Nachruf an meinen Bruder

[241] Ach, daß auch wir schliefen!

Die blühenden Tiefen,

Die Ströme, die Auen

So heimlich aufschauen,

Als ob sie all riefen:

»Dein Bruder ist tot!

Unter Rosen rot

Ach, daß wir auch schliefen!«


»Hast doch keine Schwingen,

Durch Wolken zu dringen!

Mußt immerfort schauen

Die Ströme, die Auen –

Die werden dir singen

Von ihm Tag und Nacht,

Mit Wahnsinnesmacht

Die Seele umschlingen.«[241]


So singt, wie Sirenen,

Von hellblauen, schönen

Vergangenen Zeiten,

Der Abend vom weiten

Versinkt dann im Tönen,

Erst Busen, dann Mund,

Im blühenden Grund.

O schweiget Sirenen!


O wecket nicht wieder!

Denn zaubrische Lieder

Gebunden hier träumen

Auf Feldern und Bäumen,

Und ziehen mich nieder

So müde vor Weh

Zu tiefstillem See –

O weckt nicht die Lieder!


Du kanntest die Wellen

Des Sees, sie schwellen

In magischen Ringen.

Ein wehmütig Singen

Tief unter den Quellen

Im Schlummer dort hält

Verzaubert die Welt.

Wohl kennst du die Wellen.


Kühl wird's auf den Gängen,

Vor alten Gesängen

Möcht's Herz mir zerspringen.

So will ich denn singen!

Schmerz fliegt ja auf Klängen

Zu himmlischer Lust,

Und still wird die Brust

Auf kühl grünen Gängen.


Laß fahren die Träume!

Der Mond scheint durch Bäume,

Die Wälder nur rauschen,

Die Täler still lauschen,

Wie einsam die Räume![242]

Ach, niemand ist mein!

Herz, wie so allein!

Laß fahren die Träume!


Der Herr wird dich führen.

Tief kann ich ja spüren

Der Sterne still Walten.

Der Erde Gestalten

Kaum hörbar sich rühren.

Durch Nacht und durch Graus

Gen Morgen, nach Haus –

Ja, Gott wird mich führen.


Quelle:
Joseph von Eichendorff: Werke., Bd. 1, München 1970 ff., S. 241-243.
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