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[176] Einige Tage nach der Haussuchung bekamen Hans und Karl eine Vorladung vor den Universitätsrichter, denn die Polizei hatte der Universitätsbehörde Mitteilung davon gemacht, daß sie die beiden in Weilands Wohnung angetroffen, auch weitere Angaben über ihren sonstigen Umgang zugefügt, den sie bereits seit einiger Zeit mit Sorgfältigkeit beobachtet hatte.
Ein alter Herr empfing sie in seinem Amtszimmer mit ernsten und bekümmerten Mienen, legte ihnen erst die Anzeige vor und fragte, ob sie die Nachrichten für richtig anerkannten; da waren allerhand wunderliche Dinge berichtet, daß die beiden einmal in einer Wirtschaft an einem Tische mit bekannten Sozialdemokraten gesessen, und daß sie ein andermal auf der Straße beim Abschiednehmen gerufen: »Auf Wiedersehen am Wahltage!« Die beiden waren durch die Feierlichkeit der Umstände befangen und gestanden mit stockender Stimme zu, daß die Nachrichten alle richtig seien; da begann der alte Herr ihnen herzlich ins Gewissen zu reden, daß sie doch noch so jung seien und sich mit solchen Menschen zusammentun wollten, welche die Fürsten ermorden und alles umstürzen möchten, was uns heilig sei. Über diese Rede kam Hans in einen heftigen Ärger, daß er die jugendliche Schüchternheit gegen den weißhaarigen und würdigen Mann überwand und entgegnete, solche Meinungen über ihre Absichten seien unrichtig und wollte eine lange Auseinandersetzung beginnen. Diese schnitt der Richter aber kurz ab, indem er mit verächtlicher Gebärde fragte, ob er sich denn zu der Partei zähle; und wie Hans mit einem Ja antwortete und in seiner Erklärung fortfahren wollte, unterbrach er ihn wieder und sagte, es[177] sei gut. Hierdurch stieg noch die Empörung Hansens, und er sagte schnell, alle ehrlichen Leute müßten zu der Partei halten. Wie der Richter diese kecken Worte hörte, verfinsterte sich sein Gesicht sehr, und er neigte bedenklich den Kopf.
Auf dem Flur draußen, nachdem sie entlassen waren, machte Karl Hansen Vorwürfe über seine Heftigkeit und unbedachtsame Rede; aber er antwortete, er habe nicht anders gekonnt und ihm sei gewesen, als sitze plötzlich ein andrer Mensch in ihm, der sich auf den Richter losstürzen wolle, und er habe den noch zurückgehalten, und nur einmal als Kind habe er ein ähnliches Gefühl gehabt, wie er mit den Kindern des Grafen habe spielen sollen; und selbst noch jetzt, wo er vor der Tür stehe und alles abgetan sei, geschehe ihm innerlich, als treibe ihn der andre, zurückzukehren und den Richter totzuschlagen. Das erschrecke ihn selber, denn er sei doch sonst ein sehr ruhiger Mensch.
Nun nahm die Angelegenheit der beiden ihren weiteren behördlichen Gang mit Vernehmungen, Verhandlungen und Beschlüssen, und am Ende wurde ihnen »wegen unzulässiger Begünstigung der sozialdemokratischen Bestrebungen« das Consilium abeundi erteilt. Für Karl hatte der Schlag eine geringe Bedeutung, denn der hatte sich in der letzten Zeit gänzlich in die Literatur begeben und war ohnehin nicht willens, seine Universitätsstudien fortzusetzen; Hans aber arbeitete an einer Doktorarbeit und hatte den Gedanken, später durch die Empfehlung seines Lehrers eine Beschäftigung bei einem großen gelehrten Unternehmen zu finden; und so war für ihn dem Anschein nach eine große Gefahr vorhanden, daß sein Leben scheiterte; denn es war wohl schwer, eine Universität zu finden, wo er nunmehr zur Promotion zugelassen wurde, und wenn ihm das wirklich gelang, so hatte es gewiß große Schwierigkeiten, nachher die gewünschte Beschäftigung zu bekommen.
Weiland war aus Berlin ausgewiesen und hatte zunächst seine Familie zurückgelassen und sich auf die Suche nach einer neuen Stelle in einem anderen Orte begeben; aber mehrmals war es schon geschehen, wenn er bei seiner Arbeit war, daß Polizeibeamte in die Fabrik kamen und ihn durchsuchten. Anfänglich schrieb er mir Lustigkeit, wenn er alsdann von seinem erschreckten Herrn verabschiedet wurde[178] und wieder weiterreisen mußte; aber zuletzt lauteten seine Briefe ganz verzweifelt; denn er schämte sich, daß er kein Geld nach Hause schicken konnte. Die junge Frau hatte das Glück gehabt, daß sie die beiden Zimmer vermietete, und so schlug sie sich denn ärmlich mit dem Kinde durch, indem sie in der Küche wohnte; aber sie verbrachte ihre Tage mit manchen heimlichen Tränen, wenn der eine Mieter ihre geliebten Möbelstücke rücksichtslos behandelte, etwa mit den Stiefeln auf dem Sofa lag oder mit der Zigarre ein Loch in die Tischdecke brannte. Sie klagte auch zuweilen dem andern Mieter, dem, welcher in der früheren Schlafstube wohnte; derselbe war Aufseher in einer Fabrik, ein ruhiger und ordentlicher Mann von etwa dreißig Jahren, der verheiratet gewesen und von seiner liederlichen Frau verlassen war. Dieses Unglück Weilands drückte Hans noch besonders nieder, und wie er auch für sich so nirgends einen rechten Weg sah, den er gehen konnte, so erschien ihm sein ganzes Leben in trüber Zwecklosigkeit. Da bekam er unerwartet einen Brief von seinem Lehrer, daß er ihn aufsuchen möge; denn wiewohl er dem durch sein Arbeiten nähergetreten war, hatte er doch nicht gewagt, jetzt zu ihm zu gehen, weil er sich schämte, wie denn Unglück argwöhnisch macht und die Menschen zu einem unsinnigen Stolz verhärten kann. Hansens Lehrer war ein alter Mann mit schneeweißen Haaren und blitzenden blauen Augen, den die Jahre nicht versteinert hatten wie die einen, daß er bei seinen vormaligen Meinungen stehen geblieben wäre, noch hatten sie ihn schwach gemacht wie die andern, daß er sich zu Gesinnungslosigkeit entwickelt hätte, sondern als eine nicht auf das Handeln angelegte Natur hatte er sich zu einer milden Skepsis entwickelt, die in verständigem Zuschauen ihr Genüge fand, und die Wärme seines Herzens hob er für die einzelnen Menschen auf, die ihm irgendwie nahetraten, wie unser Hans. So begrüßte er den mit dem Troste, er wolle dafür sorgen, daß er an einer schweizerischen Universität promoviere, und alsdann werde er auch eine Stelle für ihn finden, wo er zuerst in untergeordneter gelehrter Arbeit tätig sein könne und aber doch Zeit habe, eigenes zu leisten, wenn er es vermöge. Dann fuhr er fort: »Ich meine, daß für jeden jungen Menschen, wenn er anders Kraft in sich hat, eine Zeit kommen muß, wo ihm alle bestehenden Einrichtungen unsinnig erscheinen; denn die haben[179] ihren Grund ja nicht in den sittlichen Idealen, sondern in der menschlichen Gebrechlichkeit. Ein junger Mann aber kennt nur die sittlichen Ideale, weil er die in sich trägt; von der menschlichen Gebrechlichkeit aber weiß er nichts, die lernt er erst durch das Leben kennen, an sich wie an andern. So erneuert sich, um nur ein Beispiel zu nehmen, für jede Generation immer wieder der Zweifel an der bestehenden Eheform, und wie der junge Mensch an die Stelle der Ehe die Liebe setzen möchte, so soll auch in allen andern Verhältnissen an den Platz des Rechtes die Sittlichkeit treten. Bei tüchtigen Personen kommt mit der Zeit die Erfahrung, die ihnen die relative Vernünftigkeit alles Bestehenden zeigt und sie bewegt, daß sie von ihrer Schwärmerei ablassen und vielmehr das Bestehende durch Liebe und Geistigkeit verklären, weil sie anders keinen Ausweg für ihren guten Willen haben; untüchtige Personen aber lernen nicht durch die Erfahrung; und indem sie bei der Schwärmerei verharren, werden sie am Ende aus ursprünglich guten und edeln Menschen zu Narren und Verbrechern, denn weil sie darin beharren, das Gesetz für unrechtmäßig zu halten und allein ihrer Sittlichkeit folgen wollen, verwechseln sie mit der Zeit die Sittlichkeit mit ihren Trieben, weil ja die Menschen bei zunehmenden Jahren immer selbstsüchtiger werden; außerdem aber gibt es schon von Anfang an unter euch Verbesserern der Welt schlechte Menschen, nämlich solche, bei denen nicht das sittliche Ideal und der Mangel an Erfahrung der Grund ihres Abscheus gegen das Bestehende ist, sondern ein Mangel an Zucht und leerer Hochmut. In deinem Falle, mein lieber Hans, kommt noch dazu, daß wir heute in einer Zeit leben, wo ein jugendlicher Stand, nämlich die Klasse der industriellen Arbeiter, die erst vor kurzem durch die gesellschaftliche Entwicklung geschaffen ist, die ihm historisch gebührende Stelle erstrebt, welche um einiges wenige höher ist wie die, welche er gegenwärtig inne hat. So vereinigt er mit diesem Streben alle die jugendlichen Anschauungen von Gleichheit der Menschen, von erhöhter Sittlichkeit in allen Beziehungen und noch viele andere, die du ja kennst. Und wende mir nicht eure merkwürdige geschichtliche Auffassung und eure Entwicklungsvorstellungen ein: denn auch die sind nur eine jugendliche Illusion neben andern, besonders bezeichnend für unser braves, nachdenkendes und vielstudierendes deutsches[180] Volk. Wenn erst die Verfolgung aufhört, so wird mit der Zeit auch die Illusion schwinden, wenn auch die Terminologie noch beibehalten werden mag.«
Inzwischen bereiteten sich für Karl neue Liebesbande vor. Unvergessen war noch in seiner Seele die Leidenschaft für Johanna, die ihm die Jahre seiner angehenden Jünglingszeit verzehrt hatte, und es war nicht selten, daß ihm ihr eindringliches Gesicht des Nachts in verwirrten Träumen erschien, die wohl keine Erinnerung zurückließen, aber eine dunkle Sehnsucht und ein unbestimmtes Fühlen in der Helle des Tages erzeugten. Nun kam Johanna in diesen Zeiten nach Berlin und hatte bald, wie denn die Welt ja so klein ist, Beziehungen zu dem Kreise Karls gefunden, so daß sie ihm unerwartet entgegentrat. Das geschah aber so.
In ihre kleine Stadt war ein Fremder eingezogen, ein etwa fünfzigjähriger Herr, der ein berühmter Geigenkünstler gewesen; der hatte sich ein altertümliches Haus am Bergabhang gekauft, dessen großer Garten mit weitschattenden hohen Bäumen sich den Berg hinaufzog. Die alte Mauer um den Garten wurde durch ein eisernes Staket erhöht, an dem sich im zweiten Jahre Ranken des wilden Weins zeigten, die in Bälde so dicht und hoch wuchsen, daß niemand von irgend einem Punkte draußen in den weiten und schattigen Garten blicken konnte, und das Haus wurde fest verschlossen und nur auf langes Pochen mit dem alten Türklopfer den Boten und Geschäftsleuten geöffnet; denn ein Besuch kam niemals an diese hohe und finstere Tür; und als einzige Bedienung hatte der Herr ein altes Weib nebst deren gleichfalls nicht mehr jungen Tochter, die beide abenteuerliche Gerüchte über ihn in dem neugierigen Städtchen verbreiteten.
Der Künstler hatte ein langjähriges Virtuosenleben geführt, war an Höfen und in Großstädten herumgereist, zuerst mit Übermut und Stolz, nachher in Langeweile und Ekel, und wie er alle Künstlereitelkeit bis auf das letzte befriedigt hatte und der Geschmack auf der Zunge ihm immer bitterer wurde, war ihm der Gedanke gekommen, sich an diesen stillen Ort zurückzuziehen und ganz nur sich selbst zu leben, denn in seinen zerstreuten und verwirrten Umständen zwischen vielen Menschen, die alle leer waren und ihm schmeichelten, war er auf den Gedanken[181] gekommen, er sei ein Selbst, und es sei wichtig und sogar nötig, daß er dieses Selbst in Sammlung und Ruhe rein und groß aus sich herausstelle.
Indessen vergingen ihm in dem alten Hause und stillen Garten die Tage und Wochen; und zuerst hatte er gedacht, dieses müßige Dahingleiten der Zeit sei für das Nächste nötig, damit sich sein Geist erhole von dem zerreißenden Leben, das er geführt. Aber auch späterhin wartete er vergeblich auf eine Sammlung und Zunehmen der Kraft, vielmehr glitten die Tage und Wochen wie vorher dahin, wie in einem tiefen Flusse, schnell und ohne Halt, und auch seine Unruhe vermochte dieses Unheimliche nicht zu hemmen. Und während er vorher gedacht hatte, er könne keine Liebe zur Kunst in sich bilden, weil er nach der Willkür des Zufalls fremden Leuten an verschiedenen und gleichgültigen Orten äußerliche Musik vorspielen müsse, so zeigte es sich nun, daß er in der Einsamkeit gar nicht den Bogen anrühren mochte und es ihm ein heftiges Unbehagen bereitete, wenn er seinen kostbar eingelegten Geigenkasten ansah.
Unterdessen hatten sich aus den Erzählungen der beiden Weiber in dem Städtchen viele Legenden um ihn gebildet, von denen er nichts ahnte; denn er war als ein hochgewachsener und schlanker Mann von künstlermäßigem Aussehen ganz zu einem Helden phantastischer Bilder geschaffen. Auf Johanna, die damals gegen ihr neunzehntes Jahr ging, hatten diese Geschichten und der Anblick seiner Gestalt einen sehr tiefen Eindruck gemacht, so daß sie eine heftige Liebe zu ihm faßte und auf Mittel sann, wie sie sich mit ihm bekannt machen könne. Und am Ende fand sie eines, das freilich sehr gefährlicher Art war, aber dadurch gerade ihrem erregten Gemüt besonders zusagte. Der Fremde hielt sich nämlich zwar von aller Gesellschaft des Städtchens zurück, aber im Winter, wo auf dem großen See eine prächtige Schlittschuhbahn war, verschmähte er es nicht, sich auf dem Eise zu zeigen, denn er war von Jugend an ein eifriger Läufer gewesen; und zwar ging er immer des Morgens auf die Eisbahn, wenn die andern Bewohner der Stadt durch ihre Tätigkeit verhindert waren, so daß er seine kunstvollen Zirkel fast allein und ohne lästige Gesellschaft zeichnen konnte. Hierauf baute Johanna ihren Plan; denn an einer Stelle war das[182] Eis dünn durch einen Quell, der vom Boden aus das Wasser bewegte, und wiewohl der gefährliche Punkt durch Tannhecke immer genügend gekennzeichnet war, so hatten sich an ihm doch schon zwei Unglücksfälle ereignet; die Vorfahren erzählten, daß durch diesen Quell der See mit dem großen Netz der unterirdischen Wasseradern in Verbindung stehe, welche den Wassergeistern als Wege dienen zwischen ihren Städten und Schlössern. Johanna beschloß nun, an einem Morgen, wenn sie den Fremden auf dem See wußte, gleichfalls zum Schlittschuhlaufen zu kommen, und wenn er in der Nähe war, mit scheinbarer Ungeschicklichkeit an die dünne Stelle zu geraten, damit sie einbreche und von ihm gerettet werde, denn daß er vielleicht nicht so mutig sein könne, wie sie annahm, das kam ihr gar nicht in den Sinn.
Nach diesem Plane ging sie nun vor, und es geschah alles, wie sie gewollt hatte, wenn schon ihr zuletzt schien, als handle sie gar nicht absichtlich, und das Eis gab an der Stelle nach, und sie sank ein, mit einem wunderlichen Gefühl darüber, daß das Wasser doch nicht so kalt war, wie sie sich gedacht, und obwohl sie hatte standhaft sein wollen, schrie sie doch laut nach Hilfe, aber es schien ihr, als habe sie dabei gar keine Angst. Der Musiker kam eilfertig auf sie zu, und wie sie seine Figur so von unten sah, erschien er ihr komisch; ohne daß ihr der Grund recht klar wurde, rief sie dem ratlos Ängstlichen zu, er solle sich flach auf das Eis legen und ihr von weitem die Hand reichen; unterdessen hielt sie sich aufrecht im Wasser, indem sie sich an das Eis festklammerte und die Beine nicht in die Höhe ziehen ließ. Er tat nach ihrer Vorschrift, und sie sah vor sich eine vornehme und schmale Hand in seinem Handschuh, die ergriff sie, und so kam sie aus dem Wasser. Wie sie beide aufrecht auf dem Eis standen und sie sein entsetztes Gesicht sah, in dem unter grauem Haar sich schon tiefe Runzeln zogen, da wurde sie so aufgeregt, daß sie ihm um den Hals fiel und ihn mehrmals auf den Mund küßte. Er brachte sie schnell nach Hause, und indem ihre erschreckten Leute sie empfingen, ging er mit dem Versprechen, daß er sich morgen nach ihrem Befinden erkundigen wolle.
Wie er am nächsten Tage kam, war sie gesund und fröhlich, denn der Anfall hatte ihr nicht im geringsten geschadet, und empfing ihn mit heiterm Lachen, er aber stand mit einer fremden Verlegenheit vor[183] ihr, die indessen ihr den schlanken und nicht jugendlichen Mann noch liebenswerter erscheinen ließ. Und indem an die ersten Fäden sich bald weitere anspannen, schien es ihm, daß er eine unwiderstehliche Liebe zu dem jungen Mädchen gefaßt habe, denn in seinem unsteten Leben hatte er zwar manches verliebte Abenteuer bestanden, aber es hatte noch nicht ein Weib wirklichen Einfluß auf ihn gewinnen können. So geschah es am Ende, daß die beiden sich heirateten, wider den Willen des Vaters und zur großen Verwunderung der kleinen Stadt.
Schon am Hochzeitstage wurde sie ungeduldig über ihn und sprach verletzende Worte; er schwieg, aber seine Lippen zitterten, und sein Gesicht sah alt aus; da hängte sie sich um seinen Hals und sagte ihm, daß sie ihn lieb habe. Nun geschahen geheimnisvolle Dinge in dem stillen, alten Hause. Einmal wurde bekannt, daß der Mann ein junges Dienstmädchen, das sie angenommen hatten, in ihrer Gegenwart mit einer Feuerzange geschlagen hatte, und war nachher zu dem Mädchen auf ihre Kammer gegangen, hatte ihr Geld gegeben und gesagt, seine Frau sei schuld, er habe nicht anders gedurft, und sie solle heimlich aus dem Hause gehen. Noch viele andre sonderbare Geschichten wurden verbreitet, und am Ende, nachdem die beiden noch nicht ein Jahr verheiratet waren, wurde eines Morgens in der Stadt erzählt, daß der Mann sie heimlich verlassen habe. Es folgte dann nach einiger Zeit eine Ehescheidungsklage, in welcher die Frau einen Eid schwor, der mit der Aussage des Mannes nicht übereinstimmte, aber da dieser seine Aussage nicht auf seinen Eid nehmen wollte, so wurde ihr von den Richtern geglaubt, wenn schon die ganze Stadt der Meinung war, daß sie im Unrecht sei. Nach dieser Scheidung mochte sie nicht mehr zu Hause bleiben, weil niemand mit ihr verkehren wollte, und deshalb kam sie nach Berlin, wo sie bei einem Meister Malunterricht zu nehmen gedachte. Hier gewann sie bald eine gewisse Stellung; denn wenn früher und auch noch jetzt in der ruhigeren Gesellschaft eine instinktive Abneigung gegen die geschiedene Frau herrschte, weil in ihr sich eine Verneinung dessen verkörperte, was der allgemeine Wille der Gesellschaft war, so wird jetzt in den unruhigeren Kreisen umgekehrt eine Geschiedene mit besonderer Freude empfangen als eine Verkörperung der neuen Bestrebungen, und auch ohne daß Johanna selbst Erfindungen[184] zu machen brauchte, wurde von ihren Mitkämpferinnen gleich angenommen, daß sie eines der Opfer der bekannten männlichen Untugenden sei und beklagt werden müsse, und auch Männer schlossen sich der Meinung an.
Inzwischen war jene Luise, welche die kindliche Entführungsreise mit dem Dichter Peter gemacht hatte, zu weiteren Jahren gekommen, und durch jenes unklare Streben und den Drang, eine Kraft zu betätigen, welche damals die Flucht veranlaßt hatten, war sie zu einer Beschäftigung mit dem getrieben, was man die Frauenfrage nannte, und hatte für sich selbst einen Ausgang gefunden, denn sie lernte fleißig bei Lehrern, weil sie das Abiturientenexamen machen wollte und dann in der Schweiz Medizin studieren; und indem auch hier noch keine Scheidung eingetreten ist zwischen den tüchtigen Menschen, auf denen die Zukunft ruht, die ja irgendwie anders sein wird als die Gegenwart, und den zerfaserten und untüchtigen, die nur aus Schlechtigkeit und Ohnmacht mit allem Neuen gehen, so kam sie in ihren Kreisen mit Johanna zusammen und gewann eine Zuneigung zu ihr, wie ja solche innerlich gänzlich zerstörten Personen von Johannas Art oft die Liebe gerade der Besten gewinnen.
Karl hatte durch seine Natur die Gewohnheit, daß er gern mit Frauen sprach, und nachdem seine wunderliche und unpassende Liebschaft ein Ende genommen, besuchte er wieder häufiger eine solche Gesellschaft, wo er Frauen und Mädchen antraf, die zu seiner Klasse gehörten. So kam er jetzt auch oft wieder zu Luisen, die ihn in ihrem jungfräulichen Stübchen empfing, mit ihrem Bruder zusammen, der sich immer mehr zu einem wortkargen und scheuen jungen Gelehrten entwickelt hatte, und saßen die drei dann behaglich um den runden Tisch, wo Luise mit Freundlichkeit als Wirtin waltete, und eine besondere Wärme, die von den friedlichen Wänden, der reinen Luft des Zimmers und der Stille ihrer Bewegungen ausging, bewirkte in seinem Herzen ein besonderes Wohlgefühl; dann wurde nicht gestritten und disputiert, nur Kleinigkeiten wurden erzählt, oft in Andeutungen, die bloß den drei verständlich waren, und zuweilen brachte Karl eine Blume mit, und wenn Luise die in einem zarten Glase auf den Tisch setzte, so freute er sich.[185]
Schon länger hatte er von der neuen Freundschaft gehört, aber wegen des veränderten Namens war ihm keine Ahnung gekommen. So fand er unvorbereitet an einem Tage Johanna beim Eintritt in das Zimmer vor, wie sie an dem Platz gegen das einzige Fenster saß, den er selbst sonst innehatte, und so kam es, daß er sie bei der Vorstellung nicht erkannte, sich gleichmütig verbeugte und unbekümmert setzte. Da sprach Johanna zu ihm: »Ich denke, wir müssen uns kennen.« Dieser Worte Klang trieb ihm plötzlich das Blut zum Herzen, er sprang auf und zitterte, und war ihm, als müsse er ohnmächtig werden; sie aber brach in ein silberhelles Gelächter aus, das von einer wunderbaren Lieblichkeit anzuhören war. Da schien es ihm, als geschehe das alles meilenweit entfernt von ihm.
Es geschah Karl, daß unter seinem gewöhnlichen Menschen, den er kannte, sich plötzlich ein andrer und neuer Mensch erhob, den er nicht kannte, denn der hatte bis dahin unbewegt geschlummert. Ganz plötzlich erhob sich der und zeigte sich als blind und ganz erfüllt von einer unsinnigen und leidenschaftlichen Liebe zu Johanna, und während er sonst alle andern Regungen durch genaue und kranke Selbstbeobachtung in klares Licht stellen konnte, war an diesem Treiben gar keine Beobachtung möglich, denn es schien, als sei es ebenso einfach und nicht zu untersuchen wie der Hunger oder Durst. Gleichzeitig mit diesem verspürte er einen neuen Wunsch, nämlich, daß er an Gott glauben könnte, und indem er meinte, daß es keinen lebendigen Gott gibt, betete er zu dem, daß er ihm Glauben geben möge an ihn. Aber es war ein tiefes Dunkel und Schweigen, und kein Trost kam herab in sein furchtsames Herz.
Ehe er Johanna wiedersah, hatte er oft an Luise gedacht und sie sich vorgestellt, und solches Bild hatte ihn dann getröstet. Etwa sie saß unter einem blühenden Kirschbaum, in welchem die Bienen summten, und ein Blütenblatt fiel langsam sich drehend in ihren Schoß, oder ihre großen und dunklen Augen hatten jenen wunderbaren, tiefinnerlichen Ausdruck, den viele durchweinte Nächte erzeugen, wenn es die Dinge unsrer Seele gewesen sind, um die wir geweint haben; und ihre kühle Hand lag auf seiner Hand, Ruhe in ihm verbreitend und den[186] Frieden, den sie sich erkämpft hatte. Denn auch sie hatte schwere Zeiten in ihrem Innern gehabt, aber wenn es im Gespräch an diese kam, so glitten die Worte an ihr ab ohne Wirkung, und nur im Gefühl teilte sie mit von dem, was sie besaß. Und er wußte, das Leben entflieht, wie der Schatten einer Wolke dahinzieht über schweigende Wälder und Berge.
Nun waren zu dem noch die Gefühle und Triebe des andern und untenliegenden Menschen gekommen, die sich um Johanna bewegten.
Sehr merkwürdig war es, welche Übereinstimmung er mit ihr in scheinbar unbedeutenden Dingen hatte, die doch auf Tieferes in uns weisen; so liebten sie beide, wenn im Bücherbrett die Bände eng zusammenstanden, und wo eine Anzahl Werke von geringerer Höhe neben größeren aufgestellt waren, legten sie andre oben quer über, damit die Lücke ausgefüllt wurde. Eine eigne Rührung überfiel ihn, als er das bemerkte. Auch schien es, als seien sie in allem der gleichen Meinung, und eine Uneinigkeit entstehe nur scheinbar und durch Mißverständnisse. So gelangte er auch neben Johanna oft zu dem Gefühl der Beruhigung. Zuweilen, wenn seine Gedanken einander widerstritten, sagte sie ihm, welches seine richtige Meinung war, ehe er selbst Klarheit gewonnen hatte; bei solchen Gelegenheiten konnte sie ihm scherzend vorwerfen, er rede oft doppelsinnig.
Aber plötzlich wurde ihm dann klar, daß sein Kreis enger geworden, und daß er das frühere Gefühl verloren hatte, hinter seinem Bewußtsein breite sich noch ein großer und dunkler Raum aus, der ihm gehörte, wenn er nur seine Schritte in diese Pfadlosigkeit lenken wollte; dann überkam ihn eine heftige Angst vor ihr, die ihn körperlich peinigte.
Einmal spielte er Schach mit ihr; sie hatte einen Zug getan, der das Spiel gegen sie entschied, und als es schon zu spät war, wollte sie ihn zurücknehmen. Er antwortete, daß das gegen die Regel sei, da stand sie auf und sagte, nun wolle sie nicht zu Ende spielen. Wie er ihren Gesichtsausdruck sah, wurde ihm plötzlich bewußt: sie brauchte ihn nur; und wie sie in diese Klarheit hinein noch sprach, daß er ihrem früheren Mann sehr ähnlich sei, da spitzte sich in ihm plötzlich ein starker Haß zu, und er empfand fast körperlich, wie sie einen selbstsüchtigen Willen auf ihn wirken ließ und durch den vieles aus ihm herausholte, was ihm[187] gehörte, um es sich anzueignen und sich in roher Weise damit zu schmücken. Unter solchen Umständen gelangten sie zum Einverständnis. Und zwar geschah das scheinbar unvorbereitet, aber er hatte es vorhergefühlt. Sie stand von ihrem Stuhl auf, legte die Hände auf den Rücken und ging im Zimmer auf und ab wie ein Mann. Vorher hatte sie geraucht, und von dem Ende ihrer Zigarette im Aschenbecher stieg noch eine dünne Rauchsäule in die Höhe, die jedesmal in Verwirrung geriet, wenn sie in die Nähe kam. Sie begann damit, daß es doch nötig sei für sie beide, zu Klarheit zu kommen, und weil für sie selbst die Peinlichkeit des Anfangens geringer sei, so wolle sie beginnen; denn in seiner Natur liege es, daß er endgültige Entschlüsse scheue. Und wie sie so sprach, arbeiteten in ihm Furcht und Scheu, und er sah unglückliche Zeiten voraus, und doch konnte er nicht aufspringen und ihr entgegentreten, denn sein Herz bebte in tiefer Sehnsucht zu ihr.
