Ein Poet

[221] Kennt ihr den unglückselgen,

Den übermüthgen Mann,

Den wunderbaren, welchen

Niemand begreifen kann!


Ihr wißt, daß keinen Richter

Er über sich erkennt,

Und nennt ihn einen Dichter,

Wie er sich selber nennt.


Ihr lauschet seinen Tönen

Der Eine aber fühlt

Von allen Erdensöhnen

Wie Lorbeer brennt und kühlt!


Zugleich in Lust und Schmerzen

Ist er entzückt, betrübt,

Und oft vom selben Herzen

Gehaßt und heißgeliebt.
[221]

Sein Schicksal ist, zu schauen

Zukünftiges und doch

Am alten Räthsel kauen,

Doch ziehn im ewgen Joch.


Mit Träumen, mit Gedanken,

Mit Prüfung bester Kraft

Zu schwelgen oder kranken

In jeder Leidenschaft.


Was Alles einst empfunden,

Von Andern ward gelebt,

Ihm schlägt es frische Wunden,

Die er durchs Leben schleppt!


Und so ihm der Pelide

Vors Auge treten will,

Da weicht von ihm der Friede,

Er selber ist Achill.


Die Meergöttinnen klagen,

Er sitzt am Strand und weint,

Patroklos ist erschlagen,

Patroklos war sein Freund.


Er grollt, er weint, es schäumet

Hochauf das Meer, er starrt

Hinein, vergißt, versäumet

Den Wink der Gegenwart.
[222]

Erschrecket nicht, zu lesen

An seiner Stirn, daß er

Der Kain einst gewesen,

Und einst der Ahasver.


Der Menschheit tausendfältgen

Geheimsten Kummer muß

In seinem Selbst bewältgen

Der stolze Genius.


In seinem Busen sammelt

Sich auf das Weh der Welt,

Doch keine Demuth stammelt

Der narbenvolle Held.


Mit Trost sich selbst zu täuschen,

Zu göttlich, folgt er nur

Dem hellen Ruf der keuschen,

Der innersten Natur.


Die ihr so unanstellig

Ihn findet zum Geschäft

Des Tages, selbstgefällig

An Klugheit übertrefft.


Die ihr ihn sein bewitzelt,

Und meidet seinen Pfad –

O eure Seelen kitzelt

Sein Wort und seine That.
[223]

Umsonst, daß ihr ihn heißet

Heil suchen anderwärts;

Was wollt ihr thun, ihr reißet

Aus seiner Brust das Herz!


Fürwahr ihm lohnt Verkennung,

So tief er fühlt und ringt,

Daß jeder Tag ihm Trennung

Auch von dem Liebsten bringt.


Auf seinen wilden Wegen

Kommt nimmermehr das Glück

Dem Schmachtenden entgegen

Mit Grüßen in dem Blick.


Ihm ist kein Seelensrieden,

Ihm ist nicht Ruh, nicht Ziel,

Kein Heimathland beschieden,

Kaum irgend – ein Asyl.


Von Wenigen verstanden,

Von Keinem ganz erfaßt,

Nimmt er den Stab zu Handen

Und will auch keine Rast.


So treibt es ihn, zu schweifen,

Unstäten Geistes Kind,

Und seine Früchte reifen

In Wetter und in Wind.
[224]

Sie reifen, wie die Sonne

Von Land zu Land von Pol

Zu Pol ihm Leid und Wonne

Ihm reifte Weh und Wohl.


Dann strömet seine Leier

So klare Töne aus,

Und nimmer kühner freier

Voll süßem Seelengraus!


Wohl tief, ach tief von innen

Entquillt der reiche Klang,

Sein Herzblut muß verrinnen

Mit jenem schönsten Sang.

Quelle:
Ludwig Eichrodt: Leben und Liebe, Frankfurt a.M. 1856, S. 221-225.
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