XXXI.

[333] Es war der Doctorinn peinlich, dass die Witwe kein Ende finden konnte, die Grossmuth ihres Vaters und ihre eigene Freundschaft zu rühmen; aber wie viel sie auch bat und ablenkte, immer kam die Rede darauf zurück. – Ich hätte, sagte die Doctorinn endlich, so gern über meinen Bruder mit Ihnen gesprochen; aber wie ich wohl sehe – –

In dem Augenblick schloss sich der Mund der Witwe, und desto offner stand nun ihr Ohr. –

Sie glauben wohl nicht, dass hinter der scheinbaren Heiterkeit, womit ich zu Ihnen kam, sich ein sehr bittrer Verdruss versteckte? Gleichwohl ist es nicht anders. Ich habe über meinen Bruder zu klagen, recht sehr zu klagen.[334]

Unmöglich! Über so einen Bruder?

Jaja! Über so einen! – Eben dass er so einer ist – –

Liebe Frau Doctorinn! – Sie war ganz sichtbar gekränkt.

Ich kann mir nicht helfen; ich trage mein Herz auf der Zunge. – Sehen Sie, Freundinn! Nichts in der Welt thut mir weher, als wenn man mir meine guten Gesinnungen nicht erwiedert, wenn man mich für meine Offenheit mit Verschlossenheit, für mein herzliches Zutrauen mit kaltem Misstrauen belohnt. – Sagen Sie, was Sie wollen; so etwas ist ärgerlich, ist abscheulich.

Will ich es denn vertheidigen? Aber dass Ihr würdiger Bruder. – –

O, ich sehe schon: Sie werden auf ihn nichts kommen lassen; Sie sind zu sehr seine Freundinn.[335]

Wenn ich's nicht wäre! – Sie hatte Thränen im Auge.

Indessen sind Sie doch auch Freundinn von mir, und Sie werden gerecht seyn. – Ich will das Ärgste setzen, was doch sicher nicht ist: dass mein Bruder eine Sache auf dem Herzen trüge, die ihm eben nicht Ehre machte; kennt er denn nicht seine Schwester, seine liebreiche Schwester, die Alles in der Welt eher thun würde, als ihn verrathen? Kennt er nicht seinen redlichen Schwager, der von jeher so innig Theil an ihm nahm, und der ihn auch jetzt mit Rath und That so gern unterstützen würde? Muss er auf tausend Fragen, auf tausend Bitten, dass er sich öffnen wolle, noch immer verschlossen bleiben?

Aber darf ich denn hören –?

Da ist sehr wenig zu hören. Leider[336] weiss ich, oder errath' ich, nur das ganz Allgemeine: Er liebt!

Er – liebt? – fragte die Witwe, nicht ohne Stocken; denn in dem Augenblick sah sie ihn vor sich, den biedern, den edlen Freund, wie er beim Abschiede die Hand ihr so glühend küsste, dass auch sie sich im Herzen sagte: Er liebt!

Alle Anzeichen sind wenigstens da: ein unablässiges Seufzen; ein stieres Hinblicken auf einerlei Fleck; eine weiche, kränkliche Sprache; ein feuchtes, schmachtendes Auge. – Aber wen er liebt, wen? – mit keinem Bitten, keinem Zureden ist das herauszubringen. – Es wird doch wohl in Ewigkeit keine Person seyn, die nicht mehr frei wäre? die ihr Herz schon verschenkt hätte?

O gewiss nicht! gewiss nicht! sagte die Witwe – und gerieth über dieses rasche,[337] ihr entfahrene Wort in eine Verlegenheit – eine Verwirrung –

Also Sie wissen? indem sie ihr näher ruckte.

Nichts, liebe Freundinn. Ich weiss davon nichts; aber – – ich schliesse aus seiner Denkungsart, seinem Charakter, dass – wenn er so etwas merkte – –

Nun, dann rath' ich nicht länger. Denn dass er eine Person lieben sollte, die er zu nennen mit Recht Bedenken trüge; die seiner unwürdig wäre: – nein, das will und das mag ich nicht rathen.

Ich bitte Sie. Keinen solchen Gedanken! – Sie enthielt sich kaum einer Thräne; denn so möglich es blieb, dass nicht sie diese Person war, so konnte sie doch nicht umhin, sich an deren Stelle zu setzen.

Lassen Sie mich ganz freimüthig herausgehn![338] Ich wende mich nicht ohne Ursache an Sie. Ich habe meinen Bruder die ganze Zeit über, da er Ihre Bücher berichtigte, fast gar nicht gesehen; er war hier jeden Abend bei Ihnen. – Natürlich ward er mit Ihnen vertraut.

Die Witwe zitterte vor dem, was nun folgen würde. Sie erröthete und erblasste.