Dämmerung sammelte sich in den Winkeln des Zimmers. Sie ging auf und ab, sprach stockend und langsam. Es fiel ihm ein, daß er einen Vorwand haben mußte, um das Gespräch abzubrechen, aber seine Angst fand keinen Vorwand, und sein Herz schlug ihr entgegen.
Ihr Tonfall war fremdartig; und es wurde ihm plötzlich klar, daß sich hier für einen Augenblick in ihr der Vorhang lüftete, durch den ihr eignes Innere sich vor ihr verbarg, und daß sie erschrak vor sich selbst; hätte er ihr jetzt alles sagen können, was er wollte, seinen Haß, seine Liebe, seine Furcht und seine Verachtung, so hätte sie alles begriffen und hätte ihn ziehen lassen. Aber er brachte kein Wort über seine vertrockneten Lippen, und schämte sich für sie. And weil sie im Staube lag und sich selbst verachtete in dieser Minute, so sagte er, wider seinen Willen und tonlos: »Du hast recht, ich liebe dich über alles.« Wie diese Worte verhallt waren, sonderbar waren sie verhallt in dem dunkelnden Raume, und sein Herz krampfte sich zusammen, da war auch in ihr der Vorhang wieder zugezogen, und sie wußte nicht mehr, daß sie im Staube gelegen hatte. Karl aber fühlte sich vernichtet, daß er hätte mögen ohnmächtig werden.
Sie kam zu ihm und legte ihm die Arme um den Hals; und er mußte sie küssen; das war eine Heuchelei, daß er sie küßte, und eine Qual war es für ihn. Sie wich seinem Kuß aus, scheu und befangen;[188] aber auch sie heuchelte ja, indem sie auswich, nur wußte er, daß ihr das keine Qual war. Sie hatte jetzt einen Menschen, der ihre Leiden tragen mußte, einen Feigling, der am Abgrund gestanden hatte und hinuntergesprungen war in die Tiefe, trotzdem er wußte, daß er unten zerschmettern würde, aber er sprang hinunter, weil etwas in ihm war, das ihn zwang, sich in dieses Verderben zu stürzen. Und siehe, jetzt lachte sie schon, mit jenem melodischen Lachen, das ihm so furchtbar war. Er hätte sie fassen mögen und weit von sich schleudern, aber er zog sie an sich und flüsterte Liebesworte. And an Luise dachte er und ihren ruhigen Blick, und wußte jetzt mit Klarheit, daß es nur seine Schwäche war, die sie fern von ihm gehalten. Denn ihre Seele hatte sich zu ihm geneigt und wollte ihm ihre sanfte Blüte erschließen.
Es folgten die äußerlichen Dinge, Verlobung und Hochzeit, und die Aufmerksamkeit der Menschen, und inzwischen ging der seelische Kampf der beiden weiter, denn auf der einen Seite drang sie in ihn hinein als etwas Fremdes, suchte ihn auszufüllen und sich an Stelle seines Eigenen zu setzen, so daß er hätte mit ihren Augen sehen müssen und mit ihren Gedanken urteilen, und auf der andern Seite nahm sie räuberisch von ihm, paßte das Geraubte sich an, daß es ihr altes Eigentum schien und zeigte ihm das gelegentlich ganz unbefangen. Dann erkannte er mit Wut Stücke von sich in fremder Gefangenschaft, die er nicht befreien konnte.
Doch er kam am Ende dazu, daß er sich gegen das erste mit einem Erfolg verteidigte, und zuletzt wieder allein in sich war; aber gegen das zweite gab es für ihn keine Waffen. Indessen stellte sich da unerwartet eine Hilfe für ihn ein, denn je mehr er sich abschloß und sie aus sich entfernte, desto geringer schien ihre Kraft zum Rauben zu werden, wiewohl sie den Trieb dazu behielt. Dadurch kam sie in eine Enttäuschung, die sie jedoch nicht verstand, denn die Lage erschien ihr jetzt so, daß sie glaubte, sie habe die ganze Welt aufgefaßt, aber die sei ganz einfach und immer gleichmäßig und verursache ihr eine quälende Langeweile. Deshalb glaubte sie sich betrogen, weil man doch die Erwartung habe, daß das Leben mehr sei, und in Haß und Erbitterung über diesen vermeintlichen Betrug schloß auch sie sich nun immer mehr ab und wendete die wenigen und geringen Vorstellungen, die sie erobert hatte,[189] mit Wut immer hin und her, ob sie nicht doch Neues an ihnen entdecke. Darauf gewöhnte sie sich an, zu klagen, und erzählte in allgemeinen Ausdrücken, daß sie vom Unglück verfolgt sei und alles fehlschlage, was sie beginne, und alle andern Menschen mehr Glück haben, und so fort; so wurde sie endlich auch in ihrer Ausdrucksweise pöbelhaft, denn nichts zieht Menschen so sehr ins Gemeine wie solches Klagen. Mehr und mehr wendete sie sich in diesen Reden mit einer Spitze gegen Karl; und am Ende, nachdem alles, was geschehen war, sich ihr ganz verkehrt hatte, sagte sie sogar, daß sie gegen ihre eigentliche Neigung und Absicht und nur aus Mitleid Karls Weib geworden sei, welches Mitleid ihr nunmehr übel vergolten werde.
Johanna hatte den Plan aufgegeben, eine bei ihr vorhandene geringe malerische Begabung auszubilden, weil ihr die Beharrlichkeit fehlte, sich das handwerksmäßige Können anzueignen, das für den Maler nötig ist, und wie so viele dachte sie, daß der Schriftsteller dieses Könnens entraten kann; und wie denn damals, als durch eine mißverstandene Rückkehr zur Natur die Meinung aufkam, durch die Wiedergabe einer zufälligen Beobachtung könnte man ein Dichterwerk schaffen, viele Frauen solche Fähigkeiten zeigten, so wendete sie sich nun der Schriftstellerei zu. Hierdurch entstanden auch äußere Gegensätze zu Karl, denn wenn auch bei ihm selbst die Begabung nicht zum Kunstwerk ausreichte, so wußte er doch um diesen Mangel schon bei sich genau, denn er beschränkte als Mann sein Wollen nicht auf sein Können, und noch deutlicher sah er den Mangel aber bei seiner Frau, deren Begabung zudem noch geringer war wie die seinige, da sie noch mehr lediglich Ausdruck einer problematischen Natur war und von jener Art, wie sittlich geringwertige Menschen sie oft haben durch ihre Minderkraft.
Aber auch diese Kämpfe der Ehegatten fanden keine rechte äußere und anschauliche Form, die eine eigentliche Erzählung möglich machen würde, und so muß es auch hier am bloßen Bericht genügen.
Inzwischen hatten auch Karls frühere Geliebte und ihr Verlobter Jordan geheiratet, nachdem sie ihren gebührlichen Brautstand gehabt, und hatte sie wohl große Sehnsucht, daß sie ihr Kind wollte zu sich nehmen, das sie von Karl bekommen, aber sie scheute sich; wie sie aber[190] am Hochzeitstage von ihrem Mann in die Wohnung geführt wurde, die sie zusammen eingerichtet für sich, da fand sie in einem Kinderwagen liegen und ruhig schlafen das kleine Söhnchen, denn ihr Mann wollte ihr eine Freude machen. Da weinte sie vor großem Glück, küßte und herzte den guten Jordan, und weil das Kindchen eben aufwachte und nach einer Nahrung schrie, ging sie schnell in die Küche, woselbst schon alles bereit stand, und richtete ihm seine Flasche, und inzwischen spielte der Mann mit dem Kleinen, indem er ihm seine Uhr vorhielt und mit Schlüsseln klingelte. Sie aber bei ihrer Hantierung überlegte sich, was sie ihm sagen wolle, und wie sie wieder in die Stube kam und das Kind besorgt hatte, sprach sie zu ihm: »Ich bin sonst stolz gewesen und hätte von einem andern keine Gabe angenommen, auch wenn ich ihn lieb hatte, wie ich ja in Wahrheit Karl lieb gehabt habe. Von dir aber nehme ich alles an; und das nicht deshalb, weil ich weniger stolz geworden bin, sondern weil du ein solcher Mensch bist, daß sich einer nicht schämt, wenn du ihm gibst. Und nicht eine gewöhnliche Dankbarkeit habe ich gegen dich, sondern weil ich weiß, daß das Glück, das du andern schenkst, durch deine Güte wieder reicher zu dir zurückgeht, so liebe ich dich nur mehr in größerer Fröhlichkeit.«
Nun lebten die beiden in ruhigem Glück, das sie dadurch noch mehr wärmte, weil sie beide vorher durch schweres Unglück gegangen waren, und genossen das Glück mit klarem Bewußtsein, daß dieses Unglück notwendig für sie gewesen war.
Recht bald begann der Kleine aufrecht zu sitzen, und dann wurde er aus dem Wagen genommen und erhielt ein kurzes Kleidchen und versuchte zu gehen; und wiewohl er seinen Pflegevater nur eine kurze Zeit zu sehen bekam des Abends, wenn der von der Fabrik heimkehrte, hatte er ihn doch besonders in sein Herz geschlossen, sah ihn viel an und hielt sich zu ihm, denn auch ganz kleine Kinder wissen schon den Gesichtsausdruck der Erwachsenen zu deuten und haben nach dem ihre Gefühle. Schon in den ersten Tagen, wo er sich frei auf dem Fußboden bewegen durfte, hatte er gemerkt, daß der Vater, wenn er gekommen war, seine Schuhe wechselte, und so brachte er ihm, ohne daß es die Mutter ihm aufgetragen, seine Pantoffeln. Hierüber erhob sich bei den Eltern eine große Freude und ein besonderes Rühmen seiner Klugheit,[191] das bewirkte, daß er auch fernerhin bei dieser Erfindung verharrte. Es bewunderten auch die andern Frauen im Hause den Kleinen sehr und erzählten ihren Männern von dem Kind, und der Kaufmann an der Ecke fragte jedesmal die Mutter nach ihm, wenn sie einholte. Über alles dieses wurde sie noch glücklicher, und ihr Gesicht war so, daß jeder froh werden mußte, der sie ansah.
Weil sie doch nun einen Mann hatte und sich nach ihrer Vorstellung nicht mehr des Kindes vor andern zu schämen brauchte, so bekam sie eine besondere Lust, einmal mit den beiden zu ihren Eltern zu reisen, die auf einem Dorfe und mit der Bahn nicht allzu entfernt wohnten. So beredete sie denn eine lange Zeit mit ihrem Mann diesen Plan, und wie die Witterung passend war und sie beide mit Kleidung wohl versehen, daß sie den Eltern gefallen mochten, da erbat er sich für einen Montag Urlaub, und sie fuhren auf zwei Tage nach dem Ort mit großer Freude; der Kleine war sehr artig unterwegs, und viele, die mitreisten, fragten die Eltern über ihn, ließen sich erzählen und freuten sich seiner.
Die Eltern der Frau waren Instleute, die zu einem großen Gute gehörten und ein Häuschen für sich hatten, eine Kuh und zwei Schweine, und ein Stück Acker bekamen sie von der Herrschaft. Sie verwunderten sich sehr über ihre Tochter, daß sie so schön gekleidet war, und über den Schwiegersohn, und über den Enkel, und waren über die Maßen stolz und fröhlich, und mußten die Kinder von allem erzählen, von der Arbeit des Mannes und von seinem Lohn und von ihrer Wohnung in einem so großen Hause, daß in dem einen Hause so viele Menschen wohnten, wie hier in dem ganzen Dorfe, und daß sie polierte Rohrstühle in ihrer Stube hätten. Über das alles schlug die Mutter die Hände überm Kopf zusammen, und der Vater sagte nur: »Ei, ei!« Und bei dieser freudigen Verwunderung der Alten wurde es den beiden erst so recht klar, wie gut sie es hatten, und wie glücklich sie lebten.
Dann nahm die alte Mutter den Enkel auf den Arm, der ganz fein und vornehm aussah in seinem großen, weißen Hut neben ihrem verbrannten und verarbeiteten Gesicht und ging mit ihm hinaus in den Hof, ließ ihn die Schweine im Stall sehen und erzählte ihm, daß die zu Martini geschlachtet würden und daß dann Wurst gemacht[192] würde, und er solle dann auch eine kleine Wurst haben, und dann zeigte sie ihm die Kuh, die vor der Krippe stehend zurücktrat und sich umsah nach den beiden mit ihren großen, sanften Augen. Und wie die Alte so allein mit dem Jungen war und keiner sie sehen konnte, herzte sie und küßte den Enkel fortwährend, denn vorhin hatte sie das nicht gewagt, und das Kind streichelte ihr die Backe und faßte lachend an ihre Nase. Der Alte aber führte den Schwiegersohn im Häuschen herum und zeigte ihm alle Einrichtungen, wie er die Wurst räucherte, und wo er sein Korn aufhob, denn er bekam Dreschanteil, auch das Dach zeigte er ihm und erzählte, daß es früher mit Stroh gedeckt gewesen sei, aber er habe jetzt ein Ziegeldach hergestellt, und zwar habe er Falzziegel genommen, was das Neueste sei und sehr viel besser als die Hohlziegel, die man früher gehabt, und so redete er noch vieles Wirtschaftliche und Verständige mit dem Schwiegersohn. Und weil ihm der so gut gefallen hatte, und er selbst hatte doch auch seinen kleinen Stolz, so nahm er ihn am Ende beim Ärmel und sprach zu ihm, er müsse nicht denken, daß die Eltern seiner Frau Habenichtse wären; und wenn sie einmal starben, so kamen doch auf jedes Kind etwa hundertundfünfzig Taler, die sie dann erbten.
Wie es gegen den Abend ging und die alte Frau daran dachte, das Essen zu bereiten, da taten sich die beiden Alten zu einer heimlichen Unterredung zusammen, und dann brachten sie eine Flasche Wein zum Vorschein, die hatte die Herrschaft vor Jahren einmal geschickt als eine Stärkung für die alte Frau, die damals recht krank gewesen war, aber sie hatte aus eigener Ehrfurcht nicht gewagt, das Geschenk anzurühren, sondern es aufgehoben, wenn einmal ein besonderer und festlicher Tag sein sollte. Sie lachten beide viel in Behaglichkeit und in Unruhe über das Ereignis, daß die Flasche nun entkorkt werden sollte, dann bereiteten die beiden Frauen am Herde das Essen, und die Mutter freute sich, wie flink ihre Tochter war, dachte auch seufzend früherer Zeiten, wo ihre Glieder noch nicht so steif geworden; ganz leichtfertig ging sie an den Speck und schnitt ein großes Stück ab, auch viele Eier nahm sie und ein großes Stück Butter stellte sie auf, und wenn sie auch eine heimliche Furcht hatte, ob nicht zu viel aufgehe, wenn sie den Tisch so üppig bereite, so freute sie sich doch wieder, daß es ihren Kindern[193] gut schmecken sollte. Das gute Essen und der Wein machte alle Lebensgeister noch froher und munterer, und der alte Vater erzählte aus seiner Jugend und rühmte die heutige Zeit, daß es da jeder besser habe, und wer ordentlich und brav sei, der erreiche auch etwas, sei es nun in der Heimat oder in Amerika; und seine Bäcklein röteten sich unter den grauen Stoppeln, und er begann sogar die alte Mutter an die Zeit ihrer Verlobung zu erinnern, daß die erst sich schämte und ihm verbot und nachher gerührt wurde und sich mit dem Schürzenzipfel ein Tränlein aus dem Auge wischte; am meisten lag ihm jedoch das neue Dach aus Falzziegeln am Herzen, und er wurde nicht müde, dessen Vortrefflichkeit zu preisen. Die beiden Alten hätten in ihrem Stolz das Enkelkind gar zu gern ihrer Herrschaft gezeigt, nur wußten sie nicht recht, wie sie das beginnen sollten, denn sie hatten Furcht, daß sie aufdringlich erscheinen möchten, und die Herrschaft denke vielleicht, sie wollten etwas geschenkt haben für das Kind; da kamen sie am Ende überein, daß die Tochter mit dem Kleinen den alten Vater morgen auf dem Felde besuchen sollte zu einer Zeit, wo der Herr gewöhnlich geritten kam, dann würde der fragen, und er wollte ihm alles erzählen und ihm seine Tochter zeigen und das Enkelkind, und das sähe doch dann aus, als sei es bloßer Zufall gewesen. Und wie sie so sprachen, begannen sie allerhand Vergleiche mit diesem Nachbarskind und mit jenem; und keines, fanden sie, war so prächtig wie das ihre, denn an dem war alles zu bewundern.
So gingen am Ende alle schlafen, und wie sie in den rundlich gestopften und weichen Betten lagen, denn die Alten hatten zwei leere Betten stehen und die Federn waren von ihren Gänsen, die sie selbst gezogen, da waren alle so froh, daß es gar kein größeres Glück geben konnte, und schliefen fest und ohne Träume. Und am andern Tage wurde die geplante Begegnung mit dem Herrn auch durchgeführt, und der Herr fragte auch, und wie er alles gehört hatte, sprach er freundlich mit der Mutter und dem Kind, und wiewohl er nur einige gleichgültige Worte gesagt hatte, so wiederholten die beiden Alten die doch immer wieder und waren froh.
Dann aber ging es an das Abschiednehmen, und die Ellern mit dem Kind fuhren wieder nach Berlin zurück, unter vielen Versprechungen[194] und Plänen, daß sie selbst bald wieder kommen wollten, und daß die Eltern sie in Berlin besuchen sollten, und dem Jungen hatte die Großmutter noch zwei schöne, große Äpfel heimlich in die Hand gegeben, die vom vorigen Herbst waren und aussahen wie eben gepflückt, die hielt er mit großer Sorgfältigkeit fest, bis die Mutter sie ihm abnahm, weil er müde wurde und schlafen wollte.
Nun geschah es aber, daß das Kind krank wurde, und fiel der Mutter zuerst eine seltsame Aufgeregtheit auf und besondere Röte des kleinen Gesichtes, dann wurde der Arzt gerufen und erkannte einen heftigen Anfall von Scharlach. Wie die Eltern seine Worte hörten, bekamen sie zwar erst einen Schreck, aber darauf bedachten sie, daß doch die meisten Kinder von dieser Krankheit befallen werden und wieder genesen, und das machte sie wieder guten Mutes. Dann folgte ein seltsamer Vorgang, nämlich das Kind wurde immer kränker, die Eltern aber, als ob sie eine heimliche Furcht hätten, die sie durch gewollte Hoffnung beschwichtigen könnten, wurden gleichzeitig immer zuversichtlicher. Aber am Ende geschah es in einer Nacht, wo die Mutter am Kopfende des kleinen Bettchens saß, daß das Kind plötzlich schneller atmete, und weil die Mutter vom Arzt gehört hatte, daß die Entscheidung bevorstand, so dachte sie bei sich, jetzt überwindet es die Krankheit, das macht ihm Mühe; plötzlich aber verzog sich der kleine Mund wie zu einer kläglichen Bitte, und das Gesichtchen sah mit einem Male viel älter aus, und da blieb der Atem stehen. Das war der Mutter zuerst recht sonderbar; aber mit einem Male verstand sie, was das bedeutete, und schrie: »Er stirbt, er stirbt!« Da sprang der Mann vom Lager auf und kam mit einem ungläubigen Lächeln und wollte beruhigende Worte sagen, indem er die kleinen Händchen erfaßte; die waren aber ganz anders geworden, und das Wort stockte ihm.
So standen nun die beiden vor dem Leichnam und verstanden nichts, nur daß dem Mann einfiel, daß er die Augen zudrücken mußte. Und wie die Augen geschlossen waren und der Schatten der langen Wimpern sich abzeichnete, war der klägliche Ausdruck um den Mund des Kindes verschwunden, und in dem wachsfarbenen Kindergesicht zeigte sich ein tiefer Ernst und eine wunderbare Entschlossenheit, wie eines Helden, der einen schweren Gang zu tun hat. Da sank die Mutter[195] auf die Kniee und begann zu schluchzen. Dem Mann aber zerstreuten sich noch immer die Gedanken durch den Gram, weil er keine Handlung zu tun hatte, denn noch eine lange Zeit war ihm, als müsse er verlegen sein und lächeln, und wunderte sich über sich selbst, denn er hatte das liebe Kind sehr gern gehabt, und am Morgen geschah ihm wunderlich, wie er seine Hausschuhe erblickte, die ihm der Kleine abends immer angeschleppt hatte, jeden einzeln, und drückte ihn ungeschickt an sich; da strömte es ihm plötzlich aus den Augen, ohne daß ein Aufhalten möglich gewesen wäre, unaufhörlich, wie eine Quelle, und ohne Schluchzen. Da schonten die beiden einander und sprachen nicht miteinander und taten ein jedes, was nötig war.
Am Abend des zweiten Tages sagte die Frau: »Ich habe bis nun nicht an Gott geglaubt und war stolz auf diesen Unglauben. Jetzt aber weiß ich, daß es einen Gott gibt, und zu einer Strafe für mich habe ich diese Einsicht gewonnen, denn ich habe dahingelebt in Leichtfertigkeit und ohne Gedanken, und wie dieses Kind kam, habe ich es nicht aufgenommen als eine Bestrafung dafür, daß ich nicht an mich dachte und an die Aufgabe, die ich erfüllen soll, und auch nicht als ein Geschenk, das mich zur Besinnung, Liebe und Nachdenken bringen konnte, sondern als eine zufällige und ungerechte Last, die ich verabscheute, und auch die Freude, die ich später an ihm gehabt, ging nicht aus einer Belehrung und Besserung hervor, sondern nur aus derselben alten Leichtfertigkeit und Gedankenlosigkeit, nach der ich dahin gelebt habe wie ein Tier im Walde. So ist mir dieses Kind nun wieder genommen, und ich habe meine Strafe dahin und weiß nun, daß alles das nicht möglich wäre, wenn es nicht einen Gott im Himmel gäbe. Durch dessen Nachsicht habe ich bis jetzt gelebt, nun aber kann ich nicht mehr leben. Wenn ich aber das tote Kindchen ansehe, so ist mir, als habe es alles das gewußt, und wiewohl es nur eben anfing, die ersten Laute zu sprechen und ganz kindisch war in seinem Wesen, so hat es mich doch ganz durchschaut, und in seinem Innern hat es mich gerichtet; das sehe ich an dem Ausdruck seines Gesichtes.«
An Karl war eine Nachricht von dem Geschehnis gesendet; er kam zu den beiden, und wie die Beerdigung war, wohnte er der mit seiner Frau bei. Für das Kind hatte er keine rechten Gefühle gehabt, da er es[196] kaum gesehen, denn die väterliche Liebe wächst erst, wenn ein Vater in einem größer werdenden Kinde sein eignes Bild wiedererkennt, und jene besondere Liebe, die wir zu den ganz Kleinen haben, auch wenn sie uns fremd sind, in deren großen und unbestimmten Augen noch ihre himmlische Heimat träumt, die entsteht doch nur im ganz nahen Zusammenleben. Auch hatte er nicht mehr genug Zuneigung zu seiner früheren Geliebten, um mit ihr zu empfinden und zu verspüren, was für sie das alles bedeutete. So überwog bei ihm das Gefühl der Peinlichkeit seiner wunderlichen Lage, und er hatte eine Empfindung von Leerheit; die aber machte ihn betroffen, wie er neben den beiden tiefgebeugten Menschen stand; und seine Frau war von äußerlicher Höflichkeit und zeigte eine gewisse Neugierde. So kam es, daß sie auf die hochgespannten und empfindlichen Seelen der andern verletzend wirkten und denen ein häßliches Gefühl verursachten. Nur einen Augenblick tauchte bei Karl etwas Besonderes auf, als er sah, wie Jordan mit Zartheit seiner Frau den Arm streichelte, als könne er sie dadurch trösten; da wurde ihm klar, wie die beiden zusammengehörten und eins waren und was in Wahrheit die Ehe bedeutet, und empfand ein tiefes Mitleiden mit sich selbst.
Auf dem Heimweg sprach Johanna gleichgültige Dinge in kalter und selbstsüchtiger Weise und erregte in Karl eine tiefe Erbitterung. Jordan und seine Frau waren schweigend nach Hause gegangen; denn der Mann wußte nicht, was er zu dem sagen sollte, was in ihr sich jetzt bewegte und Gestalt annahm, und hatte Scheu und Ehrfurcht vor ihr; ihr aber hatte dieses Zusammenkommen mit dem früheren Geliebten einen neuen Eindruck gemacht, dessen Folgen sich erst nach Wochen zeigten. Da sprach sie zu ihrem Manne: »Ich habe ein herzliches Erbarmen mit Karl, denn er ist ein ganz unglücklicher Mensch; und das nicht nur durch sein ganz schlechtes Weib, sondern auch durch sich selbst. Es ist mir aber sein Anblick eine Tröstung gewesen in meinem gegenwärtigen Leiden, denn durch ihn habe ich gesehen, daß ich doch nicht verworfen bin. Wir haben die christlichen Lehren ja alle gehört, aber weil sie uns nur äußerlich gelehrt wurden und nicht eine Antwort auf das Fragen unseres Herzens waren, so haben wir sie nicht verstanden und dadurch sind sie uns fast in Vergessenheit geraten. Jetzt weiß ich, was Gottes[197] Liebe bedeutet, und weiß, daß Gott mich liebt. Deshalb habe ich keine Unruhe mehr, mache mir auch keine Vorwürfe und Sorgen, denn ich weiß, daß mir nur Gutes geschehen ist, und daß mir nie Übles geschehen wird, durch die Liebe Gottes. Diese Erkenntnis ging mir auf, wie ich Karl beobachtete, denn der gehört nicht zu den Auserwählten; weshalb das aber so ist, weiß ich nicht, und das wird wohl ein Geheimnis sein, das Gott sich vorbehalten hat.« So sprach die Frau; und wiewohl der Mann den eigentlichen Sinn ihrer Worte auch später nicht verstanden hat, denn er war ein Mensch, der auf anderm Wege zu seinem Ziele kam, nämlich durch seine eigne Milde und Güte, so wußte er doch, daß auch solches gut ist, und ließ sie nach ihrer Art denken.
Und so lebten die beiden sich immer mehr ineinander, und am Ende erreichten sie dasjenige Maß von Vollendung, das bestimmt ist für solche Leute, wie sie sind, mögen das nun gelehrte und hochmächtige oder schöne und berühmte Menschen sein, oder ein armes und unbeachtetes Arbeiterpaar, das nicht unterschieden von den andern in einer menschenerfüllten Stadt wohnt.
Hans erhielt einen Brief von seiner Mutter, er solle recht schnell nach Hause kommen, denn sein Vater sei sehr krank, und weil er wußte, daß das eine gefährliche Krankheit war, denn sonst hätte sie nicht so dringend geschrieben, so machte er sich eilig und voll Sorge auf die Heimfahrt; und fuhr denselben Weg wie damals, als er vor Jahren nach Berlin gekommen war, nur fehlte ihm jetzt der Glanz der Erwartung, und alles erschien ihm wie einem Enttäuschten, und sonderbar nüchtern war es auch in der Heimat, die Luft und die Frische, die wohlbekannte Art von Menschen mit luftgefärbten Gesichtern, und die Häuser und Wälder. Wie er den alten Weg zum Forsthause ging, da kam ihm keinerlei freudiges Gefühl, und nur auf den gemeinen Nutzen waren die Holzstöße, das dünne Waldgras und die hohen, grauen Baumstämme gestimmt, und das alte Haus erschien ihm klein und dürftig mit der niederen Haustür und den winzigen Fenstern, und es war, als hänge alles hier nur von der täglichen Notdurft ab, in einer kleinlichen, beengenden und drückenden Weise, und wiewohl das Stübchen genau so war wie früher, so schien es gering und unwohnlich, und ganz jämmerlich[198] waren die häßlichen Lithographien vom Leichenzug des Jägers und des Fischers, die über dem schwarzen Sofa hingen. Der Vater ging mit großen Schritten in der Stube auf und ab und begrüßte den Sohn in zerstreuter Weise, ohne nach etwas zu fragen, die Mutter kam mit verweintem Gesicht aus der Küche; wie alt und gebückt erschienen die beiden, die er als so stattlich in der Erinnerung gehabt; waren denn das die wenigen Jahre gewesen, die derart alles verändert hatten? Der Vater begann gegen Hans gleich über einen Holzarbeiter zu schelten, der etwas versehen hatte, denn er konnte seine Gedanken nicht mehr recht bewegen, und weil er den Mann eben im Sinne gehabt, so mußte er über ihn sprechen; auch vermochte er sich keine Vorstellung zu machen, welche Sorgen und Gedanken in seinem Sohne sein mochten, den er früher doch so zärtlich geliebt hatte; und die Mutter fing an zu klagen, wie sie mit Hans allein war, über Schmerzen und allerhand Krankheitserscheinungen bei sich und über die Teuerung aller notwendigen Waren, und daß der Vater so stumpf geworden war; und auch sie schien über allerlei Kleinigkeiten das Wichtigste zu versäumen, und ihre Anteilnahme an Hansen zeigte sich nur in Erkundigungen über allerhand äußerliche und geringe Dinge.
