XIX.

[190] Die Verwunderung, womit Madam Lyk ihre neue Freundinn so schnell zurückkommen sah, ging in Freude über, als sie den glücklichen Ausgang der Unterhandlung mit Horn erfuhr; aber diese Freude wieder in Unruhe, als die Doctorinn fragte, ob sie ausser diesem Horn, den sie nun freilich fürs erste los sei, nicht noch andere Gläubiger habe?

Ich hoffe, sagte die Witwe, keine so dringende und so ungestüme.

Gesetzt aber, dass ihrer mehrere aufwachten; wie da? – Wär' es nicht für Ihre Ruhe sehr wesentlich, meine Freundinn, lieber allen auf einmal den Mund zu stopfen?

Wenn mir das möglich wäre; wie[191] gerne! – Aber ohne Zeit, die man mir lässt, und ohne Zutrauen, das man mir schenkt – –

Kennen Sie meinen Vater? fiel die Doctorinn ein.

Der Person nach – kaum. Sehr von weitem.

Aber dem Charakter nach? der Denkungsart nach?

Da hab' ich die höchste Meinung von ihm. Ich schliesse auf den Vater von seinen Kindern.

Die gerathen nicht Immer. Glauben Sie mir: die Kinder des alten Stark könnten besser seyn, wenn sie dem guten Vater ähnlicher wären.

Sie sagen für meine Erkenntlichkeit allzuviel.

Für mein Herz allzuwenig. – Und nun fing sie an, ein Gemälde zu entwerfen,[192] das zwar wirklich dem alten Herrn ziemlich ähnlich sah, das aber gleichwohl für ein Bildniss, wofür es doch gelten sollte, zu wenig Eignes und Unterscheidendes hatte. Eine zu gerührte kindliche Dankbarkeit, und eine zu lebhafte Begeisterung, die immer idealisirt und verschönert, hatten die Farben gemischt und den Pinsel geführt. Indessen war eben durch diesen Fehler das Gemälde um so geschickter, der Witwe ein unbedingtes Vertrauen einzuflössen, und eine lebhafte Begierde nach einer so vortrefflichen Bekanntschaft bei ihr zu wecken. Wäre mitten unter den schönen Zügen des verständigen, menschenfreundlichen, grossmüthigen Mannes, auch die ernste Falte des Sittenrichters und das heimliche Lächeln des Spötters, die doch so sehr zur Physiognomie des Herrn Stark gehörten,[193] sichtbar geworden: so würde freilich jenes Vertrauen sehr geschwächt, und diese Begierde sehr gedämpft worden seyn.

Die Witwe bezeugte in den kräftigsten Ausdrücken ihre Bewunderung, ihre Verehrung, und war nicht wenig neugierig, wohin das Alles gemeint sei.

Kennen Sie – muss ich noch weiter fragen – das Blumische Haus?

O sehr wohl. Ich bin Schuldnerinn auch von ihm.

Und wie nimmt es sich? Gut? –

Mehr als gut; äusserst edel. Es hat mir die grossmüthigste Nachsicht von vielen Monaten bewilligt.

Blosse Pflicht, meine Freundinn! – Es hat sich, wie ich sehe, seiner eignen Geschichte und der grossen Verbindlichkeiten erinnert, die es ehemal gegen den guten seligen Lyk, Ihren Schwiegervater, hatte.[194]

Davon weiss ich nichts, sagte die Witwe.

Mir schwebt es vor, wie im Traume. – Ich war noch ganz jung, als einst mein Vater sehr spät von der Börse kam, und den ganzen Tag von nichts als von einem gewissen Blum sprach – dem Grossvater des jetzigen – der seine Zahlungen eingestellt hatte, und dessen Fall man für unvermeidlich ansah. – Mein Vater, obgleich in keiner Handlungsverbindung mit ihm, nahm den lebhaftesten Antheil an seinem Schicksal, und zeigte sich höchst erbittert gegen gewisse heimliche Neider, die den ehrlichen schuldlosen Mann verfolgten, und seinen Fall zu befördern suchten. Er fasste den Entschluss, ihn, wo möglich, zu retten; und der alte Lyk, immer vertrauter Freund unsers Hauses, war von gleicher Gesinnung. Mein Vater untersuchte[195] hierauf die Bücher von Blum, fand seine Rettung, wenn er gehörig unterstützt würde, sehr möglich, so wie ihn selbst an seinem Falle – oder ich sollte sagen, an seiner Verlegenheit – völlig unschuldig.

Die Witwe sah bei diesem letzten Zuge nieder, und seufzte.

