Sechster Auftritt.

[94] Eduard. Luise.


LUISE langsam und mit Verlegenheit sich ihm nähernd. Eduard – Gott, wie sag' ich's ihm nun? – Da wir doch itzt allein sind; da wir's vielleicht nie wieder seyn werden – wenigstens nicht so bald – – Mit gesunkener Stimme. O, aber dein Ernst – –[94]

EDUARD. Was willst du?

LUISE zaudernd. Wenn du mich missverständest; – wenn du mich mit stolzer Verachtung zurückwiesest – – Doch das wirst du nicht; nein! Sieh, ich will es als Probe deines eigenen Herzens nehmen, deiner Bruderliebe zu mir.

EDUARD. Was soll das? Was heisst das?

LUISE. Komm! – Ihn an's Fenster führend. Sieh erst hieher! Sieh hinüber! Dieses Haus dort – –

EDUARD da sie wehmüthig inne hält. Nun?

LUISE. Ach, es ist ein Haus, so voll Elends! Es stand von seinen Einwohnern verlassen; man brach es auf, und schleppte die Kranken hinein. – Wenn sie hier ankommen, die Unglücklichen; wenn ich oft voll Entsetzens hier stehe, und ihre Jammergestalten, ihre todbleichen[95] Gesichter betrachte – und Nachts, Eduard, Nachts – wenn ich aus Sorge für unsern Vater hier heimlich wache, und in der tiefen Stille ihr Wimmern, ihr Ächzen herüberhöre; wenn ich oft höre, wie der Wagen mit Leichen fortfährt: – denke selbst, wie mir wird! Ich warf mich schon auf den Boden nieder, und hätte mein Alles gegeben – um Ein Wort, Eine Nachricht von dir!

EDUARD bewegt. Luise! – Ah, was soll mir das? – Lass mich!

LUISE ihm nach. Höre! – Du entrissest dich mir? – Nein, du musst mich, du musst mich hören.

EDUARD. Um zu fühlen, wie ich Euch zehnfach zum Fluch bin, und mich zehnfach zu hassen?

LUISE. Gott, wie sprichst du da wieder! Wie schrecklich! – Du hast es ja in deiner Macht, mich zufrieden zu[96] stellen. Du darfst mich nur ausreden lassen. – – Indem er sich in die vorige Stellung hinwirft. Sieh, Eduard! Nicht die Schmerzen, die Leiden jener Unglücklichen sind es, was mich am meisten martert. – Aber dass ihre Wärter ohne Gefühl sind; dass über die Menge und Gewohnheit des Elends alles Mitleiden abstirbt: – das, das ist's, was mir in ihrem Schicksale so schrecklich dünkt, woran ich nie denken kann ohne zu schaudern. – Wenn er nur hätte! seufzt' ich so oft. Wenn ich nur wüsste, dass er sich Mitleiden erkaufen könnte! Ich würde ruhiger seyn. – Nimm dann hier! nimm! Seine Hand ergreifend und seitwärts niederziehend. Und wenn dich einmal ein gleiches Schicksal träfe – –

EDUARD zurückfahrend. Luise! – Um Gotteswillen! –

LUISE. Was ist dir? – Mache dir[97] keine Vorstellungen. Es ist mein. Es sind Geschenke von meiner Kindheit her, die ich zusammensparte. Sie waren dir lange bestimmt. – Also: wenn du so unglücklich wärst, und dich einmal ein gleiches Schicksal träfe – –

EDUARD. Auch dich noch plündern? Hab' ich nicht Vater und Mutter beraubt; und sollt' auch noch dich – sollte von dir –? –

LUISE. So nimm doch! Woher sonst willst du nehmen?

EDUARD. Vom Altar eher. Es ist mir minder heilig.

LUISE. Eduard – Sieh, dein Vater kann für dich nichts. Er leidet oft selbst, und wenn er auch wollte – –

EDUARD erschrocken stillstehend. Wie? – Wie? –

LUISE. Wenn er auch, nach seinem Herzen zu dir – denn du kennst ihn –[98] wenn er sein Äusserstes für dich thun wollte – –

EDUARD. Er leidet, sagst du? Er leidet selbst? Nimmermehr!

LUISE. Ach! wenn du nur wüsstest – –

EDUARD. Gerechter Gott! So wär' er so tief, schon so fürchterlich tief herunter? schon bis zum Mangel?

LUISE mit verändertem Tone. Nur, dass er noch Auswege hat; dass er sich weit leichter, wenn einmal Noth ist – –

EDUARD. Das tödtet! Das ist herzzerreissender, als sonst Alles! – Nach einigen Augenblicken. Gieb! gieb! Ich habe keine Worte, um dir zu danken. – Das Geschenk in ihre Hand zurückpressend. Aber da! Ist es mein; so nimm's wieder! Und wenn Er bald nichts mehr hat; wenn ihm auch die letzte Stärkung, die letzte Erquickung mangelt: – – geh! lauf! bring'[99] ihm noch einen Tropfen Weins, der ihn labe! Lass ihn in seinem Tode Gott danken, dass er doch an dir noch ein Kind hat! Und mich – mich lass fahren und verschmachten! Denn ich verdient' es an ihm. Eilig ab.

LUISE. Eduard – Er ist fort, und – –

MADAME WELLDORF von innen. Luise! – Mein Kind!

LUISE die Augen trocknend und hinein. Meine Mutter!


Ende des dritten Aufzugs.


Quelle:
J[ohann] J[akob] Engel: Eid und Pflicht. Berlin 1803, S. 94-100.
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