Da kam er sich fremd vor und ganz einsam und verlassen, da fiel es ihm schwer aufs Herz, wie er die ganzen Jahre kaum an seine Eltern gedacht hatte und ihnen selten etwas von dem Wichtigen mitgeteilt, und besann sich, wie sie mochten gelitten haben unter seiner Kälte. Er fragte nach dem Hühnerhund, den hatte der Vater totschießen müssen, weil er durch das Alter die Räude bekommen hatte. Wunderlich, der Hund hatte schon seinen Lebenslauf beendet, den er hatte aufwachsen sehen von einem täppischen, dickbeinigen und spielerischen Wesen zu einem pflichttreuen und verständigen Jagdhund, und er selber, Hans, war nahe an das Mannesalter gekommen und hatte nicht die Arbeit für sein Leben.
Die alte Dorrel faßte seine Hand mit beiden Händen und streichelte sie, dabei fielen ihr die Tränen aus den Augen, denn sie freute sich, daß er so groß und stattlich geworden war, und beseufzte, daß sie daraus ihr Alter erkannte. Dann erinnerte sie ihn, wie sie zusammen Kartoffeln gerodet hatten, und dabei ging ihm zum ersten Male das[199] Herz auf, und es war, als ob sich der Panzer lockere, der ihn fest umfing. Aber nur einen Augenblick war das, dann hatte er wieder das Gefühl, daß er nun an die Stelle der Eltern treten mußte, die im Absterben waren, und daß er doch das nicht konnte, denn er fühlte sich noch als ein Kind, das geleitet wird, und das Leben erschien ihm übermäßig schwer, daß er es gar nicht tragen konnte. Das kam ihm aber vornehmlich vom Vater, denn der tat wohl scheinbar alles wie sonst, aber alles, was er tat, hatte einen seltsamen Anblick fast gespenstiger Art, denn es ging aus einer zwecklosen Unruhe hervor und nicht aus bedachten Absichten; so stand er morgens lange vor Tag auf und ging in den Wald, vieles vergessend und sich um Kleinigkeiten erregend, und kehrte zu wechselnden Zeiten nach Hause zurück, eine zerstreute Ratlosigkeit mit sich führend. Und indem Hans seiner Eltern Leben überdachte, fand er, daß sie immer ehrlich und redlich ihre Pflicht getan, für ihr Kind gesorgt und auch andern Menschen geholfen hatten nach ihren Kräften. Und wenn nun solches das Ende war, welchen Sinn und welche Bedeutung hatte dann wohl überhaupt das Leben? Da überkam ihn eine Furcht, und es wurde ihm klar, daß er bis dahin gewandert war wie ein Träumender auf einem hohen Gebäude, und jetzt war er aufgewacht und sah ein, daß man sich in die Tiefe stürzen muß. In der Nacht stand die Mutter mit dem Licht an seinem Bett, denn der Anfall des Vaters, wegen dessen sie ihn hatte kommen lassen, war wiedergekehrt. Da lag der alte Mann in dem engen Bett, unbeweglich, und ein Auge war geschlossen und war tief eingefallen und das andre rollte in der Höhle hin und her, als wolle er jeden besonders ansehen, er konnte aber auch nicht sprechen. Am Fußende stand die Mutter und weinte still, und in der Tür stand Dorrel, die schluchzte, und das Auge des Sterbenden rollte stumm in seiner Höhle. Es war, als ob jetzt ganz besondere Gedanken in dem Vater waren, an die er sonst nie gedacht, die ganz neu und unerhört waren, und seinem Sohne mußten sie eine besondere Aufklärung geben. Aber die Zunge war gelähmt, und nur einmal rief eine besondere Anstrengung ein unverständliches Murren hervor. Kurze Minuten dehnten sich endlos aus, und das flackernde Licht erzeugte hüpfende Schatten an der geweißten Wand. Dieser Mann war nun alt und wollte sterben. Und nun war Hans ein[200] Mann geworden und war so, wie er selbst vor langen Jahren seinen Vater gekannt hatte, der nun ein alter Mann war und sterben wollte. Grauenhaft war das. Denn es waren doch auch nur wenige Jahre, dann war er selber gleichfalls so alt wie dieser Mann, der jetzt im Sterben lag, und dann mußte er gleichfalls sterben. Da war es ihm, als verstehe er innerlich, was der Vater dachte und wollte, kniete nieder vor der niedrigen Bettstelle und legte seinen Kopf auf das Kissen neben den Kopf des Vaters, und das rollende Auge beruhigte sich, und Hans verspürte, wie aus seines Vaters Herzen eine heiße Liebe zu ihm herüberströmte, und die Mutter kniete auch vor dem Bett und hatte seine Hand gefaßt, und auch auf die Mutter strömte Liebe und freundliches Wohlwollen. Und Hansens Herz erwiderte die Liebe, und er fühlte deutlich, daß er zu seinem Vater gehörte, denn alles andre, was ihm geschienen, war falsche Äußerlichkeit gewesen. Wie er sich dergestalt glücklich fühlte, ging von dem Sterbenden ein erleichtertes Seufzen aus, und eine Bewegung ging durch den ganzen Körper; da erhob sich die Mutter und drückte ihm das Auge zu.
Er lag mit einem friedlichen und beruhigten Gesichte da, und war, als habe er in den letzten Minuten nicht nur etwas Schönes empfangen, sondern auch eine große Weisheit, die ihn in ein gläubiges Erstaunen versetzte und seine Züge hell machte. Hans sprach: »Mutter, ich kann nicht weinen, denn er ist sehr glücklich geworden.« Die treue Dorrel aber kam an das Bett, nahm die Hände ihres Herrn und faltete sie; und dann faltete sie ihre eigenen Hände, die von vieler harter Arbeit zeugten, und betete leise. Hans sprach zu seiner Mutter: »Ich habe es nicht um ihn verdient, daß er mich so geliebt hat, aber ich will sein Andenken lieb haben.«
Viel dachte Hans darüber nach, woher es gekommen sein möge, daß seines Vaters Liebe erst in den letzten Minuten zu ihm sprach, und daß die Tage vorher so wunderlich verwirrt gewesen, und am Ende fand er darin eine Erklärung, daß seines Vaters Jugend zu schwer gewesen war und ohne Glück. Es muß aber jegliches Lebensalter auch das seiner Art entsprechende und gebührende Glück haben, sonst gedeiht der Mensch nicht zu seiner Vollkommenheit, sondern wird wie ein Baum, der in seiner Jugend nicht nach allen Seiten hat frei wachsen[201] dürfen. Und wie er weiter nachdachte, fand er, daß dieses Glück viel weniger von der äußeren Gelegenheit abhängt, wie vom Menschen selber, ob er es aus sich herausbilden will, so daß also ein Mann wie sein Vater doch in seinem Innern einen Fehler gehabt hat. Aber diesen Fehler hatte er auch selber, und glich wohl sehr seinem Vater; das wollen wir bedenken, da unser Hans doch von deutscher Art und Sorte ist.
Als ein sehr veränderter Mensch kehrte Hans nach Berlin zurück, und es schien in Wahrheit, als ob er durch den Tod seines Vaters viel älter und ein Mann geworden sei, und besonders zeigte sich das, indem seine Gefühle gegen Personen, die ihm bis dahin nahegestanden, plötzlich ganz anders waren, ohne daß er einen Grund wußte. Am ersten kam es zu einem Bruch mit Heller. Der war längst in der früher beschriebenen Art verheiratet und hatte sich ein kleines und bürgerliches Leben begründet, indem er seine Anschauungen in Zeitungen verbreitete, die von Arbeitern und kleinen Leuten gelesen wurden. Hans besuchte ihn, wie er einen heftigen Einsamkeitsgram hatte, und traf ihn in seinem ärmlichen und sauber eingerichteten Zimmer, wie er in einem großen und gestickten Schlafrock am Schreibtisch saß; er hatte etwas an Umfang zugenommen, und im Gesicht war ein Ausdruck eines herablassenden Wohlwollens ständig geworden, der sehr aufreizend wirkte. Da verspürte Hans zu seiner großen Verwunderung, wie er ihm die Hand gab, eine tiefe Verachtung gegen den alten Freund, und ihm war, als sähe er eine unerträgliche und widerwärtige Maske, die ganz hohl war und unbewegte Züge hatte, und alles ärgerte ihn, der Schlafrock und der anspruchsvolle lehrhafte Ton, und besonders einige hochtrabende Worte. Und wie ihm Heller am Ende erzählte, daß er beabsichtige, sich für den Reichstag aufstellen zu lassen, und daß sein Wahlkreis ziemlich sicher sei, da entfuhr es Hans, daß er grob wurde und Heller einen Intriganten nannte, und das Sonderbare kam ganz gegen seinen Willen und auch gegen seine vorherige Meinung; aber die Bezeichnung hatte den wunden Punkt des andern getroffen, den Hans nur unbewußt geahnt hatte, denn er antwortete sehr gereizt, und das Ende war, daß Hans fortging mit dem klaren Bewußtsein, daß er für immer mit Heller auseinander war.[202]
Nicht lange währte es, da hatte er einen ähnlichen Vorfall mit Krechting; der sagte ihm, er sehe aus ganz andern Augen wie früher und zeige einen besonderen Stolz, und aus diesem erkenne er, daß sich sein Wesen geändert habe und ein starkes Wollen in ihn gekommen sei, und so würden wohl ihrer beiden Wege jetzt auseinandergehen. Denn wir erwürben uns Freunde und zehrten diese innerlich aus, und hierdurch wie durch anderes würden wir mit der Zeit neue Menschen; dann seien diese Freunde geschmacklos für uns geworden und wir würfen das Geringe, das von ihnen übrig sei, gleichgültig zu anderm Unrat, der sich aus unsrer Vergangenheit um unsre Hütte ansammle; und etwa wie ein neugieriger Gelehrter die Küchenabfälle vorgeschichtlicher Völker durchwühle, so könne einmal ein Seelenforscher, wenn einer von uns einmal für einen solchen interessant wird, den Abfallhaufen studieren und aus ihm die Geschichte des Mannes erraten.
Krechting saß in seiner Stammkneipe an seinem gewohnten Tisch, und wie er mit seinem unglückseligen und verkümmerten Körperchen dasaß in seiner Ecke und verbissen vor sich auf sein Glas sah, da wurde Hans von tiefem Mitleid ergriffen, der andre aber verspürte seine Bewegung, und sein Hochmut machte, daß er sich deren schämte, und so wurde seine Stimme plötzlich heiser und rauh, wie er fortfuhr, daß er keinerlei Empfindungen von Hans wünsche, denn er selbst habe vielleicht nur einen gewissen Neid auf ihn, weil er für sich immer an der Seite stehen werde und bittere Urteile aussprechen, indessen andre sich zu handelnden Menschen bildeten; aber im Grunde wolle er ja dieses Leben; und nach einem Jahrzehnt werde Hans ihn immer noch hier in dieser Ecke sitzen sehen und in der gleichen Weise sprechen wie jetzt, und werde inzwischen eine neue Anzahl jüngerer Freunde mit ihm zusammengekommen sein und nach ihrer bestimmten Zeit ihn wieder verlassen haben, und so werde es gehen, bis er zu alt sei für junge Freunde. Alles das sei ihm ganz klar, und es müsse wohl so sein; nur grüble er vergeblich, welches doch der Grund eines solchen Zustandes sein möge; aber wahrscheinlich habe auch der bezauberte Merlin nicht gewußt, aus welchem Grunde er in seiner Rosenhecke träumen müsse.
So zeigte Krechting doch wider seinen Willen seine Schwachheit, und dadurch bewies er, daß er in Wahrheit eine Liebe zu Hans gehabt,[203] die sich freilich nie geäußert hatte. Aber Hans verspürte das Nichtgesagte, und eine wunderliche Wehmut befiel ihn, eine Art Gefühl, als trenne er sich von einer warmen und treuen Heimat, um auf das hohe Meer zu gehen, und doch wußte er, daß Krechting ganz recht hatte, und es war besser für beide, daß sie sich in Freundschaft und Ruhe trennten, denn sonst wäre bald ein Streit zwischen ihnen ausgebrochen, und sie hätten sich gegenseitig tiefe Wunden geschlagen zum Abschied.
Inzwischen hatte Weiland noch mehrmals seine Stadt gewechselt, weil er überall durch die Nachforschungen der Polizei und auch durch Ausweisungen vertrieben wurde, bis er endlich nach gut zwei Jahren in Süddeutschland einen ruhigen Aufenthaltsort fand, zu dem er hoffte, seine Familie nachkommen zu lassen, die er in der ganzen Zeit nicht gesehen; und schon begann sich sein Gemüt wieder zu erheitern durch die Hoffnung auf ein friedliches und anständiges Leben. Zu Hause aber war seine Frau mit jenem Zimmerherrn, von dem schon berichtet, immer näher gekommen.
Das war eine ganz ruhige und einfache Entwicklung gewesen, deren Ende beiden unerwartet kam; denn der einsame und stille Mann, der bei seinen Arbeitsgenossen in der Fabrik und im Wirtshaus nicht Gelegenheit hatte, von dem zu sprechen, was ihn bedrückte, fand in der engen und sauberen Küche der Frau, wo das Kindchen auf der Erde spielte und sich auch wohl an seinem Knie hochrichtete, eine Wärme und Zuneigung, und so berichtete er sein Leben und hörte ihre Geschichte, die sie unter häufigem Weinen erzählte, und bald teilte sie ihm aus ihres Mannes Briefen mit von den vielen fehlschlagenden Hoffnungen und Versuchen, und er tröstete sie und freute sich an der Entwicklung des Kindes; dann machten sie ab, daß die Frau für ihn kochen sollte, und mit der Zeit besorgte sie alle seine Angelegenheiten, und wie sie nun immer mehr wirtschaftliche Dinge gemein bekamen, die besprochen werden mußten, zu den andern Angelegenheiten, die sie sonst schon besprachen, da geschah es, daß er die ganze Zeit über, wenn er zu Hause war, bei ihr in der Küche saß. Sie schrieb in ihren Briefen an ihren Mann vieles von dem Fremden und rühmte ihn sehr, bis ihr endlich ihr Mann einmal in neckischem Tone antwortete, sie solle sich nur nicht in den andern verlieben, denn er selbst sei doch so lange von Hause[204] fort. Über diesen Scherz wurde sie sehr nachdenklich, und wie sie sich alles überlegt hatte, sagte sie zu dem Fremden, daß die Leute im Hause Übles reden könnten, wenn sie so oft zusammen seien, deshalb scheine es besser, wenn er nicht zu häufig zu ihr komme. Aber schon hatte die Gewohnheit einen zu tiefen Eindruck gemacht, und wenn der Mann abends nach Hause kam, hatte sie immer etwas, das sie mit ihm bereden wollte, und so kam sie jetzt zu ihm auf sein Zimmer.
Aber doch hatte sie nun ein Bewußtsein, daß sie etwas tat, das nicht recht gehörig war, und deshalb fing sie an, sich selbst Entschuldigungen zu machen; auch erwähnte sie des Fremden nicht mehr in ihren Briefen. Ihre Hauptentschuldigung aber, die sie sich machte, war die, daß sie noch jung sei und ihr Leben genießen wolle; denn in dieser kindischen und offenherzigen Art wissen die Leute sich ihre Vergehen darzustellen. Und auch der Fremde, der ein braver und ordentlicher Mensch war, hatte bis dahin aus allem kein Arg gehabt; aber nun, wie ihn die Frau öfter besuchte und in ihrem geheimen Schuldbewußtsein einen wunderlichen und verführerischen Reiz ausübte, den sie vorher gar nicht gezeigt, da kam auch er zu Nachdenken und Verlangen; und so steigerten sich beide unbewußt immer gegenseitig, bis der Mann eine leichte Zärtlichkeit wagte, die zwar anfänglich zurückgewiesen wurde, aber wie es denn geschieht, in solcher Art, daß er Mut bekam für einen neuen Versuch, und bald ahnten sie jeder, daß sie auf brüchigem Eis wandelten.
Hierüber war der Frühling ins Land gekommen, und die beiden verabredeten sich zu einem Ausflug am Sonntag und fuhren mit der Bahn in einem überfüllten Zuge zu einem der Orte, nach dem sich diese Ausflüge richten, gingen dort im Walde, der von vielen Menschen belebt war, dann aßen sie in einer Wirtschaft zu Abend und kehrten am Ende zum Bahnhof zurück, um nicht allzu spät wieder in Berlin zu sein. Es war eine schöne und etwas strenge Frühlingsluft gewesen, welche die Nerven anspannt und ein Gefühl in uns weckt, als stehe ein besonderes Glück vor uns. Auf dem Bahnsteig trafen sie einige andre Paare, die gleich ihnen frühzeitig zurückfahren wollten, und war ihnen ein eignes und sehnsüchtiges Gefühl, wie sie so diese heimlich flüsternden und vertraulichen jungen Leute sahen. In dem[205] Zuge, der wegen der Frühe fast leer war, hatten sie ein Wagenabteil für sich, so fuhren sie allein durch das Dunkel nach Hause. Da wurde die Frau von einem neuen bräutlichen Gefühl übermannt, und die Tränen kamen ihr, sie lehnte sich an die Schulter des Mannes, der faßte ihre Hände, und so fuhren sie schweigend.
In der Folge entwickelte sich ein Trotz bei der Frau, weil sie ihr Unrecht fühlte, sie behielt ihren Grund, daß sie ihr Leben genießen wolle, solange sie jung war, und sagte auch, daß die Wohnungsverhältnisse Ursache seien, und endlich fand sie sogar, daß ihr Mann, weil er zu sehr an die Partei gedacht, die Familie vernachlässigt habe. Wie sie aber ihrem Manne von allem schrieb, erwähnte sie von diesen Gründen und Ursachen nichts, sondern sagte nur, daß sie den andern lieber gewonnen habe, und als freier Mensch wolle sie sich von ihm trennen und sich mit dem verbinden.
Dieser Brief kam gerade in Weilands schönste Hoffnungen und machte ihm einen sehr tiefen Schmerz, denn es war ihm, als sei er plötzlich wie eine Pflanze, die aus der Erde gerissen ist, und nachdem er etwa eine Woche in dieser Stimmung verharrt hatte, wurde ihm in seinem ganzen täglichen Leben so trostlos zumute, daß er dachte, es könne so nicht bleiben, sonst werde ihn der Überdruß zum Trinken verführen, deshalb beschloß er, daß er Deutschland gänzlich verlassen wollte, und nach Amerika gehen, um in eine völlig neue Umgebung zu kommen und hier durch die Arbeit der Anpassung vielleicht neuen Sinn zu kriegen, denn er dachte sich, daß er noch jung war und sein Leben noch nicht verloren zu geben brauchte, weil er es ja immer noch ganz von neuem zu begründen vermochte.
Indem er aber vorher noch von seiner Frau und seinem Kinde Abschied nehmen wollte und besonders das Kind noch zum letzten Male sehen, dachte er, erst nach Berlin zu fahren, und zwar war er ja dort ausgewiesen, aber er hoffte, daß die Polizei, wenn er die Reise geheim betreibe, doch nichts von ihm erfahren werde; und zur besonderen Vorsicht ließ er sich den Bart abnehmen und das Haar schneiden, um weniger leicht erkannt zu werden; aber gerade diese Vorbereitung erweckte einen Verdacht, denn da er aus irgend einem Grunde für einen besonders gefährlichen Menschen gehalten wurde, so war er sehr genau[206] beobachtet. So kam er in Berlin an und ging die bekannten alten Wege zu seiner Wohnung, die er früher immer mit großer Fröhlichkeit gegangen war, und klingelte an der Tür, und weil ihn seine Frau nicht gleich erkannte auf dem dunkeln Flur, so hieß sie ihn unbefangen eintreten; da stand er auf der Küchenschwelle, und der Tisch, der damals ganz neu gewesen, hatte auf der Platte seine Farbe verloren durch den Gebrauch; aber es war eine weiße Gardine vor dem Fenster, und plötzlich wurde ihm so wehmütig zu Sinn, daß er hätte weinen mögen. Seine Frau stand in der äußersten Ecke und sah erschreckt auf ihn hin, und das Kind war auf ihn zugeeilt und hatte »Papa« gerufen, in der Meinung, er sei der neue Vater, aber dann hatte es seinen Irrtum erkannt und war vor dem fremden Manne erschreckt zurückgelaufen und versteckte jetzt sein Gesicht in der Schürze der Mutter. Das erschütterte ihn mehr wie das Entsetzen seiner Frau, daß sein Kind sich vor ihm fürchtete, da rief er mit schluchzender Stimme: »Sehe ich denn aus wie ein Verbrecher, daß ihr vor mir Angst habt?« Aber die Frau starrte ihn nur immer besinnungslos an, und das Kind machte das Köpfchen etwas los und blickte scheu zurück; da kamen ihm die Tränen, und er wagte nicht, einen Schritt vorzusetzen.
In diesem Augenblick traten Schutzleute durch die Flurtür herein, die in der Aufregung der beiden offen geblieben war, und einer legte die Hand auf Weilands Schulter und erklärte ihn für verhaftet wegen Bannbruchs; zerstreut sah er dem bärtigen Mann ins Gesicht, dann schrie er laut den Namen seiner Frau, der kamen jetzt auch große Tränen über die Wangen, aber sie stand noch immer gelähmt. Vor der Tür draußen sammelten sich neugierige Hausbewohner, ein Murmeln und die befehlende Stimme eines Schutzmannes wurde gehört. Da wendete sich Weiland langsam um und ging die Treppe hinab mit den Männern, die ihn verhaftet hatten, und die Knie zitterten ihm, und seine Frau mit dem Kind waren oben in der Küche.
Wie er zwischen den Polizisten aus der Haustür auf die sonnenhelle Straße trat, in deren Mitte ein Pferdebahnwagen fuhr, da flüsterten Leute hinter ihm, er sei betrunken; da ergriff ihn eine unbändige Wut und eine sinnlose Verzweiflung, daß er sich auf den einen Mann stürzen wollte. Wie er eben die Bewegung begann, hörte[207] er eine scharfe und schneidige Stimme rufen: »Achtung!« Das durchzuckte ihn, und das alte, bekannte Schlagwort, das er selbst vielhundert Mal gerufen, kehrte in ihn: »Laß dich nicht provozieren.« So ging er denn ruhig mit, nur die Fäuste hatte er geballt.
Er wurde wegen des Bannbruches zu einigen Wochen Gefängnis verurteilt, und während dieser Zeit hoffte er immer, daß ihn seine Frau noch einmal mit dem Kinde aufsuchen werde, aber die schämte sich und so nahm der Mann von Deutschland Abschied mit Bitterkeit im Herzen. Aber als er vom Schiff aus New York erblickte, wo sich über dem breiten Lager der gewöhnlichen Häuser wie gewaltige Türme des Mittelalters die Riesenbauten erhoben, die mit ihrer obersten Galerie die Wolken streifen und deren Wände doch blitzen von spiegelnden Fensterscheiben, denn nur aus Eisen und Glas sind sie erhoben, da war es, als ob in ihm Begeisterung, Kraft und neue Freude erwachten. Und wie er durch die breiten Straßen ging, wo die Menschen sich rücksichtslos drängten mit willensstark geradeaus gerichteten Blicken und jeder ein Ziel verfolgte und Mut und Hoffnung hatte, da richtete sich auch seine Haltung, nicht in der militärischen Art wie zu Hause, sondern nach amerikanischem Wesen, und ein Einheimischer sah wohl verwundert den Einwanderer mit dem kleinen Bündel an, der gar nicht aussah wie ein gewöhnliches Grünhorn. Und es glückte ihm, daß er gleich Arbeit bekam in seinem Geschäft, und schon nach einem halben Jahre, wie er sich an das Neue gewöhnt hatte, rückte er zu einem Meisterposten auf, dann wurde sein Ehrgeiz immer lebendiger, und nicht lange währte es, da mußte ihn sein Herr, der einst gleich ihm als armer Schustergeselle eingewandert war, mit am Unternehmen beteiligen, und nun hatte er den Weg frei vor sich, der ihn einst zum Reichtum führen mußte. Ganz sonderbar schnell hatte er sich seiner Sprache entwöhnt und waren alle seine Manieren amerikanisch geworden, und weit, weit in den Hintergrund traten ihm seine jugendlichen Bestrebungen und die Erinnerung an Weib und Kind, denn nur zuweilen im Traum kam es ihm, daß er die alten Zeiten sah. Später heiratete er eine amerikanische Frau, die ein schlankes und stolzes Wesen war mit offenem Gesicht, die ihm erschien wie eine Königin, trotzdem sie nur Buchhalterin gewesen war in seinem eignen Unternehmen, und[208] so bereitete er mit die neue Gesellschaft vor, die freilich ganz andrer Art ist wie die einst von ihm geträumte, und die einmal unbarmherzigen Krieg führen wird gegen uns Altväterliche.
In Hans begann jetzt allmählich ein Gefühl der Einsamkeit, denn die Jahre waren vorüber, wo man die Vorstellung hat von vielen unbekannten Freunden, die man nur anreden müßte, auch verliert am Ende der Jünglingsjahre das Bewußtsein gemeinsamer Überzeugungen seine Bedeutung, das leicht Menschen zur Freundschaft zusammenbringt, denn in Wahrheit fängt jetzt das Alter an, wo die Ehe eintreten muß und die erfolgreiche Berufsarbeit, in welcher die Fähigkeiten und Kenntnisse verwendet werden, die suchende Jünglingsjahre erworben haben. Aber weder konnte Hans an eine Ehe denken, auch wenn er eine Liebesneigung gefaßt hätte, denn er vermochte nur eben sich selbst zu ernähren, noch erschien ihm seine Tätigkeit als eine Berufsarbeit für das Leben, denn sein Lehrer hatte es ihm wohl nach seinem Versprechen verschafft, daß er bei einem großen wissenschaftlichen Unternehmen mitbeschäftigt wurde, aber die Arbeit war ihm nur ein gemeiner Broterwerb. Aber welche Tätigkeit er sich aussuchen sollte, das konnte Hans auch nicht sagen, und so machte er sich jetzt oft Vorwürfe, daß er sich früher durch zu vielerlei Interessen zersplittert habe.