Und nun nahm er, in Verbindung mit Lyk, die ganze Schuldenlast auf sich, bezahlte die Ungeduldigen baar, setzte den Andern Termine, und machte mit einem Worte der Verlegenheit und der Verfolgung des Mannes ein Ende. – Was mir, als Kind, diesen Auftritt tief ins Gedächtniss prägte, war mein Erstaunen, einen alten ehrwürdigen Mann mit schlohweissen Haaren, der meines Vaters Vater hätte seyn können, so bitterlich weinen zu sehen. Der gute Mann war ganz aufgelöst[196] in Dankbarkeit und in Rührung. – Er betrat nachher unser Haus sehr oft, der alte, freundliche Blum, und befestigte sein Andenken bei mir durch eine Menge kleiner Spielsachen und Näschereien, die er mir immer zuzustecken pflegte. – – Nun, meine Freundinn? Darf ich noch erst sagen, wo ich hinaus will? – Mein Vater ist noch immer der Alte, sein Wille zu helfen der alte, sein Vermögen dazu – aber nein! das ist nicht mehr das alte; das hat sich indess verdoppelt, vielleicht verdreifacht: und also – was kann Sie hindern, ihm ohne Umstände den Antrag zu thun, dass er an Ihnen, wie ehemal an Blum handeln, und alle Ihre Schulden übernehmen wolle? – Ihre Kinder sind seines Freundes Enkel; überlegen Sie das!

Die Witwe war über diesen Vorschlag[197] nicht bloss erstaunt, sondern erschrocken. Ihre Dankbarkeit trieb sie an, den Rath einer so wohlmeinenden, so zärtlich um sie bekümmerten Freundinn nicht zu verachten; und doch zeigte ihre natürliche Blödigkeit ihr die Befolgung dieses Raths als für sie unthunlich, als beinahe unmöglich.

Kann ich – fing sie zu stottern an – kann ich den Muth haben, Frau Doctorinn – ich eine Fremde – eine ihm völlig Unbekannte – –

Sie dürfen Sich in der That nicht bedenken. Der Dienst, der Ihnen geleistet wird, ist zwar dankenswerth, aber nicht gross. Ihre Sachen, hör' ich, sind durch meinen Bruder bereits in Ordnung; eine Durchsicht ihrer Bücher ist nicht mehr nöthig; Gefahr zu verlieren ist bei Ihnen keine: und also – – Ich lasse nicht ab,[198] liebe Freundinn. Ich bin ein eigensinniges Weib. Sie müssen mir Ihr Wort darauf geben, dass Sie morgen am Tage zu meinem Vater gehen.

Der Witwe stand der Schweiss vor der Stirne. Aber die Doctorinn, obgleich nicht ohne Mitleiden mit ihr, hörte nicht auf, ihr zuzusetzen.

Freilich, sagte sie, wär' es natürlicher, Sie an meinen Bruder, als an meinen Vater zu weisen; denn jenen kennen Sie schon, und ohne Zweifel wissen Sie Selbst, wie viele Hochachtung er gegen Sie hegt, mit welcher Herzlichkeit er Ihnen ergeben ist; – –

Eine feurige Röthe, die sogleich wieder in Blässe überging, flog der Witwe über die Wangen. Die Doctorinn wollte nicht das Ansehen haben, sie zu bemerken. –[199] Allein der seltsame Mensch – Gott mag wissen, aus welcher Grille? – will ja von hier, will sich von seinem Vater trennen, und eine Handlung unter eigner Firma errichten. – Ausser dass er den Einfluss und das Gewicht nicht hat, wie mein Vater; so braucht er gegenwärtig sein bischen Armuth für sich: und so sehen Sie wohl – –

Ich sehe Alles, sagte die Witwe. Ich bin Ihnen für Ihre Theilnahme, für Ihre so unverdiente, gränzenlose Güte unaussprechlich verbunden: allein, da doch gegenwärtig noch keine Noth ist; da Horn, wie Sie Selbst mich versichern, fürs erste schweigt, und da die übrigen Gläubiger mich nicht drängen – –

Die Doctorinn, ob sie gleich sehr ungern diesen Schritt that, sah sich genöthigt, mit der vollen Wahrheit herauszugehen,[200] und der Witwe zu sagen, dass, wenn sie den Gang zu ihrem Vater verweigerte, ihr guter Mann wegen eines für sie ausgestellten Wechsels ins Gedränge kommen, und nicht wissen würde, wie er den ungestümen, hartherzigen Horn befriedigen solle. – Dieses einzige, unerwartete Wort war entscheidend; die Witwe versprach nun heilig, obgleich mit schwerem, muthlosen Herzen, dass sie morgen im Tage dem alten Herrn Stark ihre Ehrerbietung bezeugen wolle.

Quelle:
Johann Jakob Engel: Schriften. Band 12, Berlin 1806, S. 190-201.
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