Der Seelenfrieden

[325] Pietrino war Hausschlächter gewesen, ehe er dem allgemeinen Verband der Gauner von Rom und Umgebung beigetreten war. Aus dieser früheren Zeit hatte er noch allerhand Beziehungen und Bekanntschaften, die er natürlich ausnützte.

In einer der besten Straßen von Rom steht ein stattliches Haus, das einen schönen Mietsertrag abwirft. Es gehört einer sehr alten Dame von über achtzig Jahren. Die alte Dame lebt mit ihrer einzigen Tochter zusammen, die unverheiratet geblieben ist, weil sie die heilige Pflicht erfüllen mußte, ihre Mutter zu pflegen; diese Tochter ist nun auch schon über fünfzig Jahre alt.

Pietrino ist der Ansicht, daß es ein Unrecht von den alten Leuten ist, wenn sie über ihre Zeit hinaus leben. Die Menschheit ist nicht darauf eingerichtet, und die betrogenen Verwandten werden benachteiligt. Man nehme an, jemand hätte ganz gut mit fünfundsechzig Jahren streben können, lebt aber achtzig. Was ist die Folge? Die Zinsen, die er in den fünfzehn Jahren genossen hat, machen so viel aus, wie das ganze Kapital; es ist also nicht anders, als wenn er seine Erben um das Kapital betrogen hätte.

Das Haus wird auf fünfzigtausend Skudi geschätzt. Der Mietsertrag beträgt jährlich dreitausend Skudi, wobei die Wohnung der beiden Damen nicht mitgerechnet ist. Die Besitzerin hat seit über fünfzehn Jahren – seit der Zeit, wo sie eigentlich hätte das Haus ihrer Tochter hinterlassen müssen – keine Ausbesserungen machen lassen. Das Dach ist in einem schändlichen Zustand; die Löcher sind mit alten Unterröcken verstopft, und wenn es regnet, so muß die Tochter alle Wannen, Tuppen, Gelden, Näpfe, Töpfe, Kannen,[326] Fässer und Schüsseln auf dem Boden untersetzen. Die alte Dame bewahrt das Geld in Säcken auf, die sie selber aus alten Hosen ihres verstorbenen Mannes herstellt, indem sie die Hosenbeine abschneidet, sie oben zunäht und unten eine Schnarre durchzieht. Wenn ein Hosenbein bis oben voll ist, so wird es versiegelt. Sie hat in ihrem Kleiderschrank schon acht Hosenbeine stehen; nun bleibt ihr nur noch die gute Abendmahlshose des Seligen übrig, die sie bis zuletzt geschont hat, und sie beklagt sich bitter, daß sie damals, beim Tode ihres Mannes, die alte Hose ihrer Aufwärterin geschenkt hat, welche der Selige immer anzog, wenn er abends im Dunkeln vorm Hause den Pferdemist sammelte, mit dem er seine Topfpflanzen düngte.

Die Tochter, wir wollen sie Lydia nennen, ist keine Schönheit, aber sie besitzt ein strenges Pflichtbewußtsein. Ihre Oberlippe ist sehr lang; sie hat jene eigentümliche Armstellung alter Jungfern, denen die Oberarme am Körper festgewachsen zu sein scheinen, so daß sie eine Art von Paddelbewegungen mit Unterarmen und Händen machen; dazu behält sie aus ihren früheren Jahrzehnten einen jugendlich hüpfenden Gang bei. Aber, wie gesagt, sie hat ein sehr strenges Pflichtbewußtsein. Sie liebt ihre alte Mutter, wie es ihre Pflicht ist, sie verehrt sie.

Pietrino weiß, wann die alte Dame ihr Mittagsschläfchen in ihrem Ohrenstuhl hält; in diesem Schläfchen darf sie nicht gestört werden; Lydia sitzt indessen im vorderen Zimmer mit einer Häkelarbeit. Zu dieser Zeit kommt also Pietrino und tut, als ob er einen Besuch machen will, um sich nach dem Befinden der Damen zu erkundigen. Er erzählt nebenbei, daß er nicht mehr Hausschlächter ist; er ist Kaufmann geworden, vertritt auswärtige Häuser und macht auch selbständige Geschäfte. Bei dieser Gelegenheit möchte er dem gnädigen Fräulein ein vorteilhaftes Geschäft vorschlagen; er weiß ja nicht, ob sie darauf eingehen wird, das ist ihre Sache; aber es ist[327] seine Pflicht, es ihr vorzuschlagen, er ist Kaufmann, er hat für die höchstwertige Anlage des Nationalvermögens zu sorgen, und er kann sagen, er liebt seinen Beruf. Nämlich er kennt einen Importeur von französischen Seidenstoffen. Der Mann macht ein großes Geschäft und braucht ein Haus in einer guten Lage. Er wäre geneigt, für das Haus sechzigtausend Skudi zu zahlen, denn das Haus liegt ihm bequem, er ist ein Mann von weitem Gesichtskreis, und nichts ist ihm verhaßter als Kleinlichkeit.