Derart sah er nun auch andre Dinge in einem grauen und unerfreulichen Schein, die ihn früher glücklich gemacht hatten, die unreife Begeisterung der Jugend war erloschen, und Erfahrung und Verständigkeit hatten noch nicht ein neues Bild der Welt geschaffen; so wunderte es ihn, wie er in einer Volksversammlung ein ganz neues Bild bekam, wo er eine Rede von Heller hörte, in welcher der gehässig über die höheren Stände sprach und den Arbeitern schmeichelte, und die Versammelten jubelten ihm Beifall; aber der Hochmut und die kindische Art der Leute tat ihm weh, und weil er selbst ein Mensch mit Ehrfurcht war, so kamen sie ihm vor wie freche Knechte. Da erschien ihm plötzlich der Drang nach Gerechtigkeit und der Wunsch auf Gleichheit als ganz unreif, und er kam sich vor wie das Kind, das den Ozean mit der Nußschale ausschöpfen wollte, weil er einst geglaubt hatte, er könne durch ein Urteil über Recht und Unrecht in diesen gesellschaftlichen Vorgängen eine Einsicht haben, die doch durch den geheimen[209] Lebenstrieb der gesamten Gesellschaft bestimmt werden; und in Wahrheit hatte er vielleicht die Auflösung und den Tod der Gesellschaft erstrebt durch seinen Drang und seinen Glauben. Ganz neu und unbestimmt kam ihm nun zuerst der Gedanke, daß dieser Maurer oder Zimmermann neben ihm nicht behaglich leben dürfe, wenn er selbst oder ein andrer sollte höher kommen können, nicht zu Behagen, sondern zu höherer Wesenheit, und indem fühlte er plötzlich, daß er diese Menge von dumpfen und selbstzufriedenen Menschen haßte. Aber so einsam war er, daß er von dieser Unruhe und Verzweiflung niemand mitteilen konnte, und er hätte auch ein weibliches Wesen haben müssen, dem er seine Gedanken erzählte. So fühlte er sich nun näher hingezogen zu Luise; die hatte ihr medizinisches Studium beendet und war nach Hause zurückgekehrt, und ihre Absicht war gewesen, nun sich als Ärztin niederzulassen. Aber wie sie das gewollte Ziel erreicht hatte, war plötzlich eine seltsame Müdigkeit und gleichgültiger Sinn über sie gekommen, und sie lebte wochenlang und dann durch Monate untätig, und wie es Menschen in dieser Verfassung geschieht, häuften sich allerhand Schwierigkeiten um sie, als seien sie durch ihre Stimmung herbeigezogen. Hans verspürte nichts von dieser Lage und freute sich nur, daß er ihr manches mitteilen konnte; aber einmal, bei einem recht gleichgültigen Gespräch sprach sie mit ihrer Stimme, die jetzt müde war, von Zwecklosigkeit. Da tat er einen erschreckten Blick in die dunkle Tiefe ihres Überdrusses und ihrer unerklärten Verzweiflung, und für sich selbst wußte er plötzlich, daß er an demselben Überdruß litt. Und wie er sich nun so umsah nach andern, da fand er, daß ihr Bruder ein glücklicher Mensch war. Den hatte er früher immer verachtet, weil er gar keinen Sinn besaß für die Dinge, die Hans und den andern wichtig erschienen, sondern er verharrte nur immer mit unverdrossenem Eifer bei seiner kleinen Gelehrsamkeit. Eben trat er ins Zimmer, als Luise jene Worte gesagt; der Vater hatte ihm zum Geburtstag eine Geldsumme geschenkt, und er hatte sich dafür schmutzige Trümmer eines alten Buches gekauft, ohne Titel und ohne Schluß, das ein Stück eines im siebzehnten Jahrhundert in Venedig gedruckten arabischen Werkes war; sein ganzes Gesicht strahlte von innerer Heiterkeit, liebkosend strich er über den zerfetzten Einband, und Hans wechselte[210] einen schnellen Blick mit Luise, und beide dachten, sie möchten wohl gern solchen Glückes fähig sein, und verwunderten sich, weshalb sie das nicht konnten.
Die Ehe von Karl und Johanna hatte sich immer grausiger entwickelt in Haß und Sehnen; und er gewann bald das heimliche Gefühl des Sieges und wußte, daß er in Kürze frei sein mußte von seiner Kette, und sie war gänzlich ratlos und sah sich von Unverständlichem umgeben. Unmerklich hatte sich eine Wand erhoben zwischen ihnen, deren Wachsen hatte er gesehen und kannte ihre Fugen, sie aber war erstaunt über die neue Mauer, denn ganz plötzlich merkte sie von ihr, dann schlug sie zornig gegen die empfindungslosen Steine, und zuletzt sank sie in sich zurück.
Er hatte schon lange geahnt, daß sie ihn nach einiger Zeit vor andern lächerlich machen werde, und nun hatte sie damit begonnen, indem sie über seine Tracht spottete, seine Gangart, seine Art zu sprechen. Und wiewohl sie wußte, daß er sehr litt und sich in ihm Bitterkeit häufte, so fuhr sie doch fort in dieser Weise; aber der Grund war, daß sie die Mauer einreißen wollte, denn sie verspürte wohl, daß sie ihn gar nicht hatte, weil sie nichts von ihm wußte wegen dieser Mauer, und sie wollte ihn ja verzehren. Auch stellte sie in seiner Gegenwart Betrachtungen über seinen Charakter an. So fühlte er zuzeiten deutlich hinter diesen Roheiten ein Flehen zu ihm, eine Sehnsucht, und einen Willen, der ihn halten wollte; das machte ihn glücklich durch befriedigte Rache. Ihr dunkler Trieb suchte weiter und äußerte sich in andrer Form, und dachte, daß Karl vielleicht nach irgend einer andern Seite eine starke Neigung hatte, die ihn unangreifbar machte; deshalb suchte sie mit heftiger Eifersucht in allem, was ihn beschäftigte, und begann Bücher zu hassen, Bekannte zu verfolgen, gegen Gewohnheiten zu schelten, aber fand nichts, das ihr eine Erklärung gab. Da bezwang sie ihre Natur zu Freundlichkeit, zu Entgegenkommen, suchte ihn auf seinem Zimmer auf, indem sie eine andre Absicht vorschützte, und wollte ihn bewegen, zu ihr zu sprechen, ja, sie ging zu ihm, der gebückt über seinem Buche saß, und streichelte ihm die Stirn mit ihrer Hand, und ihre Hand war weich und kühl, und etwas Seltsames floß aus ihr.[211] Aber sein Haß wurde so heftig, daß er sich nicht ruhig halten konnte, und er stand hastig auf und ging fort. Da setzte sie sich und weinte; und wie er zurückkam und sie mit verweintem Gesicht in seiner Stube fand, mußte er sich zwingen, daß er sich nicht auf sie stürzte, um sie zu töten.
So war die Vorbereitung zum Ausbruch. Sie hatte eine große Gesellschaft ihrer Freunde, die ihm alle verhaßt waren, denn er sah in einem jeden von ihnen einen Teil ihres Wesens lebendig vor sich. An jenem Tage erschienen ihm alle Gesichter unnatürlich verzerrt, und wie sie um den runden Tisch sich drängten und verwirrt durcheinander sprachen, da saß er für sich und war zusammengesunken und vergrübelt. So hörte er wie durch einen Schleier eine Weile einzelne Worte aus dem allgemeinen Gespräch, die Johanna mit Krechting wechselte, und langsam wurde es ihm bewußt, daß sie sich auf ihn bezogen, und wie er aufblickte, nahm er einen Blick des Einverständnisses der beiden wahr, das auf seine Kosten ging. Da stand gerade vor ihm ein Tellerchen mit Backwerk, das nahm er und warf es Johanna ins Gesicht. Er warf mit Absicht so, daß es ihr Gesicht flach traf, nicht mit der Kante, damit sie nicht verletzt wurde. Während er das tat, war es ihm, als ob nicht er es sei, der das tue, sondern ein andrer, der ihn gar nichts anging, denn er war ganz ruhig, äußerlich wie innerlich, und wunderte sich, wie er den Teller vor ihrem Gesicht sah. In dem Augenblick, wo er zielte, waren alle stumm geworden und hatten erstarrt auf ihn geblickt. Das Tellerchen traf, und das Backwerk fiel wohl vor ihm auf die Erde, aber das Tellerchen traf sie mitten ins Gesicht. Sie fing es im Herabfallen auf und hielt es in der Hand, ohne Gedanken, indes sie ihn mit großen und erstarrten Augen ansah; mit einem Male schrie sie laut auf und warf es auf den Boden, als sei es glühend. Er aber erhob sich und ging aus der Tür, machte sich in seinem Zimmer straßenfertig und schritt langsam die Treppe hinunter und aus dem Hause. Alles ließ er dort, und nie kehrte er wieder zurück.
Ruhe und Frieden suchte er und etwas, das er nicht nennen konnte. So ging er zu Luise. In ihren Schoß hatte er seinen Kopf gelegt, und langsam stiegen ihm die Tränen in die Augen, denn er hatte nicht sprechen müssen, sondern sie hatte ihn angesehen, und dann hatte er sein Gesicht in ihren Schoß gelegt, und nun streichelte sie ihm die Haare.[212] Ruhig wurde ihm, wie wenn nun alles Meer glatt wäre, und er dachte an nichts, nur fühlen konnte er, und er fühlte, wie Ruhe in sein Herz floß. Dann wußte er, daß er aufstehen mußte, und er stand auf und setzte sich neben sie; und sie sagte mit gütigem Gesicht, daß er älter geworden war. Wie sie das sagte mit gütigem Gesicht, strömte ihm das Blut zum Herzen, und er sah zwei feine Linien um ihre Mundwinkel. Sie lächelte, wie sie seinen Blick bemerkte und scherzte, daß auch sie nun die Jugend verlassen habe. So plauderte sie weiter, und er wußte, daß ihr das schwer wurde, jetzt so sorglos zu plaudern, und einmal fing er einen besorgten Blick auf, den sie auf sein Gesicht warf; aber er selbst hätte nichts sagen können, sondern er hörte nur zu, ihrem leisen und freundlichen Wortfall. Von Bekannten erzählte sie und von Bäumen und Blumen. Er liebte eine Bewegung an ihr, wenn sie mit beiden Händen zurück an das Haar faßte. Seine Seele wiegte sich auf ihren Worten, und er schloß die Augen, damit er nur den Klang allein habe.
Jetzt wußte er, daß er jeden Tag und jede Stunde an sie gedacht hatte, und daß er zusammengeschreckt war, wenn jemand einmal aus Zufall ihren Vornamen genannt hatte. Und nun saß sie neben ihm mit ihrer Güte und wollte ihm Liebes erweisen in Zartheit. Sie hatte die Hände in den Schoß gelegt, und wie er eine zufällige Bewegung machte, berührte ihn ihr Kleid. Sie merkte das, und diese Berührung war ihr peinlich, aber sie beherrschte sich und sah ihn mit gutem Lächeln an, und erst eine Weile nachher nahm sie ihr Kleid zusammen und von ihm weg, mit einem entschuldigenden Blick. Dann ging sie zu ihrem Flügel und spielte, und die Töne fluteten langsam heran und schienen groß und umgaben ihn weich und hoben ihn, und er fühlte sie um sich, wie sie weich waren. Dann begannen sie in ihn einzudringen, und mit einem leichten Schauer rührte etwas an sein Herz, und dann noch etwas, da wurde es ihm frei im Haupte und leicht, und es war, als ob alles sich im Herzen befinde, in dem war eine süße Lust, und es verschwand auch alles um ihn, weil es unbedeutend war, und er sah nur, wie Luise spielte, und in ihrem keuschen Nacken kräuselten sich dunkle Löckchen.
Von nun an lebte Karl wieder in der Weise wie vor seiner Verheiratung,[213] nur daß auch ihn die Einsamkeit überkam und er viel auf seiner stillen Stube saß, und in seiner Seele bewegte sich herzkränkendes Grübeln, und es war, als sei ihm das Band lockerer geworden, das die verschiedenen Eindrücke, Strebungen und Ausflüsse zu unserm Ich vereinigt, denn hierhin und dorthin begaben sich Teile seines Selbst, und wie von Schmetterlingen flatterte es bunt und willkürlich um sein Haupt. Aber das machte ihn nicht unglücklich, sondern es schien ihm, als ob er zu Frieden und Ruhe wolle, und wie wenn er in einem schweigenden Flusse schwimme und seine Glieder sich lösten in dem Wasser mit leuchtenden Spitzen.
In dieser Zeit wurde er vorbereitet auf das Einfließen eines Neuen in ihn, das schon lange sich um ihn geballt hatte. Denn schon seit einiger Zeit war er, was ein wunderlicher Zufall in einer Großstadt scheint, auf seinen Wegen öfters einem Menschen begegnet, der ihm in eigener Art auffiel, vielleicht hätten ihn andere kaum beachtet; das war ein seltsam linkischer und verlegener Mann, dessen Kleidung nicht absonderlich war und dessen Gesicht, Haltung und Gliedmaßen ebenfalls nichts Merkwürdiges zeigten, und doch war er im ganzen so eigentümlich linkischer und verlegener Art, wie Karl noch nie einen Menschen gesehen hatte. Wie das so geht, schien der Mann umgekehrt auch für Karl ein gewisses Interesse zu haben, denn er sah ihn immer mit einem gewissen Aufleuchten des Gesichtes aus den andern Menschen auf der Straße hervortauchen. An einem naßkalten Novemberabend etwa gegen neun Uhr, wo die entlegene Straße recht einsam war, traf Karl den Fremden, wie er unter dem aufgespannten Regenschirm mit Verdruß eine kalte Zigarette betrachtete, trat zu ihm und bot ihm seine Streichhölzer an; der Fremde dankte mit etwas übertriebener Höflichkeit, und dann begann ein Gespräch daraufhin, daß sie sich so oft schon auf der Straße begegnet waren; und wie ihnen dann die ersten gleichgültigen Worte bald ausgingen, da verspürten sie beide den Wunsch, einander nahe zu kommen, und deshalb setzten sie sich zusammen in eine Wirtschaft; es stellte sich heraus, daß sie Nachbarn waren. Der Fremde, der sich Roch nannte, wußte das Gespräch bald auf einen Weg zu leiten, den Karl mit großer Freude beging.
Er stammte aus einer wohlhabenden und guten Familie und war[214] in wohlerzogenem und bravem Zustande auf die Universität gegangen, um nach dem Willen seiner Eltern Jurisprudenz zu studieren. Es entwickelte sich in ihm damals eine ganz besondere Liebhaberei für Bücher, die fast die Art einer Leidenschaft annahm, über der vernachlässigte er beinahe seine Studien, und um die gewöhnlichen Vergnügungen seiner Altersgenossen und Kameraden bekümmerte er sich gar nicht, so daß er sich zu einem etwas sonderlinghaften Menschen entwickelte. Hierüber war seine Familie nicht sehr vergnügt, die wünschte, daß er sich benehmen solle wie Andere, und ihm auch einige Jugendtorheiten gern verziehen hätte, wenn sie von der gewöhnlichen Art gewesen wären, denn sie befürchteten, daß er als ein wunderlicher Mann später keine glatte Laufbahn haben werde, die ihnen allen als das Erstrebenswerteste erschien. Deshalb wurde er in den Ferien auf Besuch zu einem unverheirateten Oheim geschickt, der in einer kleinen Stadt als Kreisarzt lebte und als ein fröhlicher und allen Lebensgenüssen in Unbefangenheit ergebener Mann bekannt war. Vor dem hätte man ein leichtes Blut wohl sehr gehütet, diesen jungen und allzubraven Mann aber hoffte man durch ihn zu der gewünschten mittleren Art von Führung und Auffassung des Lebens erziehen zu können.
Des Oheims Betragen machte aber einen ganz unerwarteten Eindruck auf den Jüngling; denn der hatte bis dahin ganz treuherzig alles aufs Wort geglaubt, was öffentlich von unserm gesellschaftlichen Leben gesagt wird, und hatte nichts geahnt von den geheimen Veränderungen, durch welche die einzelnen Stände, Berufe, Klassen und Personen diese Meinungen ihren besonderen Bedürfnissen anpassen, und nun machte sich der Oheim, der von altjunggesellenhaftem Zynismus war, einen besonderen Spaß daraus, den jüngferlichen Neffen aus diesen Vorstellungen zu entfernen und begann damit, daß er ihm seine sämtlichen Liebesgeschichten nach der Reihe erzählte. Er war aber ein hochgewachsener schlanker Mann mit schneeweißem Knebelbart, rötlichem Gesicht und blitzenden blauen Augen, der so recht herzhaft aus der Brust heraus zu lachen vermochte über den etwas verkümmerten Neffen. Wie er noch Junge war, wohnte neben seinem Elternhause eine Hebamme, die eine einzige Tochter hatte, in seinem Alter, ein schwarzäugiges, rasches und hübsches Mädchen. Einmal mußte er eine[215] Bestellung ausrichten und traf sie allein in der Stube; da hängte sie sich um seinen Hals, küßte ihn stürmisch ab und bestellte ihn auf den Abend in den Garten, und die war seine erste Liebe gewesen, damals war er zwölf oder dreizehn Jahre alt; eine Art Rührung huschte über das Gesicht des alten Erzählers, wie er davon sprach. Vor wenigen Jahren kam er einmal wieder in seine Heimat; und wie er allein durch das Holz ging, begegnete ihm ein sauberes und freundliches altes Mütterchen, die sprach ihn an und fragte, er kenne sie gewiß nicht mehr, und dann nannte sie sich ihm als diese alte Liebste und sagte seufzend, es seien nun fünfundvierzig Jahre vergangen seitdem, nun sei sie lange Großmutter, und da wolle er gewiß nichts mehr von ihr wissen; aber da sei doch die Jugend noch einmal wieder in ihm wach geworden. Es stand da aber eine schöne alte Buche, die ihre Äste weithin breitete, daß in einem runden Kreise unter ihr kein Unterholz war, sondern nur die gerollten braunen Blätter, zwischen denen einige weiße Blümchen wuchsen.
Dem Jüngling tat sich in diesen Wochen ein zauberischer Garten auf voll herrlicher Früchte, die ihn lockten, daß er sie pflücken sollte, nur dürfe er nicht zu zaghaft sein, sondern müsse ohne Furcht den Fuß über die Schwelle setzen; und so zog eine ganz unbändige und verstandlose Lebenslust in die fast vertrocknete Seele des Jünglings. Es floß aber am Ende des Gartens ein Fluß leise und rasch dahin, der sehr tief war und klardunkles Wasser hatte, und über ihn neigte sich, genau auf der Grenze des Nebengartens, eine alte Weide mit tiefhängenden gelben Ruten, an denen der Frühling kleine helle Blättchen hervorgetrieben hatte. Hier stand der Jüngling oft auf einer vorstehenden Wurzel, hatte den Stamm umfaßt und sah in das still dahinschießende Wasser, denn in seiner Klarheit schwammen kleine Fischchen in einem langen Zuge; sie schwammen gegen den Strom, und oft standen sie unbeweglich, und plötzlich zuckten sie einmal blitzschnell mit den Schwänzen und flohen auseinander. Diesem Spiel sah er lange zu mit behaglicher Freude und ohne sich Gedanken zu machen; denn wie der Frühling unsere Sehnsucht erregt und unsre Lust zum Leben, so spendet er uns auch eine süße und träumerische Mattigkeit, in welcher die Stunden rasch dahinfließen mit leisem und gleichmäßigem Rauschen.[216]
An einem Nachmittage, wie er an diesen Platz gehen wollte, erblickte er auf der Nachbarseite durch das Gebüsch, das noch licht war, ein Mädchen in hellen und zarten Kleidern, das ganz in derselben Stellung stand wie sonst er selbst, denn sie stand auf der äußersten und unterspülten Wurzel des schrägstehenden alten Baumes und hatte den zarten Arm um den ausgehöhlten Stamm geschlungen und die Gestalt mit dem Köpfchen vorgeneigt, und schaute angestrengt in das lautlos fließende Wasser. Wie sie sein Rascheln hörte, blickte sie sich schnell um, und hatte kornblumenfarbene Augen und ihre Gesichtshaut sah aus wie ein Rosenblättchen, und schien verlegen, und es fiel ihm auf, daß unter der Oberlippe, die etwas zu kurz war, weiße Zähnchen hervorblinkten, das ganz wundervoll reizend erschien.
Nun wurden die beiden bald miteinander bekannt, und es zeigte sich, daß sie die Tochter einer Witwe war, deren Mann einen Kaufmannsladen gehabt, die recht ärmlich und allein in dieser kleinen Stadt ihr Leben hinbrachte. Das Mädchen hatte viel gelesen aus den Büchern ihres Vaters, aber nur unsre Klassiker, und zwar neben Schiller und Goethe auch Wieland und Klopstock, und dann Bulwer und Cooper, und ein Buch, das hieß das Buch der Natur. Hieraus hatte sie sich ein wunderliches Wesen entwickelt, das ebenso weltfremd war wie des Jünglings, nur daß in ihrer Seele sonderbare Phantasiegebilde lebten, in denen die verschiedenartigen Helden ihrer Bücher sich zusammengeschlossen hatten.
So einigten sie sich bald zu gegenseitiger Liebe, und nachdem sie sich zuerst am Tage häufig im Garten getroffen hatten, verabredeten sie sich endlich auch zu Zusammenkünften in nächtlicher Weile.
Indem nun aber in dem Jüngling damals zweierlei entgegengesetzte Wesen waren, kam er zu widersprechenden Handlungen, denn durch die Reden seines Oheims war auf der einen Seite seine Phantasie derartig verändert, daß er in seiner Liebe keine Grenzen mehr innehielt, auf der andern Seite aber blieb er in seinem eigentlichen Kern doch ein ganz anderer Mensch wie der Oheim und wurde durch seine Liebe feinfühliger und gewann eine mehr edle Gesinnung, so daß ihm nun dessen Gespräche zuwider wurden, weil es ihm schien, als ob etwas Heiliges durch sie beschmutzt werde, während er doch selbst nach dem[217] Sinn dieser Gespräche gehandelt hatte, und dann wurde ihm dieser Widerspruch immer quälender, so daß er am Ende, trotz seiner immer noch wachsenden Leidenschaft für seine Geliebte, nicht mehr bei dem Oheim ausharren konnte und Abschied von ihm nahm. Dabei wußte er keinerlei Rat, was nun mit seiner Verbindung mit dem jungen Mädchen geschehen sollte, denn sie als seine Braut zu erklären, wagte er vor seiner Familie nicht, und so schob er diese Sorge auf die Zukunft, indem er sich für die Gegenwart nur dem Gram über die Trennung hingab. Nun geschah es aber, daß die natürlichen Folgen eintraten. Wie seine Geliebte das merkte, schrieb sie in ihrer tödlichen Angst an ihn einen Brief und erzählte ihm das, er aber war inzwischen wieder gänzlich in sein eigentliches Wesen verfallen, indem er eine heftige Angst vor den Menschen hatte und nicht wußte, was er tun müsse; aus dieser Verfassung heraus schrieb er an sie zurück, und wie sie mit ihrem großmütigen Herzen diesen Brief verstanden hatte, da wußte sie genau, daß sie nun allein stand in der Welt und ihr keinerlei Hilfe kommen werde, und so gab es nach ihrer Vorstellung denn nur einen einzigen Weg noch, den sie gehen konnte. Inzwischen war Roch wieder in seine Universitätsstadt zurückgekehrt, und indem sein unruhig gemachtes Gewissen ihn zwecklos hin und her trieb in einsamen Wanderungen, wurde er noch einsamer, wie er schon gewesen, und hatte wenigen Schlaf. Da geschah es ihm, daß er in einer Nacht ein Gesicht sah, nämlich, er saß in seiner Stube und ohne Licht, und hatte seit Stunden schon sich in Gedanken abgegrämt, und es mochte schon gegen Mitternacht sein, da erblickte er plötzlich deutlich den Weidenbaum, auf dessen schrägem Stamm jetzt Schnee lag, und unter ihm eine schwarze Stelle des Flusses, der sonst unter schneebedecktem Eise dahinschoß, aber an dieser einen Stelle war er frei, und an dem Baum, vor der eisfreien Stelle kauerte seine Geliebte und hatte nackte Arme und loses Haar, wie sie aus dem Bett gestiegen, und blickte in das dunkle Wasser, und ganz deutlich sah er die kurze Oberlippe, welche die Zähnchen sehen ließ, und das rührte ihn besonders am Herzen, daß er diese Oberlippe so deutlich sah, aber ganz blaß war das Gesicht und grauenhaft ernst und entschlossen; er schrie laut auf und stürzte auf das Bild zu, aber indem glitt die Gestalt nach vorn über in das dunkle[218] Wasser, und noch während er schrie, war auch schon das ganze Bild verschwunden. Wie er die Nacht verbracht hatte, erhielt er am andern Morgen einen Brief von ihr, in dem sie ihm ihre Absicht mitteilte, daß sie aus dem Leben gehen wolle; und so hatte er nun die Bestätigung, denn bis dahin hatte er noch nicht geglaubt, daß das Gesicht ihm einen wahren Vorgang geoffenbart. Über dieses verfiel er in eine schwere Krankheit, und nachdem er die überstanden, kam ein langdauernder Trübsinn über ihn, er gab alle seine früheren Pläne auf und verwendete seine Zeit auf die Arbeit in den okkulten Wissenschaften; denn nach seinem Erlebnis hatte nichts mehr Bedeutung für ihn, was in dem engen Kreise geschehen war, der durch das Licht erleuchtet ist, und nur das erschien ihm wichtig, was in der unendlichen Dunkelheit verborgen ruht, die jenseits dieser nahen Grenze liegt, und so fand er eine Beruhigung für sein Gewissen, denn in Wahrheit war ja, was er getan, unwichtig und sinnlos gewesen, und seine Bedeutung war gar nicht verständlich für den blöden Blick, den wir hier haben. So war es möglich für ihn, daß er sich am Leben erhielt.
Mit diesem Roch nun freundete sich Karl an, und seine Lehren nahm er mit großer Begierde auf. Wie die beiden derart vertraut miteinander geworden waren, da erzählte ihm Roch, er habe sich schon lange einen Freund gewünscht, mit dem zusammen er einen wichtigen Versuch anstellen könne, der deshalb zwei Personen erfordere, weil er mit Gefahren verknüpft sei, denn in einem alten mystischen Buche, das nur handschriftlich vorliege, habe er eine Vorschrift für ein Räucherpulver gefunden, das früher von Beschwörern benutzt wurde, um Geister erscheinen zu lassen, und enthalte das in seinen wirksamen Bestandteilen gewisse berauschende Stoffe, die wohl geeignet sein möchten, den gewünschten Zweck zu erfüllen, da von ähnlichen Stoffen bekannt sei, daß ein südamerikanischer Indianerstamm sich seiner mit den gleichen Absichten bediene, indem die Leute die Geister ihrer Vorfahren sehen oder zu sehen glauben; denn eben inwieweit hier eine wunderliche physiologische Wirkung oder wirkliches Hereinragen andrer Welten stattfindet, das sei zu untersuchen.
Karl ging mit jener gewissen schauerlichen Freude auf den Vorschlag ein, die wir alle in solchen Fällen empfinden mögen; und nachdem[219] Roch auf seinem Zimmer die Vorbereitungen getroffen, lud er nun Karl an einem Abend zu sich. Sein Zimmer war ein sonderbarer Raum, der ganz hoch oben in einem Hause lag, das nur von Arbeitern, und zwar recht geringen, bewohnt war. Auf den Treppen spürte man einen namenlos scheußlichen Geruch, den erklärten die vier und fünf Namenszettel übereinander an den Korridortüren, indem sie zeigten, wie dicht die elenden Stuben bewohnt sein mochten durch allerhand Schlafburschen und sonstige ärmliche Leute. Von einem solchen Korridor ging es auch in Rochs Zimmer, das war etwa drei Meter lang und zwei Meter breit, so daß schon das Eintreten schwierig war, weil die Tür auch nach innen ging, und man sich neben dem Bett durchdrängen mußte. An den Wänden hingen sehr viele Vogelbauer, in denen Waldvögel auf Sprossen schliefen. Außer dem Bett standen nur noch eine alte Kommode und zwei Stühle in dem Kämmerchen, das in der Tat für weitere Möbelstücke keinen Raum aufgewiesen hätte. Nach einer verlegenen Bemerkung über die Dürftigkeit seiner Wohnung wies Roch auf die Kommode, wo bereits eine flache Schale mit dem Pulver neben einer Spirituslampe bereit stand. Die Vorschrift des alten Zauberbuches lautete, nach Abzug von allerhand Geheimniskrämerei, daß man vorher lebhaft an die Person denken solle, deren Geist man zu sehen wünsche, wobei es gleich war, ob man einen Lebenden oder Toten haben wollte, und daß man die Erscheinung weder anrede noch sich ihr nähere, weil sonst ein großes Unglück geschehen könne, denn es seien Beschwörer von den erzürnten Geistern erdrosselt worden. Nachdem sich die beiden fest versprochen hatten, daß sie dieses erste Mal die Vorschrift genau befolgen wollten, zündete Roch die Spirituslampe an, welche in dem sonst dunkeln Zimmer mit blauem und flackerndem Flämmchen brannte, und dann streute er etwas von seinem Pulver auf.
