Das Priesterseminar

[119] Aurelio ist der jüngere Sohn eines reichen Bäckermeisters. Ob der Vater Bedenken spürte über die Entstehung seines Vermögens und deshalb eine verwandtschaftliche Beziehung zum Himmel für gut hielt, oder ob er wollte, daß das Vermögen in der Hand des Ältesten zusammenblieb, oder endlich, ob die Mutter eine geheime Neigung zum Priesterstand hatte: genug, Aurelio wurde für die Kirche bestimmt. Er blieb bis zum achtzehnten Jahre bei den Eltern, erwarb eine nach seiner Meinung große Gelehrsamkeit in der lateinischen Sprache und soll nun einem Priesterseminar übergeben werden. Der Vater hat bereits alle nötigen Schritte getan, und da die im folgenden zu erwähnende Schwierigkeit von seiten des guten Aurelio dazwischengekommen ist, so hat er mit dem ehrwürdigen Rektor des Seminars abgemacht, daß er Aurelio mit einem Brief zu ihm schicken wird; man wird dann Aurelio im Kloster behalten, und wenn er sich etwa sträuben sollte, einen gelinden Zwang anwenden.

Die Schwierigkeit ist, daß Aurelio eine Freundschaft mit Truffaldin hat, durch ihn in die Freundschaft der übrigen Schauspieler aufgenommen ist, freien Zutritt zu den Aufführungen bekommt, seinen Freund hinter der Szene besuchen darf und eine heimliche Neigung zu Isabellen verspürt, Isabellen, der treuen Gemahlin Truffaldins; mit einem Wort, daß Aurelio nicht Priester werden will, sondern Schauspieler.

Der Vater hat also einen Brief in der Hand, der sauber gefaltet und zugesiegelt ist, reicht ihn dem Sohn und sagt gewichtig, daß er ihn sofort dem Rektor des Priesterseminars überbringen solle; die Mutter steht daneben und wischt sich mit dem Schürzenzipfel die Augen; Aurelio nimmt fröhlich den[120] Brief, sagt strahlend: »Wird besorgt!« und zieht ab, indem er schmetternd Truffaldins Liebeslied in die Lüfte jubelt aus dem Stück, das augenblicklich gespielt wird; natürlich kann er Truffaldins Rolle auswendig.

Truffaldins Wohnung liegt auf dem Weg; Aurelio denkt selbstverständlich, daß der Brief ja Zeit hat, und beschließt einen Augenblick bei seinen Freunden vorzusprechen; er findet sie auch zu Hause, und bald hat eine lebhafte Unterhaltung zwischen ihm und Isabellen begonnen; Truffaldin hört etwas mißmutig zu, wir müssen zugeben, daß er auf seinen Freund leicht eifersüchtig ist.

Ja, wir müssen auch mit der Sprache heraus über eine Schändlichkeit Truffaldins. Truffaldin ist selber heimlich zu Aurelios Vater gegangen, hat ihn auf die Theaterleidenschaft seines Sohnes aufmerksam gemacht und ihm den Rat gegeben, solange es noch Zeit sei, ihn im Priesterseminar festzuhalten. Truffaldin ist natürlich in den besten Jahren, Isabelle hat bereits die Mitte der Zwanzig erreicht; wir wissen auch nicht, ob die Eifersucht begründet ist; aber Leidenschaften beanspruchen ja keine logische Begründung, sie sind eben da, und kurz und gut, Truffaldin ist eifersüchtig, und es scheint ihm sicherer, wenn Aurelio im Priesterseminar sitzt.

Wie Aurelio jetzt wieder unaufhörlich Süßholz raspelt, fragt er denn, was er vorhabe; Aurelio erzählt von dem Brief und sagt, daß er den auch morgen abgeben könne; Truffaldin ist sich natürlich darüber klar, daß der Brief bedeutungsvoll ist, aus der Erzählung des guten Aurelio geht auch hervor, daß der Vater ihn wichtig gemacht hat. Er kämpft innerlich einen kurzen Kampf, ob er die Beiden allein lassen soll, dann sagt er entschlossen: »Gib mir den Brief, ich komme in die Nähe des Klosters und will ihn abgeben.« Aurelio ist selig darüber, daß er die reizende Isabelle nun allein genießen wird, überreicht ihm den Brief und schärft ihm ein, daß er ja nicht etwa gleich[121] wieder fortgeht, wenn er ihn abgegeben, sondern auf Antwort wartet.

Truffaldin pilgert also zum Kloster und freut sich, daß er den unbequemen Freund nun bald los sein wird. Er gibt seinen Brief ab, der Herr Rektor kommt ins Wartezimmer, sieht ihn sich interessiert an, sagt erstaunt: »Sie sehen aber mal alt aus!« Das ist einem Schauspieler recht unangenehm, wenn man ihn alt findet: Truffaldin antwortet also beleidigt: »Alt, ich, ich alt? Ich bin noch nicht zwanzig!« Der Rektor winkt mit einer milden Handbewegung und sagt: »Ich weiß, ich weiß, ich habe Ihren Taufschein.« Zwei kräftige Männer treten auf und bitten Truffaldin, ihnen zu folgen, und kurz und gut, Truffaldin wird in ein festes Gewahrsam gebracht; da wollen wir ihn zunächst lassen.

