ljow Nikolajewitsch, indem er ihm die Hand reichte.
Sie wechselten einige höfliche Worte, drückten einander die Hände und blickten sich gegenseitig prüfend in die Augen. Es entspann sich sofort ein gemeinsames Gespräch. Der Fürst bemerkte (und er bemerkte jetzt alles rasch und eifrig, vielleicht sogar Dinge, die gar nicht existierten), daß Jewgeni Pawlowitschs Zivilanzug ein allgemeines und ungewöhnlich starkes Aufsehen erregte, dergestalt, daß sogar alles, was die Gesellschaft bisher interessiert hatte, in den Hintergrund trat und vergessen wurde. Es machte den Eindruck, als lege man diesem Kostümwechsel eine besondere Wichtigkeit bei. Adelaida und Alexandra fragten den jungen Mann verwundert,[122] was das zu bedeuten habe; Fürst Schtsch., sein Verwandter, redete darüber in großer Unruhe, der General sogar beinah in Aufregung. Nur Aglaja musterte den neuen Zivilisten einen Augenblick zwar neugierig, aber doch mit vollkommener Seelenruhe, als wolle sie lediglich durch Vergleichung feststellen, ob ihm der Militär-oder der Zivilanzug besser stehe, wandte sich aber dann gleich wieder von ihm ab und sah ihn nachher nicht weiter an. Auch Lisaweta Prokofjewna hatte keine Lust, Fragen an ihn zu richten, obgleich sie sich vielleicht ebenfalls einigermaßen beunruhigte. Es schien dem Fürsten, daß Jewgeni Pawlowitsch bei ihr in Ungnade stand.
»Ich war ganz verwundert, höchst erstaunt!« erwiderte Iwan Fjodorowitsch auf alle Fragen. »Ich traute meinen Augen nicht, als ich ihm vorhin in Petersburg begegnete. Und warum so plötzlich? Das ist mir ein reines Rätsel. Er selbst proklamiert es immer als sei nen Grundsatz, man müsse sich stets vor Heftigkeit hüten.«
Bei dem sich nunmehr entwickelnden Gespräch ergab sich, daß Jewgeni Pawlowitsch sich seinen Bekannten gegenüber schon lange dahin geäußert hatte, daß er den Abschied zu nehmen gedenke; aber er hatte jedesmal in so wenig ernstem Ton darüber gesprochen, daß es unmöglich war, ihm zu glauben. Er sprach nämlich auch von ernsthaften Dingen immer mit so scherzhafter Miene, daß man gar nicht aus ihm klug werden konnte, besonders wenn er es selbst nicht wünschte.
»Ich bin ja nur zeitweilig, auf einige Monate, höchstens auf ein Jahr ausgetreten«, sagte Radomski lachend.
»Aber soweit ich wenigstens Ihre Verhältnisse kenne, liegt doch gar kein Grund dazu vor«, ereiferte sich der General immer noch.
»Muß ich denn nicht auch einmal meine Güter besichtigen? Sie haben es mir ja selbst geraten. Und außerdem möchte ich auch ins Ausland reisen ...«
Das Gespräch wendete sich übrigens bald anderen Gegenständen zu; aber die eigenartige und immer noch[123] fortdauernde Unruhe überschritt doch nach der Meinung des alles beobachtenden Fürsten die Grenzen des Gewöhnlichen, und es mußte da wohl etwas Besonderes dahinterstecken.
»Also der ›arme Ritter‹ ist auch wieder aufs Tapet gebracht?« fragte Jewgeni Pawlowitsch, indem er an Aglaja herantrat.
Zur Verwunderung des Fürsten blickte diese ihn erstaunt und fragend an, wie wenn sie ihm zu verstehen geben wollte, daß zwischen ihnen beiden von dem »armen Ritter« nicht die Rede gewesen sein könne, und daß sie die Frage überhaupt nicht verstehe.
»Aber es ist zu spät, es ist viel zu spät jetzt, um nach der Stadt zu schicken und einen Puschkin holen zu lassen, viel zu spät!« stritt Kolja mit Lisaweta Prokofjewna energisch und hitzig. »Zum dreitausendstenmal sage ich Ihnen: es ist zu spät!«
»Ja, es dürfte vielleicht zu spät dazu sein, um jetzt noch nach der Stadt zu schicken«, mischte sich unvermutet Jewgeni Pawlowitsch ein, der möglichst schnell von Aglaja loszukommen suchte. »Ich glaube, die Läden werden in Petersburg schon geschlossen sein; es ist ja bald neun Uhr«, sagte er, die Uhr herausziehend.