Eine lange Weile warteten die beiden, indes das blaue Flämmchen hüpfte und wie unentschlossen zuweilen ganz vergehen wollte. Aber es ereignete sich nichts Auffälliges; nur war zuweilen ein Knistern hörbar, wahrscheinlich wenn ein Körnchen von dem Räucherwerk verbrannte; merkwürdig laut schien den beiden dieses Knistern. Aus dem engen Hofe schallte in die Höhe, und war verstärkt durch die eng zusammenstehenden[220] Wände der Häuser, das Brüllen eines Betrunkenen; nach einer Zeit, die den beiden wohl eine halbe Stunde schien, mischte sich in das Brüllen das Schreien und Jammern seiner Frau, der hatte er heimlich das Geld fortgenommen, das sie durch Scheuern verdiente, und sie konnte den Kindern nichts zu essen geben. Roch und Karl dachten fast nur an den Vorgang, der sich da unten im Hofe abspielte, aber sie hielten sich doch noch immer ruhig. Plötzlich hob sich das blaue Flämmchen und erlosch. Nun zeigte sich, daß der Lichtschein vom Hofe her eine ganz schwache Helligkeit ins Zimmer verbreitete, so daß nicht gänzliche Dunkelheit war. Ein schwerer Rauch legte sich den beiden auf die Brust, und die Stimmen auf dem Hofe schienen sich in immer weitere Entfernung zurückzuziehen, indessen die Vögel in den Käfigen mit einem Male in seltsamer Weise flatterten und sich geängstigt zeigten.
Plötzlich war es aus der Erde gestiegen wie eine graue Gestalt; dann schwebte es langschleppend in der Luft, in der Entfernung von den beiden, die sie vorher auf dem Boden bezeichnet hatten. Nachdem erhob sich aus dem Boden ein zweites Wesen, gekrümmt stieg es von unten auf und mit Anstrengung. Nach einer Weile schwebte es ebenso langschleppend. Aber ganz undeutlich war das alles, das waren Schatten ohne Wunsch und Gesicht. Langsam schwebten sie.
Eine lange, lange Zeit währte das; aber es war nicht klar, ob Stunden dahinflossen oder Minuten.
Da wurde langsam deutlich der ersten Gestalt Gesicht und Wesen und rann zusammen zu der Figur Luisens. Gramvoll sah sie aus, und in ihren Augen ruhten schwere Leiden, die keine Form annahmen. Eine heftige Liebe und tiefes Mitleiden wallten auf in Karls Herzen, er hatte den Willen, auf den Schimmer zu eilen und dieses schwermütige Gesicht an seine Brust zu drücken. Aber indem erzitterte schon das schwanke Wesen wie ein Bild im Wasser, das plötzlich bewegt wird durch eine Blüte, die von einem überhängenden Baume leise herabfällt auf den glatten Spiegel. So bezwang er sich und hielt still, und langsam glättete sich wieder das Wesen und ward ruhig.
Derart verharrte alles eine lange Weile in atemlosem Schweigen; da geschah etwas in der andern Figur, die bis dahin noch unbestimmt[221] gewesen, denn eilfertig schoß es in ihr hin und her, ballte sich und trennte sich wieder; aber die Züge wurden fester und schärfer, und schon hatte Karl eine heimliche Angst, daß ihm Johanna erscheinen werde; da tauchten in dem leeren Gesicht auf die Linien von Johanna, und es erschienen willensstarke Augen, und ein auf Böses gerichteter Blick wurde klar, und haßerfülltes Gesicht. Bis ins Innerste erschauerte Karl vor Entsetzen, denn alles Furchtbare, dessen dieses Weib vielleicht einmal fähig war, hatte seine Äußerung in diesem Gesicht gefunden, in den Linien sowohl wie im Ausdruck. Wenn im Leben solche Gesichter wären, so würden alle Menschen Furcht haben voreinander, weil solches Aussehen möglich ist.
Dann verging wieder eine endlos lange Zeit, und es war Karl, als verrauschten vor ihm Jahre, während er angstvoll an seiner vorgeschriebenen Stelle stand und sah; denn wiewohl die Wesen stumm waren und ohne Bewegung schwebten, und ihre Gesichter rührten sich nicht wie bei toten Menschen, und wiewohl er bei allem innerlich wußte, daß diese Gesichte nur Trugbilder eines Rausches waren, den der betäubende Rauch in seinem Gehirn erzeugt; ja, er dachte sogar, daß andre solcher betäubenden Mittel die Vorstellung eines schnellen Fahrens durch die Lüfte verschaffen; trotzdem wußte er als ganz gewiß, daß zwischen den beiden Wesen etwas geschah, und daß Entsetzliches zum Ende kommen mußte.
Siehe, da richtete das Wesen Johanna langsam, wie vom Tode erwachend, die haßerfüllten Augen auf das schwache Wesen Luise; und erst ging der Strahl der haßerfüllten Augen neben ihr vorbei, und dann streifte er sie, und endlich traf er sie ganz, und das Wesen Luise erzitterte wie ein Bild im Teiche, schwankte und wollte sich auflösen. Da durchfuhr es Karl, daß er sie retten müsse, und er stürzte vorwärts mit erhobener Faust auf den Schemen Johanna. Ein sehr lauter Schlag erscholl, dann fielen Glasscherben klirrend auf die Erde, und das Fenster war gänzlich zersplittert, auch die oberste Scheibe. Karl sah auf die Scherben vor seinen Füßen und wußte nicht, wie ihm geschehen. Der andre suchte mit zitternden Fingern das Licht anzuzünden. Durch das offene Fenster drang kühle Nachtluft, und plötzlich wurde ihnen bewußt, daß der Betrunkene unten auf dem Hofe lärmte,[222] das war genau so wie vorhin; und mit einem Male fiel auch das Jammern der Frau ein, genau so, wie sie es schon gehört hatten, und der Mann antwortete dasselbe wie vorhin. Karl sah nach der Uhr; noch nicht eine Minute konnte verflossen sein, seitdem Roch das Pulver aufgeschüttet, und doch war es ihm wie vor einer ganz langen Zeit.
Schweigend stiegen die beiden die Treppe hinunter; der Zank des Betrunkenen und der streitenden Frau verfolgte sie Wort für Wort, wie sie ihn schon kannten. Karl erschauerte und hielt sich am Geländer fest, auch des andern Kniee zitterten. Und nachdem sie lange durch belebte Straßen gegangen waren, sprach am Ende Karl: »Ich weiß, was ich gesehen habe, und es ist Übernatürliches dabei, aber ich kann es doch nicht glauben.« Roch schwieg lange, dann antwortete er: »Das eben ist das Grausige bei diesen Dingen, daß man immer zweifeln muß, ob man nicht ein Betrüger ist oder ein Selbstbetrüger. Auch dies hat das Mittelalter gewußt, das gesagt hat, daß der Teufel ein Lügner und Betrüger ist. Aber ich muß tiefer hinein, wiewohl ich weiß, daß ich immer nur Lüge finden werde und Selbstverachtung, und ich weiß es nicht, ob mich nicht das treibt, daß ich mich nach der Selbstverachtung sehne, denn in der liegt die tiefste Wollust beschlossen.«
Roch sagte nicht näher, was er mit diesen Worten meine, auch erzählte er nie, was er selbst gesehen hatte. Und wie es oft geschieht, daß wir eines Menschen Leben in einem für uns beide wichtigen Punkte kreuzen und dann wieder so schnell von ihm gehen, wie wir ihn trafen, so kam Karl recht schnell wieder mit ihm auseinander, durch ein Gefühl der Unruhe und Nichtbefriedigung; für Karl war dieser einzige Versuch genügend gewesen, mit den unterirdischen Mächten in Beziehung zu treten, der andre aber verstrickte sich immer tiefer und fand endlich seinen Kreis, für den er geschaffen war, in einer Anzahl gleich Zerstörter, die nicht an Gott glaubten und eine Satansgemeinde gegründet hatten.
Um Luise schloß sich immer enger der Ring des Todes. Wir wissen ja nicht, durch welche Kräfte am letzten Ende die entscheidende Willensrichtung gebildet wird, deshalb ist uns auch in den menschlichen Dingen so vieles unbegreiflich, nämlich alles das, wo wir nicht auf irgendeine[223] Weise Gründe unterbauen können. Deshalb kann ein Erzähler in solchem Fall nur die Ereignisse berichten, die ihm irgendwelche Bedeutung gehabt zu haben scheinen.
Es lebte damals ein früherer Gutsbesitzer mit seiner Frau und einzigem Sohn in Berlin, der Offizier war. Der alte Mann hatte in jungen Jahren sein Gut in fröhlicher Hoffnung übernommen, nachdem er seine Geschwister ausgezahlt und eine brave und schöne Frau geheiratet. Nun war aber damals eine Zeit, wo der Weizen und die Wolle immer billiger wurden und die Arbeitslöhne immer stiegen, so daß die Ausgaben sich erhöhten und die Einnahmen sich minderten. Er ging lange mit sich zu Rate, was er bei dieser Erscheinung wohl tun könne, fragte auch seine Nachbarn, die zwar sich in ähnlicher Lage befanden, und zuletzt las er selbst Bücher, wie wohl er sonst wenig studiert, sondern hatte seine Universitätszeit vielmehr mit lustigen und treuen Freunden in Heiterkeit ohne sonderliches Arbeiten verbracht; aber auch aus den Büchern fand er keine Auskunft, die er nicht zuvor schon selbst verworfen gehabt hätte. Nun half er sich wohl mit großer Sparsamkeit, und seine treue Frau war sehr fleißig, daß sie aus ihrer Wirtschaft herauszog, was möglich war, aber mit der Zeit kam es sogar dahin, daß die Einnahmen geringer wurden wie die Ausgaben für den Betrieb und Zinsen. Da gelangte er in seiner Not zu Borgen und Wechselschreiben, und weil nun auch sein Gewissen schlecht wurde, denn er wußte nicht, wie er den Wucherer einmal bezahlen sollte, so schloß er die Augen und überlegte gar nichts mehr, sondern lebte wie einer, der morgen sterben soll und Mut hat und sich heute noch freut; er beruhigte sich aber immer, indem er sich sagte, daß der Wucherer schon selbst wissen werde, wie er wieder zu seinem Gelde komme.
Aus dieser Betäubung riß ihn die Rede eines leichtfertigen Handwerkers. Er mußte nämlich an einem Stall Reparaturen machen, der erst vor nicht allzu langer Zeit gebaut war, aber weil der Zimmermann betrüglicherweise frisches Holz genommen, so waren einige Balken stockig geworden. Wie er den Menschen nun zu Rede stellte und ihn in scharfen Worten an seine Handwerkerehre erinnerte, erwiderte der patzig, dafür sei ja der Bauherr da, aufzuachten, daß alles ordnungsgemäß gemacht werde. Diese Worte gingen dem alten Mann[224] sehr nahe, denn er dachte bei sich, daß er selbst ja ebenso vernünftelt habe wie dieser unredliche Handwerker, und dabei war er ein vornehmer und adeliger Mann, der Stolz hatte. Deshalb fuhr er gleich in die Stadt zu dem Wucherer und erzählte dem alles, der heftig erschrak und nach Art solcher gemeinen Menschen in häßlichen Worten ihm Vorwürfe machte. Indessen gelang es doch, das Gut vorteilhaft zu verkaufen an einen wohlhabenden Herrn aus der Großstadt, dessen Vater viel Geld verdient hatte und der sich zu diesem ererbten Gelde nun eine gesellschaftliche Stellung verschaffen wollte; so blieben dem alten Herrn sogar noch mehrere tausend Mark übrig.
Mit diesem geringen Gelde zog er nun nebst seiner Frau nach Berlin, wo sein Sohn schon früher lebte als ein frischer und unbefangener junger Offizier, der mäßig war und sehr verständig an seine Zukunft dachte. Die Frau beschloß, eine große Wohnung zu mieten und Fremde bei sich aufzunehmen um Geld, welcher Plan ihr auch gelang, da sie manche Familienbeziehungen hatte, der alte Mann aber, welcher einsah, daß er dergestalt keine Tätigkeit für sich selbst fand, durch die er zum Unterhalt der Familie beitragen konnte, wollte nicht durch seiner Frau Arbeit leben, und bemühte sich so lange, bis er eine Anstellung bei der Pferdebahn erhielt als ein Aufseher über die Schaffner, damit die immer ordentlich alles Geld abliefern und nicht betrügen. Und wiewohl sein Körper schon gebrechlich war und dieser Dienst ihn recht anstrengte, so fühlte er sich doch nunmehr glücklich und zufrieden und erzählte seiner Frau des Abends vieles über die verschiedenartigen Charaktere der Schaffner, indessen die mit einer Küchenarbeit für das Mittagessen des nächsten Tages beschäftigt war.
Bei diesen Eltern lebte der junge Offizier, und weil er gesund und rotwangig war, auch vor seinen Vorgesetzten angenehm und bei seinen Kameraden beliebt, so dachte er, daß er wohl eine Heirat machen könne, durch die er seine Glücksumstände wieder aufbesserte. Und wie in Berlin alle verschiedenen Kreise der Gesellschaft sich in der wunderlichsten Weise berühren, so hatte er bei einer gewissen Gelegenheit Luise kennen gelernt und durch ein lange geführtes Gespräch liebgewonnen, denn bis dahin hatte er nur solche jungen Damen gekannt, die mit ihm über Beförderungen und Rangliste sprachen. Nun bedachte er zwar,[225] daß sie eine Jüdin war und wenig angenehme Eltern hatte, auch blieb es ihm nicht unanstößig, daß sie Studentin gewesen, wenn schon ihr Benehmen nichts Auffälliges zeigte; indessen wußte er doch, daß sie eine große Mitgift erhoffen konnte, auf die er ja angewiesen, und dann hoffte er, daß der Umgang mit den Damen vom Regiment sie bald zu einer richtigen Offiziersfrau machen werde; über das alles hinaus gab bei ihm aber den Ausschlag, daß er eine große Zuneigung zu ihr gefaßt hatte, was freilich verwunderlich schien in Anbetracht der sonderlichen Verschiedenheit zwischen den beiden. So entschloß er sich denn und schrieb ihr einen wohlgesetzten Brief, in dem er sie fragte, ob er ihren Vater um ihre Hand bitten dürfe.
Ihre Eltern hatten aus Anzeichen schon vorher die Werbung geahnt, die von der Mutter begünstigt wurde, der Vater aber, der früher oftmals heftig gegen reiche Glaubensgenossen gesprochen, die ihre Töchter an Christen gaben, war der Verbindung feindlich gestimmt, und so wurde schon lange, bevor der Brief ankam, in der Familie lebhaft und nicht mit Würde über das Kommende gesprochen, unter tiefem Leiden Luisens, die den jungen Mann wohl ganz gern sah als einen gesunden und tüchtigen Menschen, aber keine weitere Neigung zu ihm verspürte; denn durch diese Gespräche wurde ihr, als werde ihr Innerlichstes und Heimlichstes ans Licht gezogen und vor den Menschen zur Schau ausgebreitet. Und wie nun der Brief wirklich ankam, da hatte sie eine heftige Angst vor den Gesprächen und Reden, die noch folgen würden, und zudem wurde der Überdruß, den sie schon lange empfunden, plötzlich sehr viel heftiger; so beschloß sie, daß sie aus dem Leben gehen wollte, ohne daß sie eigentlich einen augenscheinlichen Grund gehabt hätte. Ehe sie aber ihre Tat ausführte, schrieb sie noch einen Brief an Hans, der ihrer Seele wohl am nächsten gestanden haben mochte. In dem sagte sie ungefähr folgendes:
»Ich sterbe, weil ich auf keinerlei Weise sehen kann, wie ich zu leben vermöchte, und weiß auch nicht, wie andre Leute leben können. Lange habe ich nachgedacht, denn ein jeder hat doch einen Willen zu leben; und vielleicht wäre es am besten für mich gewesen, ich hätte jung geheiratet und Kinder gekriegt; denn nachdem wir für uns selbst an das Ende gekommen sind, daß wir nichts mehr zu erstreben sehen, haben[226] wir dann noch Ziele für die Kinder und ihr Größerwerden. Und so ist meine törichte Liebe zu Peter wohl noch das klügste gewesen in meinem Leben, die ich durch zu viele Klugheit zerstört habe, weil ich geistig hochmütig war und keinen Glauben fassen konnte zu einem Mann. Wenn du einmal heiraten solltest und Töchter haben, so erziehe sie nicht so, daß sie viel wissen, denn schon Männer macht das unfroh, aber Frauen vermögen dann nicht zu leben, weil sie nicht mehr sehen, wie sie das können.«
Diesen Brief erhielt Hans am Weihnachtsabend, als er allein in seiner Stube saß und über sein bisheriges Leben nachdachte. Da fand er, daß er war wie ein Baum im Herbstwinde, denn wie trockene Blätter waren die Freunde abgefallen, und der Wind trieb sie hierhin und dorthin. Und als er den Brief gelesen, dachte er sich, daß dieses das Ende aller sei, und nur einige wenige Jahre waren doch vergangen, daß so viele junge Leute zusammengewesen waren und Kraft gehabt hatten und einen starken Willen zu allem, was das Schicksal ihnen auch aufgeben mochte; und nun saß er selbst am Weihnachtsabend einsam in seiner Stube und dachte nach, wie Luise nachgedacht hatte, denn auch er hatte einen Willen zu leben; aber er fand nicht, wie das alles so gekommen sein konnte.
Und indem er angestrengt nachdachte, und es schien ihm zuweilen, als sehe er ganz von weitem das letzte Ende des Gedankens, den er erreichen wollte, da öffnete sich die Tür, und jener Russe trat ein, den er gleich in der ersten Zeit seines Berliner Aufenthaltes kennen gelernt; später war er immer in Beziehung zu ihm geblieben, aber er mochte ihm nicht wieder so nahe kommen wie in jener Nachtstunde. Dieser trat jetzt ein, begrüßte ihn und sagte, er habe ein belastetes Herz und suche einen Mann, zu dem er sich aussprechen könne. Dann erzählte er folgendes:
Vor Jahren, wie er noch in Rußland lebte, hatte er einen Freund, der ein stiller Mensch war, der von den revolutionären Wünschen und Gedanken ihres Kreises nichts wissen mochte, sondern sein Studium liebte, nämlich Mathematik. Dieser lebte mit seiner Schwester zusammen, einem sehr schönen Mädchen, das aus Liebe zu einem andern Studenten philosophische Schriften las und bedachte.[227]
Nun war damals ein neuer Polizeimeister in Petersburg eingesetzt, der eine heftige Verfolgung solcher Personen begann, die ihm politisch verdächtig schienen. Bei dieser Gelegenheit wurden auch das junge Mädchen und ihr Bruder verhaftet, und weil man bei ihr verbotene Bücher gefunden hatte, so untersuchte man sie besonders genau, und befahl der Polizeimeister, daß die Jungfrau in seiner Gegenwart nackt ausgezogen werde, damit man nachsehen könne, ob sie nicht noch heimlich an ihrem Körper etwas verborgen hatte. Hierüber und wie sie die lüsternen Augen des Polizeimeisters sah, ward sie von so heftiger Scham ergriffen, daß sie ein Messer nahm, das da auf dem Tische lag zum Spitzen der Bleistifte, und es sich in die Brust stieß; und weil sie gerade auf die Stelle des Herzens getroffen hatte und der Stoß nicht durch Kleider abgeschwächt wurde, so sank sie gleich um und verschied in wenigen Augenblicken.
Wie der Bruder, dem nichts Verbotenes nachgewiesen werden konnte, aus dem Gefängnis entlassen war, bereitete er eine Rache vor, denn seine frühere Gesinnung hatte sich durch dieses Ereignis gänzlich in ihr Gegenteil verwandelt, und da er die notwendigen chemischen Kenntnisse besaß, so gelang es ihm leicht, ein Sprengwerkzeug zu machen, durch das er den Polizeimeister töten wollte. Er hatte aber das Mißgeschick, wie er das Kästchen sorgsam über die Straße trug, daß die Masse sich vorzeitig entzündete und ihm einen Arm wegriß und beide Augen blendete. So wurde er vom Pflaster aufgenommen und durch geschickte Ärzte wieder geheilt; dann aber klagte man ihn seines Versuches wegen an und verurteilte ihn zu einer zehnjährigen Gefängnisstrafe.
Die hatte der Mann nun abgebüßt, und zwar zum Teil in Einzelhaft, und dann war er aus Rußland fort gegangen und nach Berlin gekommen. Solches Geschick aber hatte ihn jedoch zu einem ganz merkwürdigen Menschen gemacht; denn er war damals achtzehn Jahre alt gewesen; und zwar in seinem Fach recht tüchtig, sonst aber etwas unreif und kindisch. In den zehn Jahren, die er seitdem in Finsternis und ohne alle Möglichkeit der Bildung verbracht, war sein Geist dann nicht älter geworden, und auch seine Erfahrungen hatten sich nicht vermehrt; nur zweierlei war in seinem Innern geschehen, nämlich[228] erstens, er hatte die revolutionären Gedanken, die er damals ohne Interesse angehört, in sich befestigt und in einer Art von mathematischem Sinn und ohne Verständnis für die Wirklichkeit in sich gestaltet, und zweitens, er hatte sehr viele und lebhafte Träume gehabt und konnte in seiner Erinnerung nicht mehr unterscheiden zwischen Erlebtem und Geträumtem; und indem er auch jetzt noch derart träumte, und zwar häufig Vorgänge in solcher Weise, wie er sie sich wünschte, so befand er sich in Wahrheit in einer ganz andern Welt wie seine Umgebung; denn wenn ihm ein Wunschgebilde dieser Art abgestritten wurde als nicht wirklich, so hielt er den Menschen für erträumt, der gegen ihn stritt, nicht aber seine Vorstellung, weil diese sich bereits ganz mit seinem gesamten Weltbilde verschmolzen hatte.
Wie dieser Mann nun eine kleine Weile in dem Kreise der russischen Freunde in Berlin gelebt hatte, die fleißig zusammenkamen auf ihren Zimmern und viel disputierten, stellte sich das wunderliche Wesen heraus, daß er auf alle Mädchen und Frauen des Kreises eine große Anziehungskraft ausübte, trotzdem er schauerlich anzusehen war durch die Verstümmelungen an seinem Körper und im Gesicht, und wollten ihm alle dienen und helfen. Er aber hatte sich besonders an des Erzählers Frau angeschlossen, bei dem er auch wohnte und aß.
So verging nun eine Zeit, während welcher die Frau nachdenklich und schweigsam war; dann aber sagte sie zu ihrem Mann, daß sie ja doch beide sich von den Vorurteilen der bürgerlichen Gesellschaft befreit hätten und sich als Pfadsucher der neuen Menschheit wüßten, die, wie sie das oft besprochen, auch eine andre Form der Ehe bringen werde; in dieser solle die Freiheit der Persönlichkeit gewahrt bleiben; und da die Persönlichkeiten sich heute immer verschiedenartiger entwickelten, so werde die neue Ehe viele voneinander abweichende Typen aufweisen. Nun wisse er wohl, daß sie ihn liebe, aber es sei zu dieser Liebe eine neue Zuneigung in ihr Herz gekommen, nämlich für ihren gemeinsamen Freund; und anfänglich habe diese Erscheinung sie recht beunruhigt, denn da die Gefühle zu ihm als ihrem Mann noch immer die alten seien, so habe sie ihn doch nicht verlassen mögen um den neuen Geliebten; am Ende aber habe sie sich gedacht, daß auch solches in der künftigen Gesellschaft möglich sei, daß eine Frau mit zwei Ehegatten[229] lebe, wie umgekehrt ein Mann mit zwei Ehefrauen, was wir ja beides auch heute schon bei barbarischen Völkern in der Wirklichkeit sehen; und da sie doch die künftige Gesellschaft in ihrer Lebensführung vorbilden wollten, so schlage sie ihm vor, daß der Freund in ihren Ehebund als Gleichberechtigter aufgenommen werde.
Auf diese Rede konnte der Mann nichts erwidern, da sie aber eine Angelegenheit von großer Bedeutung für die künftige Ordnung der Menschheit betraf, so entschloß er sich, daß er alles seinen Freunden unterbreitete, damit vorher eine gründliche Besprechung über die soziologischen und sittlichen Fragen stattfinde, die diesen Fall betrafen. Dies geschah nun alles, und nach einer sehr genauen Prüfung kamen die Freunde zu dem Urteil, daß die Frau recht habe und nach ihrer Rede geschehen müsse. Dem Spruch fügte sich der Mann, und so begannen die drei ihre neue Ehe.
Nun zeigten sich aber bald Unzuträglichkeiten, die sich aus dem Wesen des zweiten Gatten ergaben. Durch seine Eigenart war er nämlich allen Vorstellungen unzugänglich, die bezweckten, ihn zu etwas seinem Willen Entgegengesetzten zu bewegen; und nachdem zuerst aus Schonung alles nach seinen Wünschen gegangen war, herrschte er nachher hierdurch vollständig, zur großen Beschwernis des ersten Mannes. Und während sonst das neue Verhältnis wohl hätte Dauer haben können, wurde es ihm nun unerträglich, so daß er aus der Familie ausschied, denn die Frau hing mehr an dem zweiten Manne wie an ihm. Derart lebte er nun schon seit Wochen allein. Hans wußte auf diese Bekenntnisse wenig zu antworten; aber da jemand, der sein Herz erleichtern will, denn der Mann hing noch an seinem Weibe und sehnte sich nach ihr, nicht verlangt, daß man viel zu ihm spricht, sondern er ist froh, wenn er selbst ohne Störung seine Beichte beenden kann, so fiel das dem andern nicht auf.
Nach einer Weile fuhr der fort, nachdem er nun dergestalt allein lebe, habe er wieder mehr für die Verbreitung ihrer gemeinsamen Ideen tun wollen. Und da sei ihm Hans eingefallen, daß er es in der Hand habe, der Sache einen wichtigen Dienst zu leisten.
Er wisse nämlich, daß er gelegentlich noch jenen Kurt besuche, den Schwager Hellers, den er gleichfalls an jenem ersten Abend kennen[230] gelernt. Wenn er nun dem auf seiner Schreibstube einmal sage, er wolle telephonieren bei ihm, so werde er und der andre den Raum verlassen, und er, nämlich Hans, bleibe allein. Dann könne Hans auf einer Wachstafel Abdrücke der Schlüssel machen, nach denen er selbst, der solche Künste gelernt habe, Nachschlüssel anfertigen werde; und wenn dann einmal gelegene Zeit sei, so würde er mit einem Freunde des Nachts das ganze unbewachte Geschäft öffnen und aus dem Geldschrank eine Summe nehmen, die seine Freunde in Rußland brauchten, um eine Druckerei anzulegen; und da keinerlei Spuren eines Einbruchs zu bemerken wären und man nicht erfahren könne, auf welche Weise das Geld verschwunden sei, so müsse dieser Plan ganz sicher auszuführen sein. Bedenken sittlicher Art aber werde er, Hans, doch wohl nicht haben, da man doch nur einem Ausbeuter nehme, was er zu Unrecht besitze, und das verwende für die Befreiung der Menschheit.
Wie Hans diese Rede hörte, wurde ihm wie durch einen Blitz sein eignes Leben und das Leben aller dieser Menschen erleuchtet, und wurde von tiefem Entsetzen fast geschüttelt, und war ihm, als müsse er den Russen niederschlagen in Entrüstung; und so sehr konnte er sich nicht bezwingen, daß der andre nicht seine Verfassung gemerkt hätte; die war aber derart, daß er in Angst geriet und verlegen wurde und dann plötzlich ging. Wie der andre fort war, kamen dem Hans die Tränen über sein Leben, er legte das Gesicht auf seine Arme und weinte bitterlich.
Aber noch nicht war die Zahl der Boten zu Ende, die ihm an diesem Weihnachtsabend geschickt wurden, nämlich der Brief der toten Luise und dieser Mensch, der sich eben vom Narren zum Verbrecher entwickelte; es kam noch ein Wort von der treuen Dienstmagd seiner Eltern, und das traf ihn am tiefsten.