Aurelio sitzt inzwischen bei der liebreizenden Isabelle, hält ein Bund Strickwolle, das sie auf ein Knäuel wickelt, hilft ihr die Haken an ihrer Jacke schließen, denn es wird allmählich Zeit, ins Theater zu gehen; da Truffaldin immer nicht zurückkommt, so nehmen die Beiden an, daß er sie im Theater erwartet, und gehen dorthin; im Theater treffen sie ihn nicht; die Vorstellung muß gleich beginnen, der Inspizient rast im ganzen Hause herum und sucht ihn, der Direktor kommt und ist besorgt, alles fragt nach Truffaldin, das Publikum beginnt zu husten, zu rufen, zu scharren; Truffaldin ist nicht da. Ängstlich stehen die Schauspieler auf einem Haufen, der Direktor reißt sich die Haare aus; das Stück kann doch nicht beginnen, wenn Truffaldin fehlt; da tritt Aurelio vor und sagt: »Ich will einspringen.« Isabelle beglaubigt, daß er die Rolle kann, der Direktor seufzt, zuckt die Achseln und sagt endlich: »Na, meinetwegen! Der soll aber morgen einen Strafzettel kriegen, daß er auf den Rücken fällt!« Aurelio wirft sich schnell ins Kostüm, Isabelle schminkt ihn, der Vorhang geht hoch, Aurelio tritt auf; das Publikum ist erst noch unruhig,[122] dann verwundert, dann erstaunt, dann hingerissen, dann begeistert, und Aurelio hat einen Beifall, ein Händeklatschen, ein Trampeln, ein Rufen, einen Jubel, ein Tosen, ein Rasen, daß sämtliche Ratten, welche sich im Theater aufhalten, nervös werden und mit eingeklemmtem Schwanz in die Nebenhäuser fliehen; die Besitzer der Häuser haben später eine Klage deswegen gegen Aurelio angestrengt, die natürlich abgewiesen wurde.

Nach der Aufführung wartet das Publikum am Ausgang; da steht ein Wagen; die Pferde werden ausgespannt; man setzt Aurelio in den Wagen, Isabellen, die mit ihm heraustritt, zu ihm, und nun ziehen die kunstsinnigen jungen Leute die Beiden zu Truffaldins Wohnung. Vor der Haustür will Aurelio noch eine Dankrede halten, die Rührung erstickt seine Stimme, er stammelt nur immer: »Ich danke, meine Freunde, ich danke, meine Freunde.« Isabelle zieht den halb Bewußtlosen nach oben.

Am andern Tage ist Truffaldin immer noch nicht wieder zurück. Der Direktor erklärt, daß Truffaldin kontraktbrüchig ist, daß er Aurelio an seiner Stelle engagiert. Isabelle fällt ihm um den Hals und küßt ihn; Aurelio ist noch immer wie im Traume; er drückt dem Direktor warm die Hand und sagt: »Ich verspreche Ihnen, der erste Schauspieler des Jahrhunderts zu werden.«

Aurelios Eltern nehmen an, daß ihr Sohn im Kloster gut aufgehoben ist und fleißig die Summa des heiligen Bernhard studiert, und halten es für richtig, wenn sie ihn zunächst eine Weile sich selber überlassen. Aurelio hat auch keinen Grund, seine Eltern zu besuchen, und so würde denn alles gut gehen, wenn von Truffaldin im Kloster nicht merkwürdige Dinge geschähen.

Man hat ihn zunächst in seiner Zelle einige Tage sich selbst überlassen. Pünktlich bekommt er durch einen Aufwärter sein[123] Essen in die Zelle geschoben, ein sehr gutes, sehr reichliches Essen; die Bekenntnisse des heiligen Augustin und ein Brevier liegen zu seiner Unterhaltung auf einem hübsch geschnitzten Betpult; aber Truffaldin macht keinen Gebrauch von den Büchern, da er nicht Latein kann.

Endlich kommt der ehrwürdige Herr Rektor zu ihm. »Nun, mein Sohn,« fragt er, »hast du nun in diesen Stunden der Einsamkeit dein Leben vor deinem geistigen Auge vorüberziehen lassen?« Truffaldin ist sich natürlich klar, daß der Rektor ihn für Aurelio hält, daß er von dem Alten Auftrag hat, den guten Aurelio gefügig zu machen. Er versucht ihm den Irrtum zu erklären. Aber auf den Alten hatten die Erzählungen Truffaldins von dem Leben Aurelios mit den Schauspielern – sie waren, müssen wir zugeben, recht übertrieben – einen solchen Eindruck gemacht, daß er seinen Sohn dem Rektor als einen äußerst raffinierten Burschen geschildert hatte. Lächelnd schüttelt der Rektor sein ehrwürdiges Haupt, als Truffaldin ihm sagt, daß er gar nicht Aurelio sei. »Ich kenne dich, mein Sohn«, antwortet er; »deine Künste sind zwecklos. Aber du hast einen guten Kern. Schon mancher Jüngling, der von seinen Angehörigen aufgegeben war, ist zu uns gekommen. Im Laufe meines Lebens habe ich viele Erfahrungen gesammelt, ich kann Menschen beurteilen. Als ich dich erblickte, sagte ich mir: dieser Jüngling ist nicht verloren; ich werde ihn noch retten, denn er ist zu retten.«