»Sind wir solange ohne einen Puschkin ausgekommen, dann können wir auch noch bis morgen warten«, meinte Adelaida.
»Und für vornehme Leute ist es nicht einmal schicklich, sich für die Literatur besonders zu interessieren«, fügte Kolja hinzu. »Fragen Sie nur Jewgeni Pawlowitsch! Weit passender interessieren sich solche Leute für einen gelben char à banc mit roten Rädern.«
»Das haben Sie gewiß wieder aus einem Buch, Kolja!« bemerkte Adelaida.
»Alles, was er sagt, hat er aus Büchern«, stimmte Jewgeni Pawlowitsch bei. »Er reproduziert ganze Sätze aus den kritischen Revuen. Ich habe schon lange das Vergnügen, Nikolai Ardalionowitschs Redeweise zu kennen; aber[124] diesmal hat er nun doch nicht aus einem Buch zitiert. Nikolai Ardalionowitsch macht eine deutliche Anspielung auf meinen gelben char à banc mit roten Rädern. Nur habe ich diesen Wagen bereits vertauscht, so daß Sie mit Ihrer Bemerkung zu spät kommen.«
Der Fürst hörte das, was Radomski sagte, mit an. Er hatte den Eindruck, daß dessen Benehmen recht nett, bescheiden und heiter sei; ganz besonders gefiel es ihm, daß derselbe mit Kolja, der ihn fortwährend neckte, auf völlig gleichem Fuß verkehrte und mit ihm durchaus freundschaftlich sprach.
»Was ist das?« Mit dieser Frage wandte sich Lisaweta Prokofjewna an Wjera, die Tochter Lebedjews, die mit einigen Büchern in den Händen vor ihr stand. Die Bücher hatten ein großes Format und waren vorzüglich gebunden und fast neu.
»Ein Puschkin«, antwortete Wjera. »Unser Puschkin. Papa hat mir befohlen, ihn Ihnen zu bringen.«
»Wie ist das gemeint? Was stellt das vor?« fragte Lisaweta Prokofjewna erstaunt.
»Nicht als Geschenk, nicht als Geschenk! Das würde ich nicht wagen!« rief Lebedjew, der hinter der Schulter seiner Tochter hervorsprang. »Ich überlasse Ihnen die Bücher zu meinem Selbstkostenpreis. Dies ist unser eigener Familien-Puschkin, die Annenkowsche Ausgabe, die jetzt nirgends mehr aufzutreiben ist – zu meinem Selbstkostenpreis. Ich werde ihn Ihnen mit Ehrerbietung hinbringen, in dem Wunsch, ihn Ihnen zu verkaufen und dadurch die edle Ungeduld des höchst edlen literarischen Interesses Euer Exzellenz zu befriedigen.«
»Ah, du willst ihn verkaufen! Nun, dann danke ich schön. Du sollst nicht um dein Geld kommen; habe keine Angst; schneide nur keine Gesichter, Väterchen, sei so gut! Ich habe von dir gehört; du sollst ja ein sehr belesener Mann sein; wir plaudern schon noch einmal miteinander. Wie ist's? Willst du die Bücher selbst zu mir bringen?«[125]
»Mit Ehrerbietung und größtem Respekt!« versetzte Lebedjew höchst zufrieden unter starkem Gesichterschneiden und nahm seiner Tochter die Bücher ab.
»Na, verliere sie nur nicht, wenn du sie hinbringst; Ehrerbietung ist dabei nicht vonnöten. Aber ich sage dir vorher«, fügte sie, ihn fest anblickend, hinzu, »über die Schwelle lasse ich dich nicht; dich heute zu empfangen, das liegt nicht in meiner Absicht. Deine Tochter Wjera kannst du mir aber gleich hinschicken; die hat mir sehr gefallen.«
»Warum sagen Sie denn nichts von jenen Leuten?« wandte sich Wjera ungeduldig an ihren Vater. »Sonst werden sie noch unaufgefordert hereinkommen; sie haben schon angefangen Lärm zu machen. Ljow Nikolajewitsch«, wandte sie sich an den Fürsten, der schon nach seinem Hut gegriffen hatte, »da sind schon vor längerer Zeit vier Menschen gekommen, die zu Ihnen wollen. Sie warten in unserer Wohnung und schimpfen; aber Papa will sie nicht zu Ihnen hereinlassen.«
»Was sind das für Besucher?« fragte der Fürst.