Die Mutter schickte ihm zur Bescherung aus der Heimat ein Kistchen, in das sie allerlei gepackt, was sie nützlich für ihn meinte, denn Überflüssiges zu schenken war ihrer sparsamen Art zuwider, und auf dem Boden lag der Brief, der fest zusammengefaltet war; in dem schrieb sie, daß Dorrel gestorben war, und erzählte die Art ihres Hinganges, und was sie ihr aufgetragen für ihn. Denn nachdem sie ihrer Frau alle ihre Habe nochmals gezeigt und gesagt, daß dies alles Hans[231] erben solle, sagte sie: »Wie er zuletzt im Hause war, zum Tode seines Vaters, da fiel mir auf, daß sich sein Wesen verändert hat und daß seine Augen anders sind wie früher. Hierüber habe ich eine große Angst bekommen, aber als eine ungebildete Dienstmagd, die keine Kenntnis hat von einer Gelehrsamkeit, wagte ich ihm nichts zu sagen. Nun ich aber fühle, daß ich sterben werde, und ich hoffe, daß unser himmlischer Vater mich zu sich in sein Reich nimmt um seines Sohnes willen, so will ich versprechen, daß ich oben fleißig Fürbitte tun will für ihn bei Gott, damit der sich seiner erbarme und recht bald ihn frei mache aus seiner jetzigen üblen Verfassung.«
Es wohnte Hans bei braven und ordentlichen Leuten, die gleich ihm ein trübes Weihnachten feierten. Der Mann war ein Zuckerbäcker gewesen, und als ein fleißiger und ordentlicher Mann, der auch eine sparsame und häusliche Frau hatte, war er in seinen Verhältnissen recht vorwärtsgekommen. Die beiden hatten einen einzigen Sohn, den sie mit vieler Liebe erzogen, und vielleicht waren sie allzu nachsichtig gegen ihn gewesen. Sie hatten ihn auf die gute Schule getan, wo er als ein begabter und leicht auffassender Junge anfänglich rasche Fortschritte machte, aber wie er in die höheren Klassen kam, wurde er träge, hielt sich zu den leichtsinnigen und schlechten Schülern, und durch Rauchen und Trinken vergnügte er sich in einer Weise, die seinem Alter nicht zukam. So geschah es, daß er die Schule nicht beenden und dann studieren konnte, wie die Eltern gedacht, sondern er mußte aus der Sekunda abgehen. Da ließen sie ihn eine mittlere Beamtenlaufbahn ergreifen und brachten ihn bei der Steuerverwaltung unter, und waren sehr stolz, wenn er sie in seiner schmucken dunkelgrünen Uniform besuchte, zahlten auch viel Geld für ihn, denn er machte große Ausgaben, weil er immer sein und vornehm erscheinen wollte. Dann heiratete er frühzeitig die Tochter eines andern Beamten, die ein sehr schönes Mädchen war, und es wurde erzählt, sogar ein Offizier habe um sie anhalten wollen. Die war nun freilich nicht vermögend und wußte nicht gut hauszuhalten, sondern hatte ihre größte Lust am Putz und Vergnügen; aber da ihre Art der seinigen zusagte, so lebten sie doch recht unbekümmert und fröhlich zusammen.
Die alten Eltern gerieten in große Sorgen, wie sie dieses Leben[232] sahen und die großen Ausgaben merkten, und nachdem sie lange mit sich zu Rate gegangen, wie sie dem abhelfen könnten, besuchte am Ende der Vater seufzend seinen Sohn, ermahnte ihn zur Sparsamkeit, warnte ihn und sagte am Ende, wenn er vielleicht Schulden gemacht habe, so solle er sie ihm nennen, denn er wolle lieber für ihn bezahlen, als daß er ins Unglück komme. Und über die herzlichen Worte war der Sohn fast gerührt geworden, wie es leichtfertiger Leute Art ist, aber im Nebenzimmer hatte die Schwiegertochter alles gehört, die kam herein und schalt auf den alten Mann, sagte ihm, daß er ihr Leben nicht verstehe und sie beide beständig kränke und fügte noch viele bittere Worte hinzu über ihre vornehmere Herkunft und besseren Gewohnheiten. Über dieses alles wurde der Sohn beschämt, teils wegen seines Vaters, daß ihm der ins Gewissen geredet, teils wegen seiner Frau, weil die ihre Geburt gegen seinen Vater hervorhob; der Zorn aber, der aus dieser Beschämung entstand, richtete sich gegen seinen alten Vater, als der es gut gemeint hatte, und so wurde er heftig und verbot dem am Ende sein Haus. Da ging der gute alte Mann wortlos aus der Stube, küßte noch einmal den Enkel, und es flossen ihm Tränen über die Backen, und dann mied er seinen Sohn; dieser aber, da er sich schuldig fühlte, mied ihn gleichfalls.
Nun geschah es nach nicht langer Zeit, daß in der Kasse, welche der junge Beamte verwaltete, Unterschleife entdeckt wurden, denn weil sein Einkommen bei weitem nicht ausreichte für sein Leben, so hatte er erst Schulden gemacht, und wie die Schuldleute drängten, hatte er fremdes Geld angegriffen. So wurde er denn gleich verhaftet und ihm der Prozeß gemacht und zu Zuchthaus verurteilt. Die junge Frau, die doch mitschuldig an seinem Verbrechen war, gebärdete sich wie irrsinnig, beschimpfte ihren Mann vor andern Leuten und ließ sich von ihm scheiden als von einem Ehrlosen. Dann brachte sie das einzige Kind zu den Schwiegereltern und sagte denen, sie wolle eines solchen Mannes Sohn nicht erziehen, denn der schlage gewiß nach seinem Vater, und sie selbst wolle nun ein neues Leben anfangen, nachdem ihr früheres zerstört, nämlich sie habe eine große Begabung für den Gesang und wolle Künstlerin werden. Dann ging sie aus dem kleinen Orte fort, und es wurde erzählt, daß sie Sängerin in einer großen Stadt in einem[233] jener Häuser geworden sei, wo die musikalischen Darbietungen nur andre Dinge verbergen sollen.
Auch die Eltern verließen ihre Stadt, in der sie jung gewesen waren und gearbeitet hatten und alt geworden waren, und nahmen den Enkel mit sich, denn sie konnten die Schande nicht ertragen und meinten, in der Großstadt vermöchten sie sich am besten zu verbergen, daß sie niemand sähe, der sie gekannt, und daß das Kind ohne Vorwurf um seinen Vater aufwüchse.
Über dem allen waren nun Jahre vergangen, und das Kind hatte zugenommen an Größe und Verstand und sich zu großer Ähnlichkeit mit seinem Großvater entwickelt, war auch recht brav in der Schule und saß immer als einer der Ersten. So kam nun die Zeit heran, daß ihr Sohn entlassen werden mußte aus dem Zuchthause, dem Jungen hatten sie aber erzählt, er sei in Amerika. Und wiewohl der Vater ihn noch einmal gesprochen nach seiner Verurteilung und sie sich Briefe schrieben, so wußten sie nicht, ob er zu ihnen kommen werde, und hatten zwar große Sehnsucht nach ihm, aber der Vater wagte doch nicht, nach dem Orte seiner Strafe abzureisen und ihn dort zu empfangen, denn er fürchtete, daß ihm das wieder mißfallen möchte und ihn wieder verhärte. Deshalb waren jetzt ihre Herzen gespannt in Furcht und Hoffnung, denn gleich nach den Feiertagen waren die Jahre abgelaufen. So hatte nun dieses Weihnachtsfest für sie eine besondere Bedeutung. Und wie es oft geschieht, daß guten Menschen Not und Sorge das Herz offen machen für andere, wie bei bösen sie es verschließen, so sprach die Frau zu dem Mann, er solle zu dem Mieter hinübergehen und den einladen zu ihrem Weihnachtsbaum, denn sie hatte wohl gemerkt, daß er ein einsamer Mensch war, um den sich niemand kümmern mochte an diesem Abend. Aber als der Mann nun in seiner festlichen Kleidung anklopfte und endlich die Tür öffnete, da fand er Hansen ohne Besinnung im Zimmer auf dem Boden liegen, und neben ihm lag das geöffnete Kistchen von der Mutter, welches ein paar Schuhe enthielt, Strümpfe und Taschentücher, und ein Stück Honigkuchen.
Wie der Arzt kam, erkannte der schweres Nervenfieber und ordnete an, daß Hans gleich in ein Krankenhaus gebracht wurde. So geschah,[234] und war Hans die ganze Zeit besinnungslos, wie er im Krankenwagen gefahren wurde, und nur für einen Augenblick hatte er eine gewisse Klarheit, wie man ihn durch einen langen Gang trug, an vielen Türen mit Nummern vorbei. Der Mann zu seinen Füßen war ganz weiß gekleidet, und wie er sich umwendete, sah er, daß der andre Mann ebensolche Tracht hatte; das war ihm wunderbar, was das bedeuten mochte. Auch standen da zwei Krankenschwestern, von denen sagte die eine: »Und nicht einmal am Weihnachtsabend hat man Ruhe, das ist hier wie im Gefängnis.« Da vergingen ihm die Sinne wieder, aber um das Wort »Gefängnis« bildeten sich allerhand wirre und unfaßbare Phantasien, die ihm eine große Angst einflößten.
Nach seiner bestimmten Zeit kam Hans wieder zur Besinnung, aber da war sein Körper sehr schwach, und lag in großer Mattigkeit in einem Bett; seine Seele indessen war erfüllt von Bangigkeit, Reue und Angst, und erschien ihm sein Leben nutzlos verschleudert, und er meinte, daß er mit allem am Ende sei.
Dieses merkte die Pflegerin, die ihn besorgte, daß er nicht die friedliche und ruhige Stimmung des Gemütes hatte, die nach einer schweren Krankheit uns trösten soll und wieder ganz gesund machen. Deshalb fragte sie ihn, weshalb er sich verzehre, und hörte mit Geduld, wie er sich selbst anklagte. Da antwortete sie ihm, daß er sich aufrichten müsse und den Willen haben zu Kraft und Freude, und um ihm Mut zu machen, sagte sie, daß er sie selbst betrachten solle, wie sie ruhig sei und in Ordnung ihre Pflicht erfülle, und habe doch Schweres in ihrer Vergangenheit begangen, das sie ihm erzählte.
Ihr Vater war ein einfacher Mann gewesen, der in seiner frühen Jugend weit in die Welt gekommen war, und hatte da manches gesehen, davon in seiner Heimat niemand etwas bekannt war. Deshalb kehrte er nach Hause zurück mit einem wenigen von Geld, das er in der Fremde verdient, und tat sich mit einem reichen Bürger seines Ortes zusammen, einem Schlächtermeister, und mutete auf Kohlen. Und so hatte er Glück und fand reiche Kohlenlager, und war auch weiterhin verständig, indem er sich nichts abschwatzen ließ, sondern mit seinem Genossen sein Gefundenes selber ausbeutete, und gelangte auf[235] diese Weise zu großem Reichtum, daß er viele Zechen besaß und auch Eisenwerke baute und Bahnen anlegte; und ward seine Heimat durch ihn ganz verändert aus einem grünen und frischen Lande, wo Holzhauer wohnten und Gebirgsbauern, zu großen Orten mit düsteren Häusern und Straßen voll schwarzen Staubes und zu Luft voller Qualm der rauchenden Schlote, und zogen viele fremde Leute zu, und auch die Einheimischen arbeiteten bei ihm in Schächten und Hütten, mit Verdrossenheit und Unmut. Er selbst aber ward ein schweigsamer und stiller Mann, der des Morgens in der Frühe in seine Arbeitsstube ging, Briefe las und Antworten diktierte, und wenn er einen ansah von seinen Leuten, so war sein Gesicht seltsam zerstreut, denn er dachte an eine Zeche oder eine Schwankung der Preise; und seine Erholung war, daß er am Abend in das Klubhaus ging, wo auch seine studierten und seinen Angestellten sich erfreuten, da setzte er sich allein in eine bestimmte Ecke und hatte vor sich ein Glas eines bestimmten Weines und saß stumm da, spielte etwa einmal mit seinen Fingern. Dann ging er nach Hause und wanderte lang auf und ab in seiner Wohnstube, und am Ende legte er sich schlafen in seinem Schlafzimmer, das war eingerichtet mit fürstlicher Pracht. Er hatte als junger Bursche geheiratet, ein Mädchen seines Standes, die war an zehn Jahre älter wie er; von der hatte er zuerst keine Kinder, aber später bekam er mit ihr eine Tochter. Nun war er selbst mit der Zeit in Aussehen und Benehmen ein Mann geworden, wie wenn er immer in seiner jetzigen Lage gelebt hätte, und hatte auch auf seiner Wanderschaft fremde Sprachen gelernt und redete seine Muttersprache fast ohne Dialekt; die Frau aber konnte sich nicht recht in die neuen Zustände passen, denn nur, daß sie prunksüchtig wurde und zänkisch, sonst behielt sie alle ihre alten Gewohnheiten und Sitten bei. Das hatte den Mann nicht sehr gestört, solange das Kind nicht da war, denn er lebte wenig mit ihr zusammen; wie jedoch das Kind geboren war und einige Jahre alt wurde, da schied er sich von ihr, und sie zog weit weg, er aber behielt das Kind.
Nun wurde das Mädchen erzogen von teuren Erziehern, und am Mittag, wenn gegessen wurde, sah sie der Vater immer, denn sie mußte ihm gegenüber sitzen, sonst sah er sie aber nicht, weil er zu viel zu bedenken[236] hatte. Da wuchs denn das Kind auf, wie es mochte, denn die Erzieher wagten nicht, streng zu sein, und der Vater erfüllte ihr alle Wünsche, weil er sie so wenig sah und doch wollte, daß sie ihn lieb hätte, und wie er nicht mehr wußte, was einem Kinde recht und passend ist, so schenkte er ihr viel kostbares Spielzeug. Hierdurch gewöhnte sich das Kind, daß alles seinen Einfällen gehorchen mußte, und daß es teure Dinge für nichts achtete und keine Grenze fand für seine Wünsche, und das ganze Leben erschien ihm langweilig. So wuchs das Mädchen heran zu einem schönen Fräulein, und ihre Erzieherin redete ihr allerlei vor von der Liebe und von vornehmen Heiraten. Da kamen auch bald Freier von allerlei Art. Es wollte aber der Vater gern, daß sie einen jungen Mann ehelichte, der bei ihm diente in seinem Geschäft und tüchtig war in aller Hinsicht. Diesen ladete er oftmals zu Tisch ein und fragte seine Tochter, wie er ihr gefalle; da antwortete sie, daß sie ihn sich gar nicht recht angesehen habe; und wie er ärgerlich wurde über diesen Hochmut und ihr sagte, daß er selbst ein armer Arbeitsjunge gewesen, der mit einem Schnupftuchbündel in der Hand in die Fremde gezogen sei, da zuckte sie nur die Achseln, und er vermochte nichts weiter über sie, denn er mußte zu viel an seine Geschäfte denken und konnte deshalb ihr Wesen nicht erfassen.
Nun drängten sich um sie viele glänzende und vornehme Herren und schmeichelten ihr, und da sie unerzogen war und nicht bedachtsam, weil sie niemals auf Festes gestoßen war, so glaubte sie wörtlich alles, was ihr Schönes gesagt wurde, und ward noch hochmütiger; lieb gewinnen aber konnte sie niemand, in der Art, wie ihre Erzieherin ihr das geschildert hatte, die ein häßliches und armes Mädchen gewesen war, das immer sehnsüchtig zur Seite gestanden hatte; und am Ende dachte sie, daß sie ein Wesen von ganz besonderer Art sei, das beglücken könne, wen sie wolle, wie der Zufall aus den vielen Mitspielern einer Lotterie einen herausgreift, blindlings und ohne Grund. Da war nun in dem Kreise ein junger Offizier, der ganz arm war und von bürgerlicher Herkunft und nicht besonders ansehnlich, aber er hatte ein braves Gemüt und einen rechtlichen Charakter; der durchschaute wohl ihr Wesen, und weil er zudem bei so vielen glänzenden Bewerbern doch gar keine Aussichten zu haben schien, so hielt er sich ganz still und ruhig[237] im Hintergrunde und bekümmerte sich nicht um sie. Diesen nun, weil er allein von allen abseits stand, suchte sie gerade aus, denn für so hochstehend hielt sie sich, daß seine Unansehnlichkeit und der Glanz der andern vor ihren Augen ein ganz gleiches Verdienst hatten. Der Jüngling, der zuerst glaubte, daß sie nur mit ihm spielen wolle, zog sich noch mehr zurück, wie er ihre Annäherungen bemerkte, und das wiederum machte sie nur hartnäckiger, so daß er am Ende verspüren mußte, es sei ihr ernst mit ihrem Entgegenkommen. Da verfiel er der menschlichen Schwachheit, daß die Hoffnung, welche derart in ihm erweckt wurde, ihm einen glänzenden Schleier vor ihrem Bilde ausbreitete, daß er die Fehler und Mängel nicht mehr sah, die er früher recht scharf bemerkt, denn er war auch stolz und kannte seinen Wert in seinem geringen Äußern, und es schien ihm ein Besonderes von ihr, daß sie ihn unter den andern nun herausgefunden hatte; so meinte er denn, daß sie in einer glücklichen und redlichen Ehe ihr voriges Wesen bald ändern werde, das ihr ja nur äußerlich angeflogen sei. Und auch ihr Vater wurde getröstet über ihre Wahl, denn er hoffte, daß er aus diesem jungen Mann sich werde einen Nachfolger erziehen können. Derart wurde dann die Hochzeit der beiden gefeiert; aber schon an dem Tage der Feier und vor der Trauung kam zwischen den beiden der erste Streit, um eine geringe Kleinigkeit, und die Braut, die schon festlich geschmückt war und nur noch des Kranzes harrte und des Schleiers, zog den Ring vom Finger und warf ihn auf die Erde. Da wendete sich der Bräutigam und wollte zur Tür hinausgehen; aber schon hatte er eine zu große Liebe gefaßt, daß er nicht mehr sich trennen konnte, deshalb kam er zurück, hob den Ring auf und gab ihn ihr wieder mit bittenden Worten.
Nun führten die beiden eine recht unglückliche Ehe, denn der Mann war ernsthaft und wollte lernen, damit er später alles leiten könnte, wenn sein Schwiegervater einst tot wäre; die Frau aber verspottete und kränkte ihn, und er war ganz weich in ihrer Hand und konnte ihr nicht antworten, wie er gemußt hätte; und sie selbst war dabei ohne Tröstung und langweilte sich, weil sie nicht wußte, was sie wollte. Ihr Vater indessen gewann mit der Zeit den Mann lieb wie seinen Sohn, denn er war viel um ihn, und waren beide vom gleichen Schlage; deshalb[238] sagte er ihm, er solle sein Weib gehen lassen, wie sie wolle, denn es sei ja auch eine Torheit, wenn man sich Ruhe wünsche und Zufriedenheit, weil kein Mensch die erreichen könne, außer etwa in ganz jungen Jahren, wo man nur seine Sehnsucht vor sich habe und nicht die Wirklichkeit. So wurde denn der Mann zu einem Menschen, wie der Alte war.
Inzwischen waren noch viele Verehrer um die Frau, die wohl sahen, daß sie unglücklich war, und ihr weiter schmeichelten und sich kränken ließen von ihr. Da fiel es ihr ein, aus Hochmut und Überdruß, und weil sie ihren Vater und Mann beleidigen wollte, daß sie sich einen Liebhaber aussuchte; das war ein windiger junger Mensch, der ein groß Wesen machte von sich, aber von Schulden lebte und von niemand geachtet wurde; mit dem ließ sie sich ein, denn es war ihr recht, daß er sie in wunderlicher Weise vergötterte, wie es wohl in törichten Büchern beschrieben wird. Ihr Mann und Vater merkten nichts von dem Wesen, trotzdem sie recht offen war, denn die hatten ihre Arbeit und dachten nicht an weiteres, sie aber trieb es so weit, daß sie ein Kind bekam, und ihr Mann meinte, es sei sein Kind, und freute sich über das Söhnchen, und ihr Vater hoffte, daß es auf einen von ihnen beiden schlagen möge und nicht auf die Mutter. Danach entzweite sie sich mit dem leichtfertigen Menschen, denn der wurde von den Gläubigern gedrängt und war in seiner beständigen Angst gegen sie nicht mehr so aufmerksam gewesen wie vorher; lieb gehabt aber hatte sie auch ihn nicht.
Nun geschah es, daß die beiden Männer eine Erholung haben wollten von ihrer schweren Arbeit, kauften sich eine Lustjacht und machten mit der Frau und dem Kinde eine Seereise. Wie sie unterwegs waren, bezog sich an einem Nachmittag der Himmel und kam Regen und stürmisches Wetter, so daß sie alle nach unten gingen in die Kajüte, indessen die drei Leute, welche das Schiff bedienten, auf dem Deck arbeiteten. In der engen und dumpfen Kajüte aber befiel sie alle eine eigne Gereiztheit, und sie begannen sich untereinander Vorwürfe zu machen, indessen draußen die Wogen wunderlich gingen; da warf der Vater der Tochter vor, daß sie an nichts Freude habe und keinen Menschen liebe, und die Tochter sprach gegen den Vater, daß er immer nur[239] an sein Geschäft denke und sich nicht um sie bekümmere, und wie der Mann gut zureden wollte, da höhnte sie den, daß er nichts verstehe, wie in seiner Schreibstube sitzen, und auch der Mann wurde heftig und sagte, daß er ihr Herr sei; inzwischen war der Knabe, der damals dreijährig sein mochte, ängstlich geworden und schmiegte sich an den Vater; die Frau aber geriet in einen maßlosen Zorn und schrie, niemand sei ihr Herr, und indem der Mann das Kind halten wollte, weil das Schiff sehr schaukelte und er Furcht hatte, der Sohn möchte fallen und sich verletzen, da rief sie, das Kind gehöre ihr und nicht ihm, denn sie habe es von einem andern.
Wie sie diese Worte in blindem Haß hervorgestoßen hatte, taten sie ihr leid, denn die beiden Männer wurden ganz bleich, aber in dem Augenblick rief das Kind in großer Angst ihren Namen, und da fielen sie alle um von einem starken Stoß und rollten durch die enge Kajüte und konnten sich nur mit großer Mühe wieder aufrichten, aber wie sie sich aufgerichtet hatten, da waren der festgeschraubte Tisch und Stühle über ihren Köpfen in der Luft, und das Geschirr, das auf dem Tisch gestanden, lag auf dem Boden mit samt dem Tischtuch, und nach einer Weile sagte der Vater, daß das Schiff gekentert war. So trieben sie nun auf der See mit dem Kiel nach oben und das Deck war unter dem Wasser, und das Wasser drückte und klopfte gegen die Decke der Kajüte und klatschte gegen die Tür, und in solcher Lage erhielt sich die Jacht durch die eingepreßte Luft, die nicht hatte entweichen können, weil sie so ganz schnell umgeschlagen war, die Männer aber, die oben gewesen, waren fortgeschwemmt und ertrunken. Erst langsam wurde den Eingeschlossenen das klar, denn sie hatten eine große Angst. Es quoll auch bald Wasser von unten, denn das beständige Schlagen der Flut machte die Bretter locker, und so mußten sich denn die Menschen beizeiten umsehen, wo sie sich besser sicherten, und da sie nicht hinausgehen konnten aus dem kleinen Raum, denn vor der Tür war ja Wasser, so blieb ihnen nichts, als daß sie sich recht hoch machten. Deshalb schwang sich der Mann erst auf den Tisch, der oben festgeschraubt war in dem früheren Boden und prüfte die Haltbarkeit, und dann hob er die Frau hoch mit dem Kind und half dem Vater. Wie das geschehen war, suchte er auf dem Boden nach Essen und fand einige Brötchen[240] und Zwiebäcke und ein Töpfchen mit Eingemachtem, das reichte er alles hinauf, und dann las er noch die Messer und Gabeln auf, die herumlagen, denn mit denen wollte er oben eine Diele entfernen, damit sie noch höher kommen konnten in den hohlen Kielraum des Schiffes. So schnitt er erst den Fußteppich durch und machte sich dann daran, mit dem unpassenden Werkzeug die Schrauben herauszuschneiden, welche die Dielen auf den Sparren festhielten; denn aufdrehen konnte er sie nicht, weil er dabei sein Messer zerbrach. Über diesen Anstrengungen verspürten sie, wie das geringe Licht, das von unten durch das runde Fenster im Wasser kam, immer geringer wurde, denn es waren ja auch nur wenige Lichtstrahlen, die durch die schaumbedeckten Wellen bis zu dem Fenster drangen; und dazu stand unten das Wasser in der Höhe von mehreren Fuß in der Kajüte, auf dem lustig eine Schachtel mit Streichhölzern und zwei Korke schwammen; die Luft aber wurde immer verbrauchter und schien immer schwerer zum Atmen, entwich auch an einer Stelle durch den Druck des Wassers unten mit einem leisen Pfeifen, und dadurch stieg das Wasser in dem Raum langsam immer höher. Die beiden Männer arbeiteten fleißig, und der alte Mann hatte einen Überschlag gemacht, daß bis zum andern Morgen die ganze Luft aus dem Raume entwichen sein mußte und das Wasser bis oben stand und sie alle erstickte, wenn sie nicht die Diele bis dahin gelöst hatten und sich in den Kielraum retten konnten, der aber würde wohl immer über dem Wasser bleiben, weil er ja durch das viele Holzwerk unten getragen wurde.
Wie es nun gänzlich Nacht geworden war und sie alle sehr müde waren, beschlossen sie, daß sie eine kurze Weile schlafen wollten, um neue Kräfte zu schöpfen, und der Vater erbot sich zur ersten Wache und wollte inzwischen weiterarbeiten im Dunkeln, und die zweite Wache sollte der Schwiegersohn übernehmen. So taten sie; aber nach einer unbestimmten Zeit schreckte der Mann aus dem Schlafe auf und hörte nicht mehr das leise Geräusch des arbeitenden Messers, das kleine Späne loslöste, da wußte er, daß der alte Mann ertrunken war, und deshalb arbeitete er allein weiter. Es erwachte dann auch die Frau durch große Beklommenheit des Atmens, und das Wasser klatschte schon leise an die Platte des Tisches, auf dem sie saßen. Indessen war[241] es dem Manne gelungen, daß er die Schrauben der einen Diele an seiner Seite herausgeschnitten hatte, und nun riß er die Scheuerleiste fort und faßte vorsichtig mit zwei Gabeln von beiden Seiten, um sie zu biegen, bis er sie mit den Händen fassen konnte; und indem die Frau half, gelang es auch, daß sich die Diele so weit bog, und nun begriff er sie und riß an ihr mit aller Kraft, daß sie in der Mitte abbrach und über ihnen eine schmale Öffnung in den Kielraum wurde. Aber durch das Gegenstemmen hatten sich zwei Schrauben gelöst, durch welche die Tischbeine befestigt waren, und der Tisch glitt schräg ins Wasser. Die Frau hielt sich noch an der Diele über ihnen fest und schwang sich durch die gebrochene Öffnung in den Kielraum, das Kind aber war ins Wasser gerollt, und der Mann wollte das Kind retten und stürzte sich nach, aber er stieß mit dem Kopf gegen etwas, tat einen lauten Schrei und kam nicht wieder, und auch das Kind ist ertrunken.
Nun kauerte die Frau oben im Kielraum vor der Öffnung, und der kalte Hauch des Wassers drang zu ihr empor. Nach langer Zeit kam eine geringe Helligkeit in das Wasser unten; da war es noch höher gestiegen, und wie sie genau zusah, erblickte sie unter sich eine Hand mit gekrampften Fingern.
Wie sie gerettet war und sich erholt hatte von allem, was sie ausgestanden, verspürte sie, daß eine Wandlung in ihr vorgegangen. Vornehmlich hatte sie jetzt den Wunsch, daß sie etwas tun wollte, aber der war ihr nicht gekommen durch Ängste des Gewissens, Reue und Absichten von Buße, sondern ohne einen andern Grund, nur weil sie ein neuer Mensch geworden war. Deshalb überlegte sie sich alles, ihr früheres Leben und seine Bedingungen, da fand sie, daß ganz notwendig alles so geschehen mußte, wie es wirklich geschehen war, und sie selbst hatte keine Schuld und auch andre nicht. Denn ihr Vater konnte nicht leben, wie er wollte, sondern war einem Zwange unterworfen, daß er immer an seine Arbeit denken mußte und keine andern Gedanken haben durfte. Und da er nun in einer andern Klasse der Gesellschaft lebte wie vor her und sein Kind auch in dieser Klasse leben mußte, so konnte er seine Frau nicht behalten; deshalb war es nötig, daß er sein Kind Fremden anvertraute, die aber waren arme Menschen, welche gänzlich von dem Kinde abhingen, deshalb vermochten sie ihm[242] nicht zu widerstehen. So war sie denn zu einem solchen Wesen geworden, wie sie bis dahin war, und nur das blieb zu verwundern, daß sie nicht noch Schlimmeres getan. Nun aber wollte sie einen neuen Weg gehen, und da schien es ihr das beste, wenn sie Krankenpflegerin würde, weil sie da wirklich tätig sein konnte, denn alle Untätigkeit war ihr jetzt ein Ekel. So lebte sie nun schon seit einigen Jahren und war sehr ruhig und genoß dasjenige Maß von Glück, das ihrer besonderen Art bestimmt war und wohl freilich nicht sehr groß sein mochte.