Lydia wird sehr aufmerksam. Sie hat immer gehört, daß das Haus nur fünfzigtausend Skudi wert ist. Sie läßt ihre Häkelarbeit sinken und sagt, das sei ja freilich eine schöne Aussicht für ihre alten Tage, denn sie werde einmal allein stehen in der Welt. Aber dann schüttelt sie den Kopf. Mutter wird das Haus nie verkaufen. Mutter ist mißtrauisch. Sie sagt immer, heutzutage sind alle Leute Gauner.

Pietrino schildert in den glühendsten Farben, was Lydia mit den sechzigtausend Skudi machen kann. Sie kauft sich einen Schiffsanteil, Verzinsung zwanzig bis fünfunddreißig Prozent. Sie kauft sich Land vor den Toren, bombensicheres Geschäft, zerschlägt und verpachtet es an kleine Leute. Lydia schüttelt den Kopf. Nein, so etwas versteht sie nicht, sie würde sich wieder ein Haus kaufen, ein kleineres vielleicht. Pietrino weiß Häuser, die in Frage kommen; es solle doch ein seines, herrschaftliches Haus sein, ein Haus, in dem man keinen Ärger mit den Mietsleuten hat, ein Haus, das sich gut verzinst? Er hat sogar solche Häuser an der Hand, man hat sie ihm angestellt. Lydia schüttelt den Kopf und nimmt seufzend ihre Häkelarbeit wieder auf. Mutter tut es nicht. Es ist besser, ihr gar nichts zu sagen. Sie denkt gleich, man rechnet darauf, daß sie bald sterben wird. Alte Leute sind so, nicht wahr? Man muß Geduld mit ihnen haben; wir wissen ja nicht, wie es mit uns wird, wenn wir alt sind.[328]

Pietrino überlegt sich die Sache. Er macht einen anderen Vorschlag. Wie wäre es, wenn Fräulein Lydia selber verkaufte? Sie ist die Universalerbin. Wir wünschen ja der alten Dame, daß sie noch lange leben möge, sie ist ja auch rüstig, man merkt ihr das Alter nicht an; aber der Mensch ist nun einmal sterblich, wir müssen ja alle sterben; und weshalb soll man nicht seine Anordnungen für einen solchen Fall treffen? Das ist keine Lieblosigkeit. Man hat sogar die Pflicht. Er selber würde wünschen, daß seine Erben einmal so handelten. Man soll sich durch die Ereignisse nicht überraschen lassen. Eine gleich günstige Gelegenheit für den Verkauf kommt nicht so leicht wieder. Und so redet Pietrino weiter, indem er in geschäftsmännischer Weise mit den Händen waschende Bewegungen macht und den Oberkörper verbindlich vor- und zurückbeugt.

Lydia schüttelt wieder den Kopf. Mutter würde das doch merken. Wenn der Herr das Haus braucht, dann müßten sie doch umziehen. Nein, und ein Umzug auf Mutters alte Tage, daran hatte sie noch gar nicht gedacht, wenn auch alles andere nicht wäre, das kann sie Mutter nicht zumuten. Mutter hat ihre Gewohnheiten. Sie hat ihren Ohrenstuhl am Fenster, ihre Fußbank muß immer gerade vor dem Stuhl stehen, sonst schilt sie; Mutter ist ja wohl etwas wunderlich, das kann doch vorkommen, daß die Fußbank einmal schief steht, nicht wahr? Zuweilen hat sie sie selber verschoben.