Sollte da in so manchem Gespräche, in so manchem ungezwungenen, unbelauschten Gespräche – denn Sie waren ja wohl meistens mit ihm allein? – –

Das freilich; aber – –

Sollte da nicht irgend ein kleiner Zug ihn verrathen haben? Sollte nicht irgend ein Wörtchen gefallen seyn, das uns Licht geben könnte?

Ich wußte nicht. Ich müsste zurückdenken, sägte die Witwe. Doch überhaupt – –[339] Was überhaupt, liebe Freundinn?

Er hatte hier Arbeit vollauf; er hatte zu rechnen. Es ward sehr wenig gesprochen.

Rechnungen freilich nehmen den Kopf ein. Aber bei alle dem – der Anfang seiner Leidenschaft fällt gerade in die Zeit, da er bei Ihnen rechnete; denn bis dahin war er noch heiter und munter. Gewiss hat er, neben den Zahlen und Brüchen, noch an etwas Anders gedacht. – Können Sie Sich nicht erinnern, ob Sie einmal Gesellschaft hatten? ob Frauenzimmer darunter waren?

Ich hatte – niemal Gesellschaft. – Sie wusste sich keinen Rath mehr. Sie pflückte und zupfte an ihren Kleidern.

Nun, so werd' ich wohl auch hier nichts erfahren. Ich werde so klug wieder gehn, als ich kam. – Mein, Trost[340] muss seyn, dass die Zeit endlich Alles an's Licht bringt, und dass auch diese Liebe nicht ewig Geheimniss seyn wird. – Indessen glauben Sie nur nicht, dass mich blosse Neugier zu Ihnen geführt hat; es war eben so sehr zärtliche Besorgniss um einen Bruder, den ich Thörinn noch immer liebe, so wenig er es auch werth ist.

Sie sind hart. – O mein Gott!

Ich sehe ihn blässer, magerer werden; sehe ihn alle Heiterkeit, allen Frohsinn verlieren; sehe ihn hinwelken mitten in der Gesundheit: wie kann ich da ruhig bleiben?

Hinwelken! – Liebe Frau Doctorinn!

Nicht anders. Nur noch diesen Morgen sagte mein Mann: das geht nicht; das thut auf die Länge nicht gut; der Bruder muss sich nothwendig erklären.

Die Witwe gerieth hier in eine Wehmuth,[341] die sie kaum mehr bezwang. Auf Erklärung freilich kam's an: und dass er diese zurückhielt; dass er sich lieber in heimlichem Gram verzehrte, als seine Liebe bekannte: was sollte sie daraus schliessen? – Missbilligte er selbst diese Liebe? Stand ihm ihr zu geringes Vermögen; standen ihm ihre Kinder im Wege? –

Eigennuz mischt sich denn auch mit in's Spiel; ich will es nicht läugnen. – Ich hatte einst eine Schwester, die ich an den Blattern verlor; ach ein Geschöpf, liebe Freundinn! – von einer Sanftheit, einer Gefälligkeit, einer Seelengüte! – Wie gerne hätte ich so eine Schwester wieder! Wie hoffte ich immer, dass mein Bruder sie mir zuführen sollte! Wie würd' ich sie, und um ihrentwillen auch meinen Bruder, geliebt haben!

Auch ich – sagte die Witwe – hatte[342] – Und nun zog sie ihr Tuch hervor, und weinte es so über und über voll, dass sie es wegwerfen und sich ein frisches nehmen musste.

Gewiss war Madam Lyk, das Wenige ausgenommen, was von Verstellungskunst jedem Frauenzimmer unentbehrlich ist, nicht im mindesten Heuchlerinn; und ihre Thränen flossen also ohne Zwang, aus der Fülle des Herzens: aber gewundert würde sich, wenn sie hier hätte zugegen seyn können, die kleine Amalie ein wenig haben, dass, im achten Jahre verstorben, und seit vierzehn Jahren nicht mehr erwähnt, sie noch jetzt ein so reichliches Thränenopfer erhielt.

Auch die Doctorinn zog nun ihr Tuch hervor, aber in etwas anderer Absicht; sie verbarg ein Lächeln dahinter. – Lassen Sie uns, fing sie dann an, von diesem[343] Gespräche abbrechen; denn wozu einander wehmüthig machen? Wir wollen denken; was hin ist, ist hin, und was im Grabe liegt, kömmt nicht wieder.

Das kömmt freilich nicht wieder, schluchzte die Witwe.

Hingegen wo noch Leben ist, da ist Hoffnung. – Mein Bruder ist wohl auch nicht so hinfällig, als meine Besorgniss ihn macht; wenigstens, wie ich diesen Mittag sah, hat er noch gute Esslust: und die, denk' ich, ist eben kein Zeichen zum Tode. Sie lächelte. – Übrigens wird er jetzt schwerlich nach Br ... gehen; er wird, denk' ich, hier bleiben: und da – –

Er wird hier bleiben? fragte die Witwe, und schien durch dieses Wort ein wenig getröstet.