Dieses alles erzählte die Schwester dem Hans, und der wunderte sich sehr über ihren Frieden. Aber nachdem er ihre Geschichte lange bedacht hatte, da fand er am Ende doch, daß sie wohl ein andrer Mensch war wie er; denn wiewohl er sich viele Mühe gab zu Ruhe, so hatte er doch beständig Gewissensbisse und Selbstvorwürfe, und das Leben erschien ihm ganz schwierig. So sah er ein, daß die Gottlosen leichter leben wie die, so an Gott glauben, und ergab sich ihm, daß wir höher kommen sollen dadurch, daß wir an Gott glauben, denn wenn uns das Leben schwierig wird, so steigen wir indessen auf einen hohen Berg, wo die Luft härter und reiner ist, und die Arbeit der Menschen ist tief unter uns, die sie treiben, damit sie ihr fleischliches Leben erhalten.
Die meisten der Pflegerinnen hatten keine Geschichte gehabt und waren nur so gewöhnliche Menschen, die mit Widerwillen ihre Aufgabe erfüllen; aber noch eine andre Schwester wurde für Hans merkwürdig, denn die bildete ein Gegenstück zu jener ersten. Deren Erlebnis war folgendes gewesen:
Sie war als Tochter eines höheren Beamten geboren, und ihre Eltern lebten in beständigen Sorgen, weil ihre Mittel zu gering waren, um den Aufwand zu befriedigen, den sie für nötig hielten. So wurde sie schon frühe gewöhnt, überlegend und sparsam zu sein und nach außen doch eine gewisse Unbefangenheit zu zeigen, und ihr Wunsch war von Jugend an, sie möchte einmal ein recht tüchtiger Mensch werden, damit sie ihrem späteren Mann in ihrer Art behilflich sein könne.
Wie sie noch jung war, bewarb sich ein recht gut gestellter Mann um sie, ein Rechtsanwalt, der sie an Jahren ziemlich übertraf, und auf das Zureden ihrer Eltern heiratete sie den, wiewohl sie keine besondere[243] und außergewöhnliche Zuneigung zu ihm verspürte; aber ihre Mutter hatte ihr in vertraulicher Weise gesagt, daß wohl überhaupt nur wenigen Menschen das Glück einer wirklichen Liebe werde, die man sich vorstelle in der Jugend. Sie gewann mit der Zeit den Mann auch in ruhiger und einfacher Weise lieb, denn er war gut zu ihr und sehr zuverlässig und tüchtig, daß jeder vor ihm Achtung haben mußte. Kinder indessen bekam sie nicht von ihm. Nun stellte es sich aber heraus, daß sie einen verschiedenen Willen hatten über das, was die Frau tun soll, denn sie hatte gemeint, daß sie eine rechte Tätigkeit haben werde in Leitung des Hausstandes, guter Wirtschaft und umsichtiger Fürsorge; er aber, da er keine Kinder hatte und viel verdiente, wollte gar nicht, daß seine Frau so viel Eifer auf diese Dinge verwendete, denn er mochte lieber, daß sie sich schön putzte und darauf sann, wie sie ihm allerhand Spiel und Gaukelwerk vormachte, wenn er von seiner Arbeit kam. Und ferner hatte sie gemeint, daß die Frau mit dem Mann viel Ernsthaftes reden werde und von ihm manches lerne, er aber war nicht zu gründlichen Gesprächen mit ihr aufgelegt, sondern wendete alles zu Scherz und Kurzweil, wenn er mit ihr war. Hierüber wurde sie recht traurig und fühlte sich ohne Glück und Befriedigung und empfand eine große Langeweile und zuweilen sogar einen Ärger über ihren Mann.
Als dieses so ging, kam in das Haus ein Verwandter des Mannes, ein junger Herr, welcher seine Universitätsstudien beendet hatte und auch seine ersten praktischen Jahre und nun als junger Assessor bei seinem geschickten und klugen Oheim noch lernen wollte. Dieser hatte viel Liebe zu aller Art von Kunst und Dichtung und hatte auch über die Fragen unsers gesellschaftlichen Lebens nachgedacht und besonders über die Bestrebungen der Frauen, die heute mehr Selbständigkeit und Beachtung wünschen. Da geschah es bald, daß er mit der Frau in eifrige Gespräche kam, und lieh ihr Bücher, erzählte ihr von allem, was heute geschieht und was viele denken, und sie stritten oft miteinander; und weil sie beide gute und harmlose Menschen waren und auch der Mann ohne Arg war, so dachte keiner von ihnen, was aus diesem entstehen konnte. Am Ende aber kam die Frau als erste zur Klarheit, was ganz plötzlich geschah, es wurde nämlich ihr Mann unvermutet[244] von einer elektrischen Bahn überfahren und in solchem Zustand ins Haus gebracht, daß sie zuerst meinte, er sei tot, da verspürte sie plötzlich, daß sie den Jüngling liebte, und in heftiger Verzweiflung kamen ihr die Tränen aus den Augen; der Mann war aber nur leicht verwundet gewesen und genas wieder nach einiger Zeit. Da beschloß sie, wie er wieder ganz gesund war, daß sie ihm alles sagen wollte, ging zu ihm und erzählte von Anfang an und schloß, daß sie eine Liebe zu dem andern gefaßt habe. Hierüber wurde der Mann sehr bekümmert, wie er aber sah, daß sie selbst so verzweifelt war, tröstete er sie und machte ihr Mut, sagte ihr, daß er sie liebe und schonen wolle, und sie werde die Neigung überwinden, und alles werde wieder gut sein, wie es früher war, und darauf ging die Frau aus dem Zimmer und war in getroster Hoffnung, daß alles so geschehen müsse, wie der Mann gesagt.
Der aber ließ sich alles noch eine Weile durch den Sinn gehen, und dann verblaßte ihm die Rede seiner Frau und schien ihm nach einiger Zeit ganz unwichtig, denn sie schämte sich auch und sprach nie wieder zu ihm von dem vorigen, und ihre Scheu bemerkte er nicht. Deshalb tat er nichts, um das Verhältnis zu ändern, das bis dahin bestanden, sondern ließ alles beim alten, und der Jüngling war nach wie vor in ihrer beider Nähe. Und sie verschloß sich immer mehr innerlich und hatte eine große Angst und fühlte sich einsam und ohne Schutz.
Wie sie nun in diesen Gesinnungen sich von dem Jüngling ferner hielt wie sonst, da kamen auch diesem neue Gedanken, und es wurde ihm bewußt, daß auch er seinerseits eine Neigung gefaßt habe, und so erklärte er sich die Zurückhaltung der Geliebten so, daß er meinte, sie habe etwas von seiner Neigung verspürt und sei etwa gekränkt und beleidigt, und über diesem Gedanken wurde er recht unglücklich und härmte sich ab mit Vorwürfen. Und wie sie beide auf solchem Wege waren, da geschah es nach einiger Zeit mit Notwendigkeit, daß sie zueinander sprachen, und am Ende wuchs dem Jüngling die Kühnheit, und er gestand mit Worten seine Liebe. Da erhob sie sich, sah ihn zärtlich an und ging von ihm auf ihre Stube und hatte da einen Dolch heimlich verborgen, eine altertümliche Waffe, die sie einmal in Italien gekauft hatte aus Freude an dem kunstvollen Griff und in romantischer[245] Spielerei, den stieß sie sich in die Brust, und sie stieß ganz sicher, und um ein Haar wäre sie da gleich gestorben, aber durch einen glücklichen Zufall und später durch die Kunst eines geschickten Arztes blieb sie doch am Leben und genas langsam wieder, indem sie in ihrem Stübchen am Fenster saß und sehnsüchtig in die frühlingsblühenden Bäume vor ihrem Hause blickte. Und war in dieser Zeit ihr Mann sehr gut zu ihr, brachte ihr viele Geschenke von kostbaren Kleiderstoffen und schönem Schmuck und klagte, daß er sich ihr nicht so widmen könne, wie er möchte, weil seine Arbeit ihn festhielt; von dem jungen Vetter aber erzählte er nie, der war fortgezogen in eine andere Stadt.
Wie sie nun wieder ganz gesund war, setzte sich der Mann öfter mit ihr zusammen und besprach mit ihr solche Dinge, über die sie mit dem Jüngling geredet hatte, mit ihm aber früher nie, denn mit ihm hatte sie nur Kindereien getrieben. Aber er war viel klüger und erfahrener wie der junge Mann und stammte aus einer älteren Zeit, die einen andern Glauben hatte, und so stimmten seine Worte nicht zu den Worten seiner Frau und waren wie die eines Lehrers zu einem widerwilligen Schüler. Hierüber kam es, daß sie einen neuen Entschluß faßte und aus ihres Mannes Haus ging bei der Nacht und in die Stadt reiste, wo der Neffe lebte in einem Studentenstübchen unterm Dach. Den suchte sie auf in seiner Wohnung und sprach, sie wolle mit ihm leben.
Es wurde nun viel Übles geredet, und das Gericht schied sie von ihrem Manne, und sie dachte, daß sie jetzt den Geliebten heiraten wolle, auch war alles schon vorbereitet für dieses Ende. Da geschah es, daß sie an einem Abend mit ihm ausging, und er führte sie an seinem Arm, sie gingen aber eine breite Straße, wo viele Geschäftsläden waren, in denen große Spiegel stehen, welche die Auslage sollen reicher erscheinen lassen; und die Spiegel stehen häufig so, daß man sich in ihnen ganz genau erblickt, wenn man vorbeigeht, und es ist, als komme man sich selbst entgegen. So sah sie auch sich selbst am Arm ihres Geliebten, und durch einen Zufall erblickte sie neben dem ein sehr schönes Mädchen, das etwa einen Schritt vor ihm ging. Da fiel ihr auf, daß sie älter war wie der Mann, und dachte, daß sie ein Unrecht tue, indem sie ihn heiraten wollte, und er werde die Heirat später bereuen. Sie[246] sagte aber nichts, sondern ging ruhig weiter; nur machte sie sich zu Hause heimlich zurecht, schrieb ihm einen Brief zum Abschied und reiste von ihm fort, und weil sie nirgendshin wußte, denn alle hatten sie ausgestoßen, so ging sie in eine Gesellschaft von Krankenschwestern, lernte bei denen mit großem Eifer und war nun am Ende in das Haus gekommen, wo Hans jetzt krank lag.
Diese hatte eine ganz andere Gemütsart wie jene erste, denn sie lebte in beständiger Gewissensnot und tat viel um ihrer Seele willen. Es kam aber wohl alles, was sie tat, aus ihrer Güte und Liebe, und deshalb übte es eine gute Wirkung; sie selbst aber hatte dabei immer das Ende vor sich, daß sie eine Qual und Überwindung haben wollte, deshalb ging sie zu denjenigen Kranken, welche die widerwärtigsten schienen, und so hatte sie eine wahrhafte Buße.
Weil nun Hans doch seine Seele gesund machen wollte, so sprach er auch mit dieser über seine Furcht und Gedanken. Da antwortete sie ihm, daß sie ruhig sei und keine schweren Gedanken habe, wenn sie etwas Mühseliges und Widerstehendes tue, das in Wahrheit ein Opfer sei; wenn sie aber äußerlich wohllebe, so könne sie nach einiger Zeit ihre Gedanken nicht mehr aushalten, die sich untereinander anklagen und verteidigen.
Hierdurch wurde es Hansen klar, daß auch diese Frau wohl den Weg gefunden habe, der für sie selbst gangbar sei, aber für einen andern Fuß war der nicht geschaffen, denn es war ja klar, daß diese Frau ihre Geschichte nicht verwinden konnte wie die erste, sondern sie vermochte sich nur für eine Zeit zu betäuben; er aber wollte ein freier Mensch werden, der nicht von Furcht, Hoffnung und Geschichte abhing, sondern jede Handlung wollte er immer als ein Neuer und Frischer tun; nur konnte er zu diesem Wesen nicht auf die Weise kommen wie die erste Frau, sondern es mußte eine besondere Weise für ihn geben. Wie er in dieser Verfassung lag und vieles grübelte hierüber, besuchte ihn der alte Mann, bei dem er gewohnt, und der ihn hatte einladen wollen zu seiner Weihnachtsfreude, als er ohnmächtig in seiner Stube auf dem Boden lag. Der erzählte allerlei mit fröhlichem Gesicht, was sich ereignet unter den kleinen Leuten, die in dem Hause lebten; und am Ende konnte er es nicht mehr verschweigen, was er vornehmlich[247] auf dem Herzen hatte und doch nicht gleich zu Anfang sagen wollen, aus Bescheidenheit, weil er sich nicht mit seinen eignen Angelegenheiten vordrängen mochte, denn sein Sohn war zurückgekommen aus dem Zuchthaus, wo er Wolle gesponnen hatte, und hatte einen kahlen Kopf gehabt und ein rasiertes Gesicht, und hatte sehr blaß ausgesehen, und die Augen lagen ihm tief. Er war eingetreten, und die Eltern hatten ihn zuerst nicht erkannt, da sagte er: »Wollt Ihr mich denn verstoßen?« Da erkannten sie ihn an der Stimme und sprangen auf vom Stuhl und freuten sich, ihm aber rollten große und runde Tränen aus den Augen über die abgehärmten Backen, und mußte sich auf das Sofa setzen, und die Mutter lief gleich in die Küche und kochte ihm Schokolade, die hatte er als Kind immer gern getrunken, und der Vater sprach mit ihm von den Ernteaussichten und klagte über die Fleischpreise, denn er wollte sich anstellen, als sei nichts Bedeutsames geschehen. Dann kam der Knabe aus der Schule, und wie der seinen Vater sah, der so lange in der Fremde gewesen war, da freute er sich und kletterte an ihm in die Höhe, denn er war ein dreister Junge, und von seines Vaters Schande wußte er nichts. Alles das erzählte der alte Mann und freute sich über seines Sohnes Heimkehr, der im Zuchthaus gesessen hatte und hatte Wolle gesponnen, und mehrmals sagte er: »Er hat uns doch nicht vergessen in den Jahren, und alles wußte er noch, wie es früher gewesen war, als wir ihn noch bei uns hatten.«
Das war Hansen wunderlich, daß der alte Mann sich so freute und gar keinen Vorwurf hatte, sondern nur zu rühmen und zu loben wußte. Da fiel ihm das Evangelium vom verlorenen Sohn ein, der hatte die Säue gehütet und machte sich auf und kam zu seinem Vater. Wie er aber noch ferne von bannen war, sah ihn sein Vater und jammerte ihn, lief und fiel ihm um seinen Hals und küßte ihn. Und als Hans an dieses dachte, da ging es ihm wie Schuppen von den Augen und sank ihm wie eine Last von den Schultern, und sein Herz ward leicht, und er wußte, daß wir einen Vater im Himmel haben, der uns lieb hat und sich freut, wenn wir zu ihm kommen, keinen Vorwurf sagt, sondern uns rühmt und lobt und spricht: »Laßt uns fröhlich sein, denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden, er war verloren und ist gefunden worden.« So geschah in einem Augenblick die Wendung[248] in Hansens Leben und wurden seine Jünglingsjahre abgeschlossen, denn nun sah er einen ebenen Weg vor sich, der durch Tage ruhiger Arbeit zu einem friedsamen Alter führt. Da wußte er, daß auch die Not und Sorge nötig gewesen war, und aller Irrtum und das überflüssige Grübeln, nicht zu dem Ende freilich, das er damals gemeint hatte, zu einer abschließenden Erkenntnis zu kommen, denn was half es ihm, daß er wußte: Nach der letzten Denker Meinung ist mein Ich kein Wesen, sondern ein Geschehen, eine Beziehung, eine mittlere Linie aus subjektlosen Willensenergien; sondern zu dem Ende, daß er gänzlich die jugendbegehrliche Vorstellung von Gott abstreife, als einem Wunschwesen, von dem man allerlei erbittet, und die neue gewann, daß er so wenig Wesen ist wie ich selber, und doch mein lieber Vater im Himmel ist, der sich freut über meine Heimkehr.
Und wie das scheinbar zufällige äußere Wesen das innere umhüllt als sein rohes Abbild, so kamen nun auch die äußeren Ereignisse, die den Übergang zum Mannesalter bestimmen.
Die Tröstung, die Hans gewonnen hatte aus dem Evangelium vom verlorenen Sohne, wirkte darauf, daß er sich schnell kräftigte und von Tag zu Tag zunahm an Stärke und Freude. So geschah es, daß er bald sein Krankenstübchen verlassen konnte, dessen Wände eng waren mit einer ganz hohen Decke, und ging in den allgemeinen Saal hinunter. Hier saß er in einer seligen Müdigkeit am offenen Fenster, und frische Luft wehte an seinem lächelnden Gesicht vorbei in das große Zimmer, wo viele saßen und leise miteinander sprachen.
Da öffnete sich die Tür gegenüber, und in dem Luftzug blähte sich die Gardine auf, und wie Hans zur Seite blickte, sah er in der Türöffnung eine Krankenschwester stehen in der schwarz und weißen Tracht, die einen Blick hatte, der über vieles Nahe und Kleine hinweg in die Ferne zu schauen schien. Für einen kurzen Augenblick traf dieser Blick in seine erstaunten Augen, dann wendete sich die Schwester langsam und war wie unschlüssig und ging wieder zurück, woher sie gekommen, und die Tür schloß sich hinter ihr; auf deren weißen Fläche aber hob es sich deutlich ab wie ein leichter Schatten der Entschwundenen, welcher in dem Geiste Hansens gewesen war und nun von den körperlichen Augen gesehen wurde.[249]
In Hansens Herz fiel eine schwere Ahnung, daß hier eine Schicksalswendung des äußeren Lebens begann, und auch das Mädchen hat in jenem Zusammenstoßen des Blickes ihr Herz erbeben fühlen. Nach der Zeit erfuhr er, daß das Mädchen jene Gräfin Maria war, mit welcher er als Kind gespielt hatte in dem Forsthause seines Vaters. Die hatte bei ihrer Arbeit nicht gefunden, was sie erwartet. Eintönig ging das Leben hin zwischen gewöhnlichen Menschen, die nur an die kleinen Sorgen des Lebens dachten, und deren Aufschwung nur etwa einmal ein gemeines Vergnügen war, in dem sie sich von der Gleichmäßigkeit der täglichen Pflicht erholten. So kam sie dahin, daß sie ganz allein war und sich fremd fühlte zwischen den andern, wie sie sich schon zu Hause fremd gefühlt hatte, und weil sie nichts andres wußte, so meinte sie am Ende, das müsse so sein, und es gebe keine Gemeinsamkeit mit andern, und ein jeder Mensch sei ein tiefer Brunnen, den eine Mauer umzieht, der kann die Wolken wohl spiegeln und das tiefe Blau des Himmels und die goldenen Sterne, aber weiß nichts von den andern Brunnen im Garten, die schweigen, wie er selbst schweigt, und ihr dunkles Auge blickt sehnsüchtig in den hohen Himmel. Und so war sie zu der Meinung gekommen, daß wir zwar in unsrer Jugend glauben, es sei ein Glück und ein Ziel unsres Lebens für uns bereitet irgendwo, aber das ist nur ein Glaube unsrer Jugend, der bewirkt, daß wir wachsen und groß werden, und dann ist er nicht mehr notwendig und verschwindet in Dunst vor unsern Augen. So war sie zu dem Punkt gekommen, wo die Liebe das größte Glück für sie werden mußte, denn die zeigte ihr ein Ziel und Ende des Lebens.
Und desgleichen war Hans nun auf diesem Punkt, denn er war ein Mann geworden, und nun mußte er Weib und Kind haben und eine Stelle in der Gesellschaft, wo er arbeiten konnte mit den Kräften, die er in den Jünglingsjahren sich erworben hatte.
Unterdessen fand auch Karl den Hafen, in dem er jene Art von Ruhe haben sollte, die für ihn bestimmt war.
In Italien traf er ein Kloster, das ganz abseits lag von der Straße, in einem großen Frieden einer Landschaft, die mit weiten Zügen das Auge wunderbar beruhigte, daß ein Mensch keine Sehnsucht[250] mehr empfand. Da war ein heimlicher und stiller Kreuzgang um einen kleinen Hof, in dessen Mitte wuchs ein uralter Ölbaum in tiefem Frieden, dessen Blätter doch die salzige Luft atmen mochten, die vom Meere her über das Dach der Kirche wehte in diese Ruhe und Abgeschlossenheit. Vor vielen Jahrhunderten war der Baum gepflanzt und waren die zierlichen Säulen des Kreuzganges gemeißelt von liebevollen Händen nach Gedanken voller Gestalten und Bilder, und damals war wohl lebendig, jung und bunt gewesen, was heute so beruhigte und freundlich machte, als ein abgeklärtes Alter. An drei Seiten, denn auf der vierten lag die Kirche, führte Tür neben Tür jede in ein kleines und abgeschlossenes Häuschen mit einem winzigen Garten, umgeben von hoher Mauer; in jedem Häuschen wohnte ein Mönch still für sich, der die Blumen seines Gartens pflegte und Bücher las, alte Bücher, in Pergament gebunden und mit großen Schließen, die auf den Seiten bunte Anfangsbuchstaben hatten, und oft waren die Anfangsbuchstaben vergoldet. Wenn die Glocke erklang vom Turm der Kirche herab, dann kam jeder aus seiner Tür, in seinem weißen Gewande, und mit freundlichem Lächeln begrüßten sie einander durch wortloses Neigen des Hauptes und gingen in den dämmernden Chor in die hohen geschnitzten Stühle, beteten und sangen. Und wie über dem gewundenen Ölbaum die Jahrhunderte still hingezogen waren, daß es schien, als seien sie kurze Tage gewesen, denn in gleicher Ruhe lächelte der helle Himmel auf ihn nieder, und in gleicher Stille wehte die salzige Luft über das Dach der Kirche, so war noch heute der Zug der weißgekleideten Mönche wie zu der Zeit des heiligen Benedikt, und waren die Jahrhunderte still hingezogen wie freundliche Sommertage, indessen draußen in der Welt Unruhe gewesen war, Krieg, Aufstand, Gewissenszweifel, Umsturz, Neues und wieder Neues; nur daß die uralten Säulchen der Kreuzgänge nicht mehr an Jugendfrische denken mochten und an bunte Keckheit, sondern an ein friedliches und beruhigtes Alter.
Hier verbrachte Karl erst eine Prüfungszeit, nachdem er zur katholischen Kirche übergetreten, und am Ende wurde er mit unter die Zahl der Mönche aufgenommen.
Da sah er, daß auch hier Wirkungen der heutigen Zeit zu verspüren[251] waren. Denn zwar fand er einige unter seinen neuen Freunden, die kaum etwas wußten von dem, was ihn bewegte, und die nichts erlebt hatten, wie das Alte, das in ihren viel gelesenen Büchern stand; aber zwei Männer waren da, die waren gleich ihm geflohen in diesen Frieden, weil sie zu schwach gewesen, nur daß ihre Geschichte grausiger war wie die seine und sie gänzlich gebrochen hatte.
Der eine war ein Deutscher, der aus einer sehr alten und vornehmen katholischen Familie stammte, die indessen durch viele Unglücksfälle im Laufe der Zeiten fast gänzlich verarmt war. Seine Eltern lebten in einer ganz entlegenen Gegend auf einem kleinen Gut, das seit vielen Jahrhunderten der Familie gehört hatte; und auch jetzt noch, in ihrer Armut, erschienen sie den Gutsleuten als besondere und höhere Wesen, denn auch die Leute waren hier seit undenklichen Zeiten ansässig, und einer jeden Familie Geschichte war in irgendwelcher Art mit der Herrschaft vielfach verknüpft, und alles, was die Herrschaft tat, war ihnen bekannt. Noch der Großvater der jetzt Lebenden hatte auf seinem Sterbebette bestimmt, daß ein Totengericht über ihn abgehalten werden sollte von den armen Leuten der Gegend, denn er wollte aufgebahrt werden im großen Saale, und die Leute sollten hereinkommen, und der Priester sollte sie fragen, was sie urteilten über ihn und seinen Wandel.
Dieser Familie Sohn kam als junger Offizier nach Berlin und sah hier die Leichtigkeit des Lebens, und wie keiner einen Willen hatte, sondern alle umgetrieben wurden durch den reißenden Maelstrom, und dabei glaubten sie, es geschehe durch ihre eigne Kraft, daß sie schwammen, und sei ihr Wille so. Da wirkte dieser Strudel so auf ihn, daß er unmerklich wurde wie die andern und ihm das Leben leicht ward, weil er keinen Willen mehr hatte und nicht mehr dachte, was morgen geschehen werde. So geriet er schnell in Schulden, und war ihm das gar nicht wichtig, denn er sah, daß alle andern gleichfalls verschuldet waren. Aber wie er nun wegen der Bezahlung gedrängt wurde und sich an seinen Vater erinnerte, der bei Tische abmaß, wieviel Brot er abschneiden durfte, damit der Laib auch hinreichte, und dann dachte er, daß das gar nicht zu Erzählungen paßte, welche die andern von ihren Eltern machten, da wurde es ihm unmöglich, daß er fernerhin so war wie die andern. Nun fand er indessen aber auch nichts in sich selbst, wie[252] er handeln sollte, und so geschah es, daß er etwas ganz Neues beging, welches in dem gesamten Kreise noch nicht erhört war, er hat nämlich das Geld einem Kameraden gestohlen.
Wie er das getan, hatte er keine Ruhe mehr, sondern machte sich heimlich auf und entfloh nach Holland, weil er dort wollte sich anwerben lassen für das Heer, das auf Java unterhalten wird. Es glückte ihm aber nicht gleich, an die rechte Stelle zu kommen, und so hielt er sich eine kurze Zeit in Antwerpen auf, und in dem Wirtshaus, wo er speiste, ward er mit einem ganzen Kreise von Abenteurern bekannt, die alle ähnliche Pläne und Absichten hatten, indem der eine in dieser und der andere in jener Weise gescheitert war. In dieser Gesellschaft kam einmal die Rede darauf, was ein jeder früher getrieben, und so wurde auch dieser Jüngling nach seiner Geschichte gefragt. Da er nach seinem ganzen Aussehen, Manieren und Haltung sich als früherer Offizier erwies, so mochte er nichts Ausgesonnenes angeben, wie viele von den andern getan hatten, sondern erzählte, daß er ein Offizier gewesen sei und wegen eines Ehrenhandels den Dienst verlassen habe; nur nannte er ein andres Regiment. Wie er den Namen genannt hatte, da stand ein Mann auf, der rechts zur Seite gesessen und ihm immer am wenigsten gefallen von allen; er war ein großer Mensch von soldatischer Haltung, der einen starken Schnurrbart und gebräuntes Gesicht hatte und über dem einen Auge eine schwarze Binde trug, vielleicht, weil er sich unkenntlich machen wollte. Der stand auf und rief, jetzt erkenne er den Sprecher, denn er habe in demselben Regiment gestanden und sei sein Kamerad gewesen; damit ging er freundschaftlich auf ihn zu und drückte ihm mit großer Freude die Hand. Der Jüngling bekam einen heftigen Schrecken über diese Anrede, aber der Fremde ließ ihn nicht zu Worte kommen, sondern fragte ihn nach allerhand Namen, Personen und Geschichten und erkundigte sich und beantwortete selbst seine Fragen; da wurde dem Jüngling klar, daß der Fremde ebensowenig bei dem Regiment gestanden wie er selber, aber er hatte gemerkt, daß seine Rede gelogen gewesen war, und da war er auf die Meinung gekommen, daß er etwas auf dem Gewissen haben müsse, was verborgen bleiben solle, und deshalb dürfe er ihn nicht Lügen strafen, wenn er selber sich auch auf das Regiment und alte Kameradschaft[253] berief und dadurch vor den andern, die ihm mißtrauten, eine Art Beglaubigung beibrachte, daß er wirklich der sei, für den er sich ausgab. Und wie dem Jüngling das plötzlich klar wurde, da sah er des Fremden unverbundenes Auge mit einem ganz schlechten und widerwärtigen Ausdruck auf sich ruhen; und wie der wieder seine Hand faßte unter allerhand Beteuerungen, da war ihm nicht anders, als wenn ihn jetzt der Satan ganz gefangen habe und ihn nicht loslassen werde; und so begann der Fremde auch schon mit Vorschlägen, daß sie wollten zusammenziehen und gemeinsame Wirtschaft machen wegen der alten Kameradschaft.