Pietrino spricht ernst, väterlich. Er nimmt Lydias widerstrebende Hand. »Fräulein Lydia«, sagt er. »Es ist keine Sünde, die wir begehen. Wie lange kann Ihre Frau Mutter nach menschlichem Ermessen noch leben? Sie ist hoch in die Achtzig. Des Menschen Leben währet siebzig Jahre, und wenn es hoch kommt, achtzig Jahre ...«

Hier unterbricht ihn Lydia, führt ihr Taschentuch an die[329] Augen und sagt: »Wenn ich Mutter einmal hergeben soll, das überlebe ich nicht.«

Pietrino aber fährt fort: »Es sind zehntausend Skudi über den Wert. Fräulein Lydia, greifen Sie zu. Eine solche Gelegenheit kommt nie wieder.«

Lydia nickt und sagt, daß sie das ja einsieht.

Pietrino hat die alte Dame gesehen, als er das letztemal da war. Sie ist nicht mehr, was sie war. Er hatte einen Schreck gekriegt. Jetzt haben wir Sommer. Alles geht gut. Aber nun kommt der Herbst, die Erkältungen kommen, man kann sich vor den Erkältungen nicht schützen. Wie viele alte Leute sterben da an Lungenentzündung, und sie sind nicht so geschwächt, wie die alte Dame ist. Aber gut, sie hat die Pflege ihrer Tochter, es geht ihr nichts ab, sie hat keine Sorgen, sie soll sich halten. Nun kommt das Frühjahr. Weiß Fräulein Lydia, was das Frühjahr für alte Menschen bedeutet? Die Natur wird wieder lebendig in ewigem Sichselbsterneuern, der alte Mensch stirbt.

Lydia trocknet sich die Tränen ab. Einmal muß sie Mutter ja hergeben; sie hat selber schon gedacht, ob sie den nächsten Sommer noch erleben wird? Mutter hat abgenommen, sie hat sehr abgenommen. Lydia kommt nicht aus der Angst. Sie horcht des Nachts, ob sie das Atmen noch hört. Stundenlang liegt sie wach und horcht.

Pietrino geht auf den Herrn über, der das Haus im Auge hat. Der Herr braucht es nicht sofort. Es genügt ihm, wenn er es per ersten April übernehmen kann. Zahlung erfolgt in bar am Tage der Übernahme.

Und nun erhebt sich Pietrino, denn er ist ein Menschenkenner, das erfordert ja schon sein Beruf. Er läßt seine Gedanken langsam wirken. Er verabschiedet sich also und erklärt, daß er in acht Tagen mit dem Herrn kommen wird, um sich den Bescheid zu holen. Lydia entläßt ihn zögernd. Sie bittet Pietrino,[330] mit dem Herrn wenigstens um dieselbe Stunde zu kommen, weil Mutter da schläft, denn sonst ist sie nicht frei. Pietrino hatte ohnehin diese Absicht und verspricht es.

Also nach acht Tagen kommt er mit Lange Rübe, der als großer Kaufmann auftritt und einen seinen, aber gleichzeitig soliden Eindruck macht. Lydia weint. Der Gedanke ist ihr unfaßbar. Sie hat ihre Kindheit in dem Haus verbracht, ihre selige Jugendzeit; soll sie sich denn nun wirklich von diesen Räumen trennen? Pietrino erklärt, daß das ja noch lange hin ist, und wer weiß, was inzwischen geschieht! Aber einstweilen zieht Lange Rübe einen Kaufvertrag aus der Tasche, in dem alles ausgefüllt ist. Lydia errötet und nimmt verlegen das Papier; denn Lange Rübe hat etwas an sich, das auf Frauen Eindruck macht, auch wenn er gar nichts sagt. Pietrino sagt, sie solle sich alles gründlich durchlesen, er werde am nächsten Tag kommen und die Unterschrift holen.

Am nächsten Tag kommt er und holt den unterschriebenen Kaufvertrag.

Die meisten Menschen werden glauben, daß die Beredsamkeit Pietrinos und die Aussicht, zehntausend Skudi zu gewinnen, Lydien veranlaßt habe, ihre Unterschrift zu geben. Tieferblickende nehmen vielleicht an, daß das eigentümlich sinnverwirrende Wesen von Lange Rübe, irgendeine nicht eingestandene Sehnsucht und Hoffnung vielleicht eingewirkt haben können. Sie haben unrecht.