Ich denk' es, sagt' ich. – Und da wird denn mein Mann, der sich auf solche[344] Krankheiten versteht, ihn unter der Aufsicht behalten, und wird ihm schon wieder zu Kräften helfen. Vernünftig wird er ja auch wohl am Ende werden, und wird sich erklären. Meinen Sie nicht? – Sie. lächelte wieder.

Die Witwe gerieth über die plötzliche Veränderung des Tons und der Gebehrde der Doctorinn in nicht geringe Verwirrung. Fast musste sie glauben, dass nicht des Bruders, sondern ihrer selbst wegen geforscht worden sei, und dass jener seine Liebe zu ihr der Schwester schon erklärt haben müsse. Diese Vermuthung bestätigte sich, als die Doctorinn mit voller Heiterkeit fortfuhr: Ich bekomme denn, doch noch wohl eine Schwester; o! ich bekomme sie ganz gewiss; eine eben so gute, sanfte, liebreiche Schwester, als die ich verloren habe. Mich dünkt, ich sehe[345] die holde Seele schon vor mir. – Sie hatte die Hand der Witwe genommen, der sie bei diesen letzten Worten einen sanften Druck gab; und die Witwe, unbewusst was sie that, und zu spät darüber erschreckend, erwiederte nicht allein diesen Druck, sondern zeigte auch in ihrem noch feuchten Gesichte ein sanftes Lächeln. Sie war böse über die Hinterlist ihrer Freundinn, und war's doch auch nicht; sie ärgerte sich über die heitre Miene derselben, und war doch auch froh darüber; sie wusste selbst nicht recht, wie sie gesinnt war. Aber allein wäre sie gerne gewesen, um alles Gesprochne noch einmal zu überdenken, und bei sich auszumachen, wie viel oder wie wenig sie wohl von ihrem Herzen verrathen habe.

Die Doctorinn, als ob sie ihr diesen Wunsch aus den Augen gelesen hätte,[346] stand auf, um Abschied zu nehmen. Es wird spät, sagte sie; ich muss fort. Leben Sie wohl, meine gute, sanfte, liebe – – ach mein Gott! ich härte bei einem Haare gesagt: Schwester! Sie sehen, wie voll ich den Kopf von der Herzensangelegenheit meines Bruders habe. – Was meinen Sie? Soll ich ihm ganz wieder gut seyn?

Ach liebe Freundinn! Sie waren ihm noch keinen Augenblick böse.

Nicht? Wirklich nicht? – und nun erfolgte eine wärmere, längere Umarmung, als noch bis jetzt unter ihnen Statt gehabt hatte.

Auf der Flur fand die weggehende Doctorinn den ältesten Sohn der Lyk, den sie aufhob und küsste. Der jüngere lag an einer kleinen Unpässlichkeit nieder. Sie hatte den schnellen Einfall, die Mutter zu bitten: dass es ihr morgen früh erlaubt[347] seyn mögte, den Kleinen holen zu lassen, um ihn einem der grössten Kinderfreunde, ihrem guten alten Vater, zu zeigen, der an der schönen Gestalt und dem artigen Betragen des Kindes sich sehr ergötzen würde. – Er kann, sagte sie, mit meinen eigenen Kleinen spielen, und kann bei uns essen. – Die Mutter bewilligte das, und der Knabe hüpfte und sprang vor Freuden. – –

Zu Hause machte die Doctorinn ihren Mann, aber noch mehr ihren Bruder, durch die mitgebrachten Nachrichten sehr glücklich. Besonders rührte den Letztern die Unterstützung, die sein Vater der Witwe hatte angedeihen lassen; er empfand darüber eine Freude und eine Dankbarkeit, wie er sie über die grösste, ihm selbst erwiesene Wohlthat nicht würde empfunden haben. Aber unzufrieden war[348] er, dass die Schwester mit dem Inhalte des Gesprächs, welches zwischen ihr und der Witwe vorgefallen war, so sehr zurückhielt, und dass er mit allem Forschen nichts weiter herausbrachte, als bloss: er werde geliebt; er werde ganz sicher geliebt; und sie, die Schwester, stehe ihm für ein freudiges Ja, sobald er es fordern würde, mit ihrem Leben. Was die Witwe Alles gesagt, und durch was für Züge sie ihr Herz verrathen habe: das verhüllte auch ihm, ob er gleich Bruder und Liebhaber war, der Schleier des weiblichen Zartgefühls; nur dem Ehemanne ward, im vertraulichen Schlafkämmerlein, dieser Schleier ein wenig gelüpftet.

Quelle:
Johann Jakob Engel: Schriften. Band 12, Berlin 1806, S. 333-349.
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