So spricht der Rektor eine Weile, und was auch Truffaldin sagen mag, es ist alles vergeblich. Deshalb beschließt er denn, sich in das Unvermeidliche zu fügen, damit er mehr Freiheit bekommt und eine Gelegenheit finden kann, aus der Gefangenschaft zu entweichen. Freundlich sagt der Rektor, als er nicht mehr widerspricht: »Ich dachte es mir ja, mein Scharfblick hat mich noch nie getäuscht. Bete, mein Sohn, auch ich will beten, wir alle, damit deine Besserung anhält.«[124]

Zunächst tritt nun aber keine größere Änderung in Truffaldins Lage ein; nur, daß ihn von jetzt an der Rektor täglich besucht. Der arme Truffaldin dachte ja recht wenig an sein Seelenheil; er dachte an Isabellen, an Aurelio, der nun alle Freiheit hatte, sich Isabellen zu nähern – ach, wenn er gewußt hätte, daß das, was wirklich geschah, viel schlimmer war, als was er fürchtete!

Nach einer Weile läßt man Truffaldin an den Unterrichtsstunden teilnehmen. Mit einem Heroismus sondergleichen folgt der dem Vortrag; die Lehrer merken bald seinen Eifer; der Rektor kündigt ihm an, daß er ihn aus seinem Einzelgefängnis befreien wolle; er wird in einen Saal geführt, in welchem ein Dutzend Seminaristen zusammenwohnen; nun späht er nach Gelegenheiten zu entkommen; aber die Fenster des Saales sind vergittert, und die Tür ist immer abgeschlossen; zum Unterricht und zum Essen werden die Zöglinge geführt.

So vergeht nun eine längere Zeit.

Eines Tages kommt der Ordensgeneral, um das Kloster zu revidieren. Der Rektor erzählt ihm von der Studienanstalt, von den einzelnen Schülern, auch von unserem Truffaldin und seinem schnellen Einleben, der guten Auffassungsgabe und dem frommen Eifer. Der General hat Lust, sich den jungen Mann anzusehen; es ist schon gegen neun Uhr abends, wo die Seminaristen bereits im Bett liegen; aber da der General am andern Morgen früh weiterreisen will, so geht er mit dem Rektor und den Lehrern zu dem Saal, in welchem Truffaldin sich mit den andern aufhält. Der Rektor zieht den Schlüssel aus seiner Kutte und will ihn eben ins Schloß stecken; da erschallt ein lautes Lachen durch die Tür. Der General macht eine Handbewegung, beugt sich zum Schlüsselloch und sieht durch; die Andern legen das Ohr an die Tür und horchen angestrengt.

Sie hören merkwürdige Dinge. »Isabelle, ich weine Tränen«,[125] sagt eine tiefe Stimme. »Wer Geld hat, der braucht nicht zu weinen«, antwortet eine Frau; »ich bin ein armes Mädchen, ich kann nicht bloß einen Liebhaber haben.«

»Es sind Frauen im Kloster«, sagt ernst der General. Die Mönche sind bleich geworden. Der General befiehlt durch eine Handbewegung dem Rektor, zu öffnen.

Als die Tür aufgeht, da sehen sie den Jüngsten der Seminaristen, die Kutte niedergestreift und hinten schleifend, den Oberkörper im bloßen Hemd, so daß er aussieht wie eine Dame mit einer weißen Taille und einem schleppenden braunen Rock; ihm gegenüber steht Truffaldin in dem Anzug, in welchem er ins Kloster gekommen ist; auf den Stühlen vor ihnen sitzen die anderen Seminaristen und bewundern das Spiel der Beiden.

Noch an demselben Abend ist Truffaldin aus dem Kloster entlassen.

Froh eilt er den Berg hinab zwischen Gartenmauern, durch die Straßen und Gassen, bis er vor seinem Hause steht; es ist etwa elf Uhr, als er die Tür zu seinem Wohnzimmer öffnet.

Aurelio und Isabelle sind aus dem Theater gekommen und essen gerade ihr Abendbrot. Aurelio sitzt vor dem Tisch auf einem Stuhl, Isabelle auf seinem Schoß; vor ihnen liegen geröstete Kastanien; Isabelle hat gerade eine Kastanie geschält und schiebt sie liebevoll Aurelio in den Mund.

Quelle:
Paul Ernst: Komödianten- und Spitzbubengeschichten, München 1928, S. 119-126.
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