[456] Auf meiner Heimat Grunde
Da steht ein Zinnenbau,
Schaut finster in die Runde
Aus Wimpern schwer und grau,
An seiner Fenster Gittern
Wimmert des Kauzes Schrei,
Und drüber siehst du wittern
Den sonnentrunknen Weih.
Ein Wächter, fest wie Klippen,
Von keinem Sturm bewegt,
Der in den harten Rippen
Gar manche Kugel trägt,
Ein Mahner auch, ein strenger,
Des Giebel grün und feucht
Mit spitzem Hut und Fänger
Des Hauses Geist besteigt:
Und sieht ihn das Gesinde
Am Fahnenschafte stehn,
Sich, wirbelnd vor dem Winde,
Mit leisem Schreie drehn,[456]
Dann pocht im Schloßgemäuer
Gewiß die Totenuhr,
Oder ein tückisch Feuer
Frißt glimmend unterm Flur.
Wie hab' ich ihn umstrichen
Als Kind oft stundenlang,
Bin heimlich dann geschlichen
Den schwer verpönten Gang,
Hinauf die Wendelstiege,
Die unterm Tritte bog,
Bis zu des Sturmes Wiege,
Zum Hahnenbalken hoch.
Und saß ich auf dem Balken,
Im Dämmerstrahle falb,
Mich fühlend halb als Falken,
Als Mauereule halb,
Dann hab' ich aus dem Brodem
Den Geist zitiert mit Mut,
Ich, Hauch von seinem Odem
Und Blut von seinem Blut.
Doch als nun immer tiefer
Die Schlangenstiege sank,
Als schiefer stets und schiefer
Dräute die Stufenbank,
Da klomm ich sonder Harren
Hinan den Zinnenring,
Und in des Daches Sparren
Barg ich ein heimlich Ding.
Das sollten Enkel finden
Wenn einst der Turm zerbrach,
Es sollte etwas künden
Das mir am Herzen lag,[457]
Nun sinn' ich oft vergebens
Was mich so tief bewegt,
Was mit Gefahr des Lebens
Ich in den Spalt gelegt?
Mir sagt ein Ahnen leise,
Es sei, gepflegt und glatt,
Von meinem Lorbeerreise
Das arme, erste Blatt,
Auch daß es just gewittert,
Mir, wie im Traume scheint,
Und daß ich sehr gezittert
Und bitterlich geweint.
Zerfallen am Gewände
Ist längst der Stiege Rund,
Kaum liegt noch vom Gelände
Ein morsches Brett am Grund,
Und wenn die Balken knarren,
Im Sturm die Fahne kreist,
Dann gleitet an den Sparren
Nicht mehr des Ahnen Geist;
Er mag nicht ferner hausen
Wo aller Glaube schwand;
Ich aber stehe draußen
Und schau hinauf die Wand,
Späh durch der Sonne Lodern
In welcher Ritze wohl
Es einsam mag vermodern
Mein schüchtern arm Idol!
Nie sorgt' ein Falke schlechter
Für seine erste Brut!
Doch du, mein grauer Wächter,
Nimm es in deine Hut;[458]
Und ist des Daches Schiene
Hinfürder nicht zu traun,
So laß die fromme Biene
Dran ihre Zelle baun.
Buchempfehlung
In ihrem ersten Roman ergreift die Autorin das Wort für die jüdische Emanzipation und setzt sich mit dem Thema arrangierter Vernunftehen auseinander. Eine damals weit verbreitete Praxis, der Fanny Lewald selber nur knapp entgehen konnte.
82 Seiten, 5.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.
428 Seiten, 16.80 Euro