Durch diese große Angst wurde die Reue in ihm lebendig, und er ging in sich und sah ein, was er begangen hatte. Darauf bedachte er sich, daß er sein Verbrechen sühnen müsse, denn sonst konnte er sich nicht erretten aus der Hand des Satans. Da wurde ihm klar, daß er allein keinen Ausweg finden konnte, weil er zu geringe Erfahrung hatte und noch ohne Umsicht war, und fuhr deshalb zu seinem Vater, dem alles zu erzählen und um seinen Rat zu bitten, wie er sühnen solle; er meinte aber, das angemessenste sei, daß er sich den Gerichten anzeige und ins Zuchthaus ging.
Sein Vater war ganz alt geworden, sein Haar war weiß geworden, und er sagte ihm, daß er nicht als einzelner auf der Welt dastehe, sondern er sei der letzte eines ruhmreichen Geschlechtes, das immer in Ehren gelebt. Das sei nun schon ein sehr schweres Angehen, daß er nach solcher Tat das Geschlecht nicht fortsetzen dürfe, sondern es müsse mit ihm aussterben, denn wenn ein Dieb Kinder kriege, so werden die noch schlechter wie der Vater, und so müßte der Name ganz in Unehre fallen, wie so vielen alten und vornehmen Namen heute in unsern Tagen geschieht. Deshalb dürfe er aber auch das nicht tun, daß er seine Tat anzeige und vor aller Welt die Buße auf sich nehme, denn wenn die Welt erfahre, daß einer des Namens gestohlen habe, so sei es ganz umsonst, daß die Vorfahren gelebt hätten und hätten Ehre gehabt, denn alsdann ziehe er alle mit sich in seinen Schmutz. Darum solle er eine heimliche Sühne auf sich nehmen, die gab er ihm an, und die war schwerer, wie der Richter sie ihm auferlegte hätte. Denn fünf Jahre lang sollte er in einem Kloster die niedrigsten Arbeiten tun und den[254] andern aufwarten, und dazu mußte er besondere Fasttage halten und hatte ein schlechteres Lager wie die andern, und mußte sich mit einer festgesetzten Zahl von Geißelhieben kasteien.
Dieses alles erfüllte der Jüngling genau, wie es ihm vorgeschrieben war, und nach einer Zeit wurde er ruhig in seiner Seele und kriegte eine neue Freudigkeit. So kam das Ende heran, wo er das Kloster verlassen durfte; aber da hatte er Angst vor der Welt, denn in der Welt hatte er Unrecht gehabt und Mißmutigkeit, und er dachte, er sei zu schwach, um draußen zu leben, deshalb blieb er in dem Kloster und war immer ein zufriedener und heiterer Mensch.
Der andre Freund, den Karl gewann, war ein geborener Protestant, ein Engländer. Der stammte von strengen und gläubigen Puritanern ab, die sich alle Lust verboten und nichts haben wollten im Leben wie Arbeit und Tugend, und reich geworden waren durch harte und kalte Tätigkeit. Von Geburt an war er blaß und kränklich gewesen und hatte als Kind solche Augen gehabt, die in den Himmel zu weisen schienen und sich fortsehnten aus den großen und leeren Stuben seiner Eltern in heitere und hohe Räume voller Luft und Licht.
Schon frühzeitig hatte er eine besondere Lust zum Zeichnen bewiesen, und nicht nur traf er immer mit großem Geschick die Ähnlichkeit, die er wollte, sondern es war auch ein Reiz von Schönheit und Anmut in seinen kleinen Bildern, der aus den Beziehungen der Linien kam und der Verteilung des Schwarzen und Weißen. Seine Eltern aber verboten ihm diese Übungen, wie sie seine heftige Leidenschaft sahen, und wollten ihn zu einem klugen und gebildeten Kaufmann erziehen, der Gewinn finden konnte, deshalb betrieb er seine Künste im Verborgenen, unter häufigen Gewissensbissen, aber zuzeiten, wenn er es nicht mehr ertragen konnte, daß er sich Vorwürfe um seinen Ungehorsam machte, erzählte er seinem Vater von seiner Verfehlung, und dann wurde er streng bestraft; dann nach einer Weile konnte er seiner Lust doch nicht weiter widerstehen und verschaffte sich auf eine neue Weise die Möglichkeit, daß er sie befriedigte, und zeichnete, was er mochte, denn die vorige Weise, die er seinem Vater gestanden hatte, war ihm unmöglich gemacht.
So wuchs er heran zum beginnenden Jünglingsalter, da veränderte[255] sich plötzlich die Art seines Zeichnens und seiner Vorwürfe. Denn vorher hatte er Menschen, die er kannte, auf dem Papier abgerissen und sie verschönt, so daß sie einen himmlischen Ausdruck bekamen und edler schienen wie im Leben, und am liebsten hatte er ganz reine weibliche Gesichter gezeichnet, auf denen Gedanken zu lesen sein mochten, wie sie ein Engel ihnen in seltenen Augenblicken ins Ohr flüstert. Nun aber wendete sich alles Himmlische ins Teuflische, und in demselben Gesichtsschnitt war statt Reinheit und Klarheit wüste Unreinheit und gemeine Begierde, und nicht auf einfach Sinnliches ging das, sondern auf etwas Schmerzensvolles und wider alle Natur Scheußliches. Er selbst aber beharrte in seinem bisherigen Leben und war fleißig in seiner Arbeit, die ihm aufgezwungen war durch die Eltern, und keine Handlung beging er von unkeuscher oder unreiner Art; vielmehr war er vor Mädchen und Frauen von seltsamer Befangenheit und Furcht, und oft errötete er im Gespräch mit ihnen und schlug die Augen nieder; nur, daß er seinem Vater nichts mehr gestand von seinen heimlichen Kunstübungen, und so verborgen trieb er die, gelehrt durch die früheren Jahre und ihre Heimlichkeit, daß der Vater gar keinen Argwohn mehr hatte und ganz fest glaubte, sein Sohn habe das Zeichnen endlich aufgegeben. Daß er aber seinem Vater nichts mehr gestand, war seit dem ersten Bilde in seiner neuen Art.
Nun trieb es ihn indessen immer weiter in seiner eingeschlagenen Richtung und dachte sich aus, daß er nackte weibliche Körper zeichnen wolle in wunderlichen Bewegungen, und sollte etwa eine solche Figur Handschuhe tragen oder einen Schnürleib und strengte seine Gedanken ganz stark an, daß er sich ein solches Bild denken konnte, indem er nachts heimlich in seiner Kammer sich nackt auszog und vor dem kleinen Spiegel über dem Nachttisch seinen eigenen Körper betrachtete, der schmal war und ganz unreif, und in einem japanischen Bilderbuch, welches er verborgen aufhob, studierte er die nackten Frauenleiber, und auf der Straße achtete er auf die Frauen, die ihm begegneten, besonders wenn etwas Wind war und ihr Körper sich durch die Gewänder beim Schreiten abzeichnete, und entkleidete sie in seiner Vorstellung, daß sie nackt dahergingen; und in alledem war eine schmerzliche Sehnsucht und eine tiefe Lust.[256]
Unter diesem Studieren und Arbeiten bekam er eine Sammlung von Heiligengeschichten in die Hand, die las er sehr eifrig, und besonders die Geschichten von den heiligen Frauen, wie der heiligen Katharina von Siena und der heiligen Rosa von Lima. Denen ahmte er nach in den Kasteiungen und beschaffte sich eine Kette, schlang sich die um den Leib, und die Kette rieb ihn blutig und drang ihm ins Fleisch, aber die Schmerzen taten ihm wohl, und damals wäre er glücklich gewesen, wenn es ihn nicht zu gleicher Zeit nach dem andern gedrängt hätte; so zeichnete er die heilige Rosa, wie sie als ganz junges Mädchen auf einer Wiese steht und von vielen Schmetterlingen umflattert wird, die in ihrer Heimat Peru wunderbare große Flügel und herrliche Farben haben, und ein ganz großer Falter hatte schwarze und weiße Flügel, der setzte sich auf ihre Schulter, und das war eine Berufung für sie, welchem Orden sie angehören sollte. Dieses Bild zeichnete er, aber die heilige Rosa hatte er ganz nackt gemalt, als ein dürftiges weibliches Wesen mit langen Haaren, die in sonderbaren Schlangenlinien gingen, und um ihren Mund spielte es wie eine schmerzliche Wollust und zugleich eine Unfähigkeit zur Lust. Solche Bilder aber mußte er immer zeichnen, und seine seelische Unkeuschheit wurde immer stärker.
Am Ende wurde er sehr leidend, und wie ihn die Ärzte untersucht hatten, sagten sie, daß seine Lungen erkrankt seien und er müsse nach dem Süden gebracht werden. Da ließ ihn sein Vater gen Italien reisen, und wie er eine Weile an der Riviera gelebt hatte und gesünder geworden war, erfuhr er, daß sein Vater plötzlich gestorben sei. Da machte er sich gleich auf und ging zu dem Kloster und lebte dort eine Weile, bis er es endlich erlangte, daß er in die Zahl der Mönche aufgenommen wurde.
Außer diesen zwei Männern waren in dem Kloster nur Brüder, die keinerlei Geschichte gehabt hatten. Ein ruhiges und fröhliches Leben führten sie unter allerhand sonderbaren Sachen; da hatten sie ein Schränkchen, das war ganz mit Ruinenmarmor ausgelegt, und eine Sammlung von Stücken aller Holzarten besaßen sie, die geschnitten und behobelt waren wie Bücher, auch ein Stück Zedernholz vom Libanon war darunter; eine besondere Kostbarkeit schien aber ein Bildnis der Muttergottes, das aus bunten Vogelfedern hergestellt war, und[257] ein Kirschkern, auf dem ein Bruder die ganze Leidensgeschichte geschrieben hatte, daß man sie mit der Lupe lesen mußte, und fehlte kein Buchstabe.
Sehr selten geschah es, daß Fremde das Kloster besuchten, die alte Wandbilder aus Giottos Schule betrachten wollten; dann sprachen die Brüder bei Tische viel darüber, aus welchem Lande die Reisenden wohl stammen mochten und ob sie Protestanten waren oder Katholiken, wunderten sich auch, daß sie so wenig Freude an dem Kirschkern und dem Muttergottesbild zu haben schienen. Zuweilen wurde dann wohl darüber gestritten, ob die Protestanten bald zur Kirche zurückkehren würden oder noch lange in ihrer Verstocktheit beharren.
So lebte Karl, und von seiner früheren Welt erfuhr er fast nie mehr etwas, nur einmal kam zu ihm eine Nachricht über seine geschiedene Frau. Johanna hatte nach der Trennung ihren Kreis von alten Freunden beibehalten und auch durch neue vermehrt, und hatte ein Ansehen in ihrer Gesellschaft, daß viele auf ihre Meinung hörten und sie selbst hochhielten als eine Vorkämpferin und Befreierin. Alle in diesem Kreise lobten unsre heutigen Zustände und sagten, daß in unsern Tagen zum ersten Male das Individuum die Möglichkeit gänzlicher Freiheit erhalten habe, denn indem die Gesellschaft nicht mehr die volle Person in Anspruch nehme, sondern nur Betätigungen der Person verlange, so könne sich jeder zu dem entwickeln, was er werden wolle und unterliege keinem äußeren Zwange; und so dachten sie, daß aus jedem von ihnen ein Eigner und Besondrer werden müsse. Indem Johanna in diesen Anschauungen beharrte, schloß sie einen Liebesbund mit einem jungen Mann aus ihrer Gesellschaft und lebte mit ihm, und nach einiger Zeit sagten die beiden einander, daß ihre Liebe erloschen sei, und daß sie unsittlich handeln würden, wenn sie nun noch länger zusammenlebten, und so gingen sie in Freundschaft voneinander. Dann folgte eine neue Liebe, und in solcher Weise führte sie ihr Leben.
Es geschah aber, daß sie sich in diesen Umständen in Hoffnung fühlte, und hatte ein Kind. Da sagte der Vater zu ihr, daß sie nun sich gesetzlich heiraten müßten, weil die heutige Welt, obschon sie im Grunde wohl ganz neu sei, doch noch die alten Formen bewahrt habe, und deshalb sei in ihr kein Ort für eine solche Gruppe wie er, sie und[258] das Kind, wenn sie keine Ehe nach der gebräuchlichen Form bildeten. Sie antwortete ihm jedoch, daß sie ihre Freiheit bewahren wolle und keinem Zwange unterliegen und wolle ihr Kind auch allein aufziehen; und so tat sie auch, lebte für sich und besorgte das Kind, indem sie allen erzählte, daß sie eine geschiedene Frau sei, und das Kind habe sie von einem Freund; sie wurde aber sehr stolz und froh, wie sie verspürte, daß sie von vielen deswegen übel angesehen wurde, und meinte, daß alle Erlöser der Menschen beständigen Undank geerntet hätten, bis man später erst ihre Tat richtig erkannt. Dann begann sie und beschrieb ihr Leben von Kindheit an und sagte, daß sie genau alles erzählen wolle, wie es in Wahrheit gewesen sei, und nichts wolle sie verschleiern, und dieses Buch dachte sie dann herauszugeben, damit jeder es lesen könne.
Die Komtesse Maria bewohnte ein kleines Stübchen, das auf einen stillen Hof hinausging, mit Möbeln, welche der Vermieterin gehörten, und hatten wohl deren gute Stube geschmückt, als der Mann noch lebte. Das Mahagoni, das die über ein Menschenalter gepflegt, war von einer gewissen Traulichkeit, und die Komtesse hatte durch allerhand kleines Wesen das Behagliche noch erhöht; so empfing eine gewisse Wärme des Frauenhaften Hansen beim Eintritt und erzeugte in ihm eine freundliche und friedliche Stimmung.
Es war einen Augenblick lang, wie sie aus der Kanne in seine Tasse goß; sie hatte eine nicht allzugroße Figur, und in ihrer Bewegung war etwas Hausmütterliches; er stand aufrecht da und schien groß und energisch; einen Augenblick lang hatten sie beide ein Gefühl: wie es wäre, wenn sie einander angehörten als Mann und Weib, und dieses wäre ihr Heim, das die Frau freundlich und friedlich machte, damit der Mann Ruhe fände, und der Mann erhielte es, und die Frau hätte bei ihm Sicherheit. Aber schnell verschwand das Gefühl durch Demut und Stolz, denn sie meinten jeder, der andere sei höheren Glückes wert, und er wolle nicht unbescheiden sein.
Dann erzählten sie sich. Zuerst war das Gespräch recht zaghaft, denn als Menschen, die viel für sich gelebt, verstanden sie nicht die Kunst der leeren Worte und scheuten sich, formelhafte Reden zu gebrauchen, bei denen sie nichts empfanden; aber bald wurden sie recht[259] eifrig, denn sie waren auf etwas gestoßen, dafür sie beide Wärme hatten, nämlich auf gelesene Bücher.
Da ereignete sich etwas Wunderbares. Sie sprachen von diesem Buch und jenem, und beide hatten dieselben Bücher gelesen und waren auf die gleichen Fragen gekommen und hatten die gleichen Gedanken gehabt. Sie vertieften sich ganz im Zeigen und Wiedererkennen, und vergaßen sich, und im Eifer geschah es Hans, daß er zu der Gräfin sagte »Du«, worüber sie rot wurde, er aber merkte nichts. Und dann wieder kam ihnen das Märchenhafte zum Bewußtsein, daß sie sich gesehen hatten als kleine Kinder vor vielen Jahren, und jetzt waren sie beide erwachsene Menschen, und in der Zwischenzeit hatten sie ihre Köpfe über dieselben Schriften gebeugt, hatten dieselben Lehren ihren Geist erschüttert, dieselben Fragen sie umhergetrieben, und hatte doch keiner vom andern gewußt, als daß sie einmal zusammen gespielt im Heu und im alten kleinen Forsthause im Walde. Und jedem war gewesen lange Jahre hindurch, als sei er allein in der Welt, und die Menschen waren ihm nur Schatten und Geräusche und lebten nicht, und nun zeigte es sich, daß es noch einen Menschen gab, der alle diese Gedanken und Gefühle gehabt hatte; und plötzlich war es jedem, als sei die Welt nun lebendig geworden aus einem Zauber, und alle Menschen hätten Seelen bekommen. Hans hatte wohl viele Menschen getroffen, die ähnlich sprachen und dachten und ähnliches studiert hatten wie er, aber die waren ihm doch tot gewesen, das wußte er jetzt. Denn was das Lebendige zwischen ihnen schuf, das merkten sie beide nicht in Harmlosigkeit, nämlich, es kam zu den gleichen Meinungen und den gleichen Büchern, daß er ein Jüngling war und sie eine Jungfrau, und daß sie an seiner Brust liegen konnte und er sie umschlungen halten konnte. Das war ein Glück in ihnen, das sie noch nie gespürt. Sie überhasteten sich in ihren Reden, fragten und erwarteten keine Antwort, machten Pläne, nahmen sich Vorsätze vor und lachten, ohne daß sie einen rechten Grund hatten.
Noch vor einer Stunde waren sie einander fast fremd gewesen, und nun schien es ihnen, als ob sie zueinander gehörten, so hatten sie ohne Scheu ihre natürlichen Bewegungen, und Maria legte ihre Füße auf einen kleinen Schemel, wie sie gewohnt war, ohne daran zu[260] denken, daß sie einen fremden Herrn zum Besuch hatte, nicht einen Bruder oder Gatten; plötzlich fiel ihr die Unschicklichkeit auf, und sie errötete. Wie ein kleines Mädchen errötete sie, und so glücklich sah sie aus, wie ein kleines Mädchen in ihrer Schwesterntracht und glattgestrichenem Haare. Durch ihre Bewegung wurde er aufgeschreckt, sah nach seiner Uhr und fand mit großer Bestürzung, daß er ganz unschicklich lange geblieben war, so stand er hastig auf, und mit einer gewissen Befangenheit trennten sich die beiden.
Als Hans sie das zweite Mal besuchte, waren sie verlegen und kalt, und in ihre Worte wollte keine Wärme kommen, und was sie sagten, sagten sie nicht aus Liebe und Überfluß, sondern um ein schleppendes Gespräch zu erhalten; und weil alles, was vorher so rosig erschien, jetzt grau war, so prüften sie nach bei sich und fanden, daß sie eine eigentliche Belehrung doch das vorige Mal nicht voneinander empfangen hatten, und daß sie ein jeder das schon gewußt, was besprochen war; aber weder er noch sie warfen die Schuld davon auf den andern, sondern meinten jeder, der Grund liege bei ihnen selbst; so trennten sie sich sehr früh.
Nachher machten sie sich schwere Gedanken, wußten sich nicht zu erklären, woher die Kälte und Verlegenheit gekommen, und meinten jeder, er selbst sei schuld daran, indem er das erste Mal aufdringlich gewesen sei. Denn schon hatte in der Zwischenzeit die Liebe ihre seltsame Arbeit in ihren Seelen ausgeübt, nämlich den Geliebten verschönt und erhöht und so geschmückt, daß er ein ganz andres Wesen wurde, aus einem kleinen Menschenkinde mit seiner Angst und Verlegenheit ein zürnender Engel, der unnahbar ist durch seinen Glanz und Größe. Und so sagte Hans bei sich, daß er von niederem Herkommen war und später selten vornehme Leute getroffen, denn die meisten Bekannten und Gleichstrebenden waren ähnlicher Abkunft wie er, deshalb wußte er manches nicht, was schicklich war, etwa ob man die Beine übereinanderschlagen durfte, denn in einem Buche über den seinen Anstand, das er durchstudiert, war das verboten, und vielleicht habe er die Komtesse durch solche Nachlässigkeit beleidigt, und sie denke etwa nicht, wie man sie erklären müsse bei ihm, sondern meine, weil sie Krankenpflegerin geworden sei und ihren Stand verlassen habe, so glaube er, daß man in solchen Dingen ihr gegenüber nicht so sorgfältig[261] zu sein brauche, und solche Ansicht müsse sie natürlich kränken. Und Maria dachte, daß Hans schnell alles spürte, was unsittlich oder unschicklich sein mochte, denn sie kannte auch seinen Vater gut und sah ihn in ihrem Geiste neben ihrem Vater hergehen; da schien ihr, daß sie nicht weiblich gewesen sei, und er könne meinen, sie sei nicht zurückhaltend, und sie fürchtete, er halte sie für schamlos.
Zu diesen Sorgen kamen noch kleine Mißverständnisse und allerhand solche Vorfälle, die bei Liebenden eintreffen; so lebten beide recht unglücklich, wie es ja gewöhnlich ist, auch bei klugen und guten Menschen, in den ersten Liebeszeiten; denn alles ist da noch trübe, unbekannt und unausgesprochen, und erst wenn das klar und geordnet ist und eine ebene Straße sich unter den Füßen hinzieht, kann ruhiges Glück hereinfließen. Aber je selbständiger zwei Menschen sind, desto schwerer ist offenbar ein solches Ziel zu erreichen.
Unter solchen allgemeinen Umständen hatten sie an einem Frühlingstage einen Ausflug gemacht an einen abseits von der begangenen Straße gelegenen Ort, wo ein See lag inmitten des eintönigen Kiefernwaldes, der aus dem dürftigen Boden mit Anstrengung hervorwächst, und in dem ruhigen Wasser spiegeln sich die Kiefern wider und der blasse Frühlingshimmel mit weißen Wölkchen. Unter einer Birke saßen sie, die am Waldrande allein stand und sich an den hängenden Zweigen mit ihren jungen Blättchen schmückte, und wie sich Maria neigte, da wuchsen Leberblümchen, wie zu Hause in dem hohen Buchenwalde, da pflückte sie drei Blümchen ab, und Heimweh ergriff ihr Herz, und um ihr Gefühl zu verbergen, tat sie behutsam die Blumen an ihre Brust. Dabei hatten sie ein Gespräch über etwas andres, aber auch ihm war das Heimweh gekommen, und hinter ihren gleichgültigen Worten teilte sich die Herzensbewegung des einen dem andern mit. Hierüber entstand eine Pause voll Befangenheit, die süß und sehnsuchtsvoll war, und wie sie so schwiegen, kam ein ganz kleiner Schmetterling, der den Winter überlebt hatte, denn er hatte recht abgenützte Flügel, und jetzt hatte ihn die liebe Sonne gelockt aus seinem Versteck, der suchte nach Blumen, und es fror ihn; und in ungeschicktem Fluge kam er zu Marias Brust, setzte sich auf ein Blümchen und schlug freudig und zufrieden seine Flügel zusammen, wie er früher getan[262] hatte in dem warmen Sommer des vorigen Jahres. Sie sah mit glücklichem Gesicht auf das Tierlein nieder und hielt sich ganz still, und durch einen Blick, wie ihn ein Kind haben mag, rief sie ihm, daß er auch sehen solle. Er neigte sich zu ihr, über die Blümchen mit dem Schmetterling, und sein Gesicht kam vor das ihre, und beide verspürten eine Scheu und ein Klopfen des Herzens, da faßte Hans sich Mut und sah zur Seite und sah, daß ihre Wangen rot waren und in ihren Augen Tränen standen, und hierüber geschah ihm, daß er handelte, ohne sich zu besinnen oder zu überlegen, er legte seinen Arm um sie und küßte sie, und zwar verfehlte er ihren Mund, aber er verspürte doch, wie sie den Kuß erwiderte, und sah, wie ihre Augen sich schlossen. Da tat sich ihm weit, weit das Herz auf, und ihm schossen die Tränen in die Augen, und er warf das Gesicht in ihren Schoß und weinte, weinte; der Schmetterling war davongeflogen, und Maria strich ihm sein Haar, leise, mit ihren weichen Händen, und einmal sagte sie »Du Lieber«, mit Anstrengung sagte sie das.
Und wie sein Haupt in ihrem Schoße lag und seine Augen weinten, und sie streichelte ihm das Haar, das hell war und starr, und eine kleine Meise hüpfte über ihnen in dem durchsichtigen Geäst der frühlingsgeschmückten Birke, da kehrte ein in ihnen Zuversicht und Sicherheit, und sie wußten, daß sie neu geboren waren wie in einem Stübchen bei ihren Eltern, und daß es nicht mehr Not, Sorgen und quälende Gedanken gab, und alles war einfach und selbstverständlich, und ihre Gedanken waren, als gehörten sie schon lange zusammen, seit vielen, vielen Jahren, und vor undenklichen Zeiten sei etwas Unruhiges und Einsames gewesen, und alles war eins bei ihnen, wie es natürlich ist bei einem alten Ehepaar. Lange verharrten sie so; und es war, als ob alles Glück, nach dem sie sich vergeblich gesehnt, so lange Jahre, jedes allein für sich, als ob das aufgesammelt gewesen sei und nun auf sie herniederregnete in diesen Minuten unter dem durchsichtigen Birkengeäst; und alles war ihnen gleichgültig, ja sie dachten an nichts und hatten nicht gewußt, ob es Minuten waren oder Stunden, als ihm die Tränen des Glückes aus den Augen flossen, unaufhaltsam, aus der Tiefe seines Herzens, in dem das Glück saß, und sie streichelte sein Haar, das sie lieb hatte, und vielleicht waren es sogar nur Sekunden gewesen, daß sie so gesessen.[263]
Sie besannen sich auch, sahen sich ins Gesicht und lachten, ganz ohne Grund lachten sie, Hansens Backen waren noch naß von Tränen. Plötzlich errötete sie, ein ganz neuer, lieblicher Ausdruck zog sich über ihr Gesicht, und sie errötete bis an die Haarwurzeln und an den Seiten bis zum Ohransatz und legte die Hand vor das Gesicht und sagte: »Ach, ich schäme mich.« Da war er ganz ratlos, und es war ihm, als habe er unrecht gehandelt, daß er sie geküßt, aber sie legte plötzlich ihre Hände um seinen Hals und drückte ihm einen Kuß auf die Lippen, einen frohen und innigen. Dann strich sie ihm das Haar aus dem Gesicht und sagte: »Ich habe noch keinen Menschen lieb gehabt wie dich.« Hierüber wurde er wieder verlegen und lachte.
Bald erhoben sie sich und gingen; zuerst schritten sie ganz ohne Gedanken, dann besannen sie sich, daß sie zur Bahnstation gehen mußten, suchten den Weg auf und gingen dann wieder in der vorigen Weise. Plötzlich fiel es Hans ein, daß er Maria den Arm geben wollte, das tat er aber ganz ungeschickt, und darüber lachte Maria, als wäre das etwas sehr Komisches, und Hans lachte auch. Darauf trieben sie ganz kindische Scherze, liefen eine ganze Weile mit untergefaßtem Arm und lachten wieder, bis Maria die Tränen kamen, das waren zwei runde Perlen, die nicht zerliefen, sondern rund blieben. Über diese freute er sich so, daß er sie küßte.
Eine Weile gingen sie dann wieder in Gedanken und still. Da fing Hans plötzlich an, daß er sich besonders darauf freue, wenn sie viele Kinder bekämen. Hierüber wurde sie wieder rot, er aber merkte nichts und fuhr fort in der Ausmalung seines Traumes, wie er dem ältesten Jungen ein Steckenpferd kaufen wollte und dem kleinen Mädchen ein Korallenhalsband, und abends wollten sie mit den Kindern in der dämmrigen Stube sitzen und schöne Lieder singen, und Maria mußte auf dem Klavier begleiten. Auch von der Erziehung sprach er, daß man hauptsächlich fest sein müsse und die Kinder nicht verwöhnen dürfe, denn selbst Härte sei besser wie übermäßige Weichheit. Und allmählich fiel auch Maria ein, und so begannen die beiden fröhlich ihre Luftschlösser zu bauen. Es zeigte sich aber, daß Hans ganz bestimmte Ansichten und Pläne hatte in allen diesen Dingen, über welche sich Maria sehr verwunderte, und wiewohl vieles von diesen Ansichten und Plänen[264] ihren Wünschen nicht entsprach, so empfand sie doch keinen Ärger, wie er so bestimmt war und ganz einfach annahm, daß sie dasselbe wollen müsse wie er, aber sonst war sie immer gleich erbittert gewesen, wenn sie gespürt hatte, jemand wolle, daß sie etwas tue, was ihr nicht einleuchtete. So dachte sie jetzt, er sei wohl etwas tyrannisch, aber sie freute sich heimlich darüber und war gar nicht traurig, hatte auch gar keine Lust, daß sie sich ihre andre Meinung klar machte, sondern dachte nur bei sich: ›ach, es wird schon schön und recht sein, wie er es meint‹, und er meinte doch viel Törichtes. Plötzlich aber bemerkte sie, daß sie selbst sich