»Sie sagen, sie kämen in einer geschäftlichen Angelegenheit«, erwiderte Wjera. »Aber es sind Menschen von solcher Art, daß sie, wenn sie jetzt nicht vorgelassen werden, sich nicht scheuen werden, Sie einmal auf der Straße anzuhalten. Es wird das beste sein, wenn Sie sie vorlassen, Ljow Nikolajewitsch, und sie dann ein für allemal abschütteln. Gawrila Ardalionowitsch und Ptizyn reden dort auf sie ein; aber sie hören nicht darauf.«
»Es ist Pawlischtschews Sohn, es ist Pawlischtschews Sohn! Er ist es nicht wert, er ist es nicht wert!« rief Lebedjew mit lebhaftem Armschwenken. »Die Leute sind nicht wert, daß man sie anhört, und es schickt sich gar nicht, daß Sie, durchlauchtigster Fürst, sich ihretwegen stören lassen. So ist es. Die Menschen verdienen es nicht ...«
»Pawlischtschews Sohn! Mein Gott!« rief der Fürst in größter Verlegenheit. »Ich weiß ... aber ich hatte ja ...[126] ich hatte ja Gawrila Ardalionowitsch mit der Erledigung dieser Sache beauftragt. Eben hat mir noch Gawrila Ardalionowitsch gesagt ...«
Aber Gawrila Ardalionowitsch kam bereits aus den Zimmern auf die Veranda heraus; ihm folgte Ptizyn. In dem nächsten Zimmer hörte man Lärm und die laute Stimme des Generals Iwolgin, der, wie es schien, einige andere Stimmen zu überschreien suchte. Kolja lief sogleich dahin, wo der Lärm war.
»Das ist sehr interessant«, bemerkte Jewgeni Pawlowitsch laut. »Also ist er orientiert!« dachte der Fürst.
»Was für ein Sohn Pawlischtschews? Und ... was kann das für ein Sohn Pawlischtschews sein?« fragte der General Iwan Fjodorowitsch erstaunt, der neugierig seinen Blick über alle Gesichter schweifen ließ und mit Verwunderung bemerkte, daß diese neue Geschichte nur ihm allein unbekannt sei.
In der Tat, die Aufregung und Spannung war allgemein. Der Fürst war höchst verwundert, daß diese seine rein persönliche Angelegenheit bereits das Inte resse aller Anwesenden in so hohem Grad erregt hatte.
»Es wird sehr gut sein, wenn Sie diese Angelegenheit sogleich und persönlich erledigen«, sagte Aglaja, die mit besonders ernstem Wesen zum Fürsten hintrat. »Und uns allen wollen Sie, bitte, erlauben, Ihre Zeugen zu sein. Man will Sie mit Schmutz bewerfen, Fürst; Sie müssen sich feierlich rechtfertigen, und ich freue mich schon im voraus herzlich für Sie.«
»Auch ich würde wünschen, daß diese garstige Prätention endlich einmal zu Ende käme!« rief die Generalin. »Gib es ihnen ordentlich, Fürst; schone sie nicht! Ich habe schon so viel von dieser Affäre hören müssen, und es ist mir oft genug die Galle übergelaufen. Aber es wird interessant sein, diese Menschen einmal anzusehen. Rufe sie herein, und wir wollen uns wieder hinsetzen. Aglajas Rat war gut. Haben Sie von dieser Angelegenheit etwas gehört, Fürst?« wandte sie sich an Fürst Schtsch.[127]
»Gewiß, ich habe davon gehört, und zwar bei Ihnen. Aber es reizt mich ganz besonders, mir diese jungen Leute anzusehen«, erwiderte Fürst Schtsch.
»Es sind wohl Nihilisten, nicht wahr?« fragte Lisaweta Prokofjewna.
»Nein, Nihilisten sind sie eigentlich nicht«, sagte Lebedjew vortretend; auch er zitterte vor Aufregung; »es ist eine andere, besondere Sorte. Mein Neffe hat mir gesagt, sie gingen weiter als die Nihilisten. Wenn Euer Exzellenz etwa meinen, diese Leute durch Ihre Gegenwart verlegen zu machen, so würde das ein Irrtum sein; die werden nicht verlegen. Die Nihilisten sind doch manchmal kenntnisreiche Leute, sogar gelehrte Leute; aber diese hier gehen weiter, weil sie vor allem materielle Interessen im Auge haben. Es ist das eigentlich eine Folgeerscheinung des Nihilismus, wenn auch keine unmittelbare, sondern nur eine indirekte: sie kennen den Nihilismus nur vom Hörensagen. Diese Leute sprechen sich nicht in einem Zeitungsartikel aus, sondern schreiten sofort zur Tat; es ist zum Beispiel nicht davon die Rede, ob Puschkin sinnlos ist, oder ob Rußland in seine Teile zerfallen muß; nein, diese Menschen betrachten es jetzt geradezu als ihr Recht, wenn sie nach etwas Verlangen tragen, vor keinem Hindernis haltzumachen, und wenn sie acht Personen dabei abmurksen müßten. Aber, ich würde Ihnen doch nicht raten, Fürst ...«
Indes der Fürst ging schon zur Tür, um sie den Besuchern zu öffnen.
»Sie verleumden die Leute, Lebedjew«, sagte er lächelnd; »Sie haben sich zu sehr über Ihren Neffen geärgert. Glauben Sie ihm nicht, Lisaweta Prokofjewna! Ich versichere Ihnen: Leute wie Gorski und Danilow1 sind nur seltene Ausnahmen; diese Leute hier ... sind nur in einem Irrtum befangen. Aber es wäre mir nicht lieb, wenn die Sache hier in Gegenwart aller verhandelt würde. Verzeihen Sie also, Lisaweta Prokofjewna; sie[128] werden hereinkommen, ich werde sie Ihnen zeigen und dann wegführen. Treten Sie näher, meine Herren!«
Was ihn beunruhigte, war vielmehr ein anderer, ihm peinlicher Gedanke. In seinem Kopf war die Frage aufgetaucht: war nicht vielleicht diese ganze Sache von jemandem künstlich im voraus arrangiert, gerade zu dieser Zeit und Stunde, wo diese Zeugen zugegen waren, und zwar vielleicht arrangiert in der Erwartung, daß sie nicht mit seinem Triumph, sondern mit seiner Beschämung enden werde? Aber er war ganz betrübt über diesen »ungeheuerlichen, schändlichen Argwohn«. Er müßte ja, meinte er, vor Scham in die Erde sinken, wenn jemand erführe, daß er so etwas denke; und in dem Augenblick, als die neuen Besucher eintraten, war er aufrichtig bereit zu glauben, daß er in sittlicher Hinsicht auf einem weit niedrigeren Standpunkt stehe als irgendeiner der übrigen Anwesenden.
Es traten fünf Personen ein; vier davon waren die neuen Gäste, und als fünfter folgte ihnen General Iwolgin, ganz ereifert, in Aufregung und in einem starken Anfall von Redelust. »Der wenigstens ist auf meiner Seite!« dachte der Fürst lächelnd. Kolja schlüpfte mit den andern zusammen herein. Er sprach eifrig mit Ippolit, der zu den Ankömmlingen gehörte; Ippolit hörte ihn an und lächelte.
Der Fürst bat die Besucher, Platz zu nehmen. Sie waren fast alle noch ein so jugendliches, von der Volljährigkeit noch so weit entferntes Völkchen, daß man sich über den ganzen Vorfall und die dadurch hervorgerufene Aufregung wundern konnte. Namentlich war Iwan Fjodorowitsch Jepantschin, der von dieser »neuen Affäre« nichts wußte und nichts verstand, geradezu empört, als er diese junge Gesellschaft erblickte, und hätte sicherlich irgendwie Einspruch erhoben, wenn ihn nicht der ihm merkwürdige Umstand davon zurückgehalten hätte, daß seine Gattin an den Privatangelegenheiten des Fürsten so warmen Anteil nahm. Er blieb übrigens teils aus Neugier,[129] teils aus Gutherzigkeit, sogar in der Hoffnung, helfen und jedenfalls durch seine Autorität von Nutzen sein zu können; aber die Verbeugung, die ihm der eintretende General Iwolgin machte, verstimmte ihn von neuem; er runzelte die Stirn und nahm sich vor, hartnäckig zu schweigen.
Unter den vier Besuchern war übrigens einer der dreißigjährige Leutnant a.D., der Boxer, der zur Rogoschinschen Rotte gehört und angeblich früher selbst jedem Bittsteller fünfzehn Rubel gegeben hatte. Es lag die Vermutung nahe, daß er die übrigen in der Eigenschaft eines aufrichtigen Freundes begleite, um ihnen Mut zu machen und nötigenfalls als Beistand zu dienen. Unter den übrigen nahm die erste Stelle ein und spielte die erste Rolle derjenige, der als »Pawlischtschews Sohn« bezeichnet wurde, wiewohl er sich mit dem Namen Antip Burdowski vorstellte. Es war dies ein junger Mann, ärmlich und schlampig gekleidet, in einem Oberrock, dessen Ärmel so fettig waren, daß sie spiegelten, mit einer unsauberen, bis oben zugeknöpften Weste, ohne alle sichtbare Wäsche, mit einem schwarzseidenen, unglaublich vollgefetteten, zu einem Strick zusammengedrehten Halstuch, mit ungewaschenen Händen, mit einem Gesicht, das ganz mit Pickeln besät war, mit blondem Haar und, wenn man sich so ausdrücken kann, unschuldig-frechem Blick. Er war von kleiner Statur, mager und ungefähr zweiundzwanzig Jahre alt. Auf seinem Gesicht war nicht die geringste Spur von Ironie oder überhaupt von Denktätigkeit ausgeprägt, sondern nur eine vollständige stumpfe Trunkenheit von dem Bewußtsein, sich im Recht zu befinden, und gleichzeitig ein sonderbarerweise zum steten Bedürfnis gewordenes Gefühl, als sei er beleidigt worden. Er sprach in erregtem Ton, heftig und stockend, einzelne Worte nicht ganz zu Ende bringend, wie wenn er ein Stotterer oder gar ein Ausländer wäre, obgleich er von rein russischer Abkunft war.
Es begleiteten ihn erstens der den Lesern bereits bekannte[130] Neffe Lebedjews und zweitens Ippolit. Ippolit war ein sehr junger Mensch, ungefähr siebzehn, vielleicht achtzehn Jahre alt, mit einem klugen Gesicht, das aber beständig den Ausdruck der Gereiztheit trug und die schrecklichen Spuren seiner Krankheit zeigte. Er war mager wie ein Skelett, mit blaßgelber Haut; seine Augen funkelten, und auf seinen Backen brannten zwei rote Flecken. Er hustete beständig; jedes Wort, fast jeder Atemzug war von einem Röcheln begleitet. Er befand sich offenbar im höchsten Stadium der Schwindsucht. Es schien, daß er nur noch zwei bis drei Wochen zu leben habe. Er war sehr müde und ließ sich früher als alle andern auf einen Stuhl nieder. Die übrigen genierten sich beim Eintritt ein wenig und waren sogar verlegen; sie blickten jedoch wichtigtuerisch drein und fürchteten offenbar, sich etwas von ihrer Würde zu vergeben. Das stand in seltsamem Widerstreit zu ihrem Ruf als Gegner aller nutzlosen gesellschaftlichen Possen und Vorurteile und überhaupt fast aller Dinge auf der Welt mit Ausnahme ihrer eigenen Interessen.
»Antip Burdowski«, sagte der »Sohn Pawlischtschews« hastig und stockend.
»Wladimir Doktorenko«, stellte sich mit klarer, deutlicher Aussprache Lebedjews Neffe vor; es klang, als brüste er sich mit seinem Namen.
»Keller«, murmelte der Leutnant a.D.
»Ippolit Terentjew«, sagte der letzte mit einer Stimme, deren kreischender Ton etwas Überraschendes hatte. Alle hatten endlich in einer Reihe auf Stühlen dem Fürsten gegenüber Platz genommen und sich sogleich vorgestellt; nun machten sie finstere Gesichter und schoben, um sich Mut zu machen, ihre Mützen von einer Hand in die andere; alle bereiteten sich darauf vor, zu reden, schwiegen aber trotzdem sämtlich; sie schienen auf etwas mit einer herausfordernden Miene zu warten, in der gleichsam zu lesen war: »Nein, Bruder, da irrst du dich; du wirst mich nicht übers Ohr hauen!« Man hatte das[131] Gefühl, daß jemand zum Anfang nur das erste Wort, nur ein einziges Wort zu sagen brauche, dann würden sie sofort alle zusammen, sich wechselseitig unterbrechend und einander zuvorkommend, zu reden beginnen.
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