Bekanntlich sagt Kant, wir müssen so handeln, daß die Maxime unseres Handelns allgemeine Maxime werden kann. Lydia hat so gehandelt. Sie hat nicht an sich gedacht. Von Mutters Bruder sind Enkel da, die einmal von ihr erben werden; sie können es brauchen, denn Mutters Bruder hat seinerzeit unverantwortlich gehandelt. An die hat sie gedacht bei den zehntausend Skudi, denn für sie selber ist ja doch gesorgt, sie braucht noch lange nicht ihre Zinsen. Nach Kant[331] müßte sie nun Seelenruhe haben. Aber sie hat keine Seelenruhe.

Ungefähr ein Monat ist verstrichen, da kommt Pietrino wieder. Er räuspert sich, spricht von geschäftlichen Verpflichtungen, von Zahlungen, die er selber leisten müsse, kurz und gut, er kommt mit einer Forderung von sechshundert Skudi zum Vorschein; er ist nämlich Agent und erhält für die gelungene Vermittlung zehn pro Mille. Das gnädige Fräulein wird die Forderung nicht unbescheiden finden, denn seiner Intelligenz und Tatkraft verdankt sie ja den günstigen Verkauf des Grundstücks, bei dem denn nur zu hoffen steht, daß auch alles übrige glatt abläuft, damit der neue Besitzer sein Eigentum ohne Weitläufigkeiten antreten kann.

Lydia hat von Agenten und Vermittlungsgebühren nie vorher etwas gehört und hat geglaubt, daß Pietrino mit dem Herrn gesprochen hat und dann sie besucht hat, und vielleicht ein Freund des Herrn war; sie wird sehr verlegen; denn erstens möchte sie natürlich überhaupt nicht sechshundert Skudi für nichts bezahlen, und zweitens hat sie ja gar kein Geld, denn Mutter macht sogar die kleinen laufenden Ausgaben für die Wirtschaft selber; Lydia hat noch nie einen Skudo in der Hand gehabt.

Nun, Pietrino weist ihr die Rechtmäßigkeit seiner Forderung nach, indem er ihr das Handelsgesetzbuch aufschlägt, das er für diesen Zweck mitgebracht hat. Sie versteht die gelehrte Rechtssprache nicht; Pietrino sagt, vielleicht sei das Einfachste, wenn er die Forderung einklage; solche Klagen kommen unter Kaufleuten täglich vor, wenn man ungewiß ist, ob eine Zahlung rechtmäßig zu leisten ist, und man sei sich dabei doch gut Freund; Lydia erschrickt und verspricht das Geld zu zahlen, aber sie bittet ihn, abzuwarten, bis sie die Kaufsumme hat.

Pietrino hat Gründe, wie wir uns denken können, auf sofortiger Zahlung zu bestehen.[332]

Wir wollen die Leiden Lydias nicht ausmalen. Sie trennt heimlich eine Naht in einem Hosenbein auf, entnimmt ihm sechshundert Skudi, tut an ihre Stelle Knöpfe aus der Knopfschachtel, in welcher die alten Knöpfe von den Anzügen ihres Vaters gesammelt sind, und bezahlt den immer höflich, aber energisch drängenden Pietrino.

Und nun ist auch der Sommer vergangen, und der Herbst ist gekommen. Der Herbst ist sehr gesund. Der Herbst vergeht, und der Winter kommt, ein sehr ungesunder, nasser Winter, in dem viele Leute starben, von denen man es noch nicht erwartet hätte. Der Winter vergeht, und der Frühling kommt, ein sehr schöner Frühling.

Lydia denkt an den ersten April und zittert, was geschehen wird, wenn der Käufer kommt. Nein, Kant ist kein großer Philosoph. Lydia ist weit entfernt vom Seelenfrieden.

Und sie könnte ihn doch haben, wenn sie wüßte, daß die Maximen von Pietrino und Lange Rübe durchaus keine Allgemeingültigkeit beanspruchen können, denn die Beiden sind ja zufrieden mit den sechshundert Skudi und denken nicht daran, sich wieder sehen zu lassen.

Quelle:
Paul Ernst: Komödianten- und Spitzbubengeschichten, München 1928, S. 325-333.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Lewald, Fanny

Clementine

Clementine

In ihrem ersten Roman ergreift die Autorin das Wort für die jüdische Emanzipation und setzt sich mit dem Thema arrangierter Vernunftehen auseinander. Eine damals weit verbreitete Praxis, der Fanny Lewald selber nur knapp entgehen konnte.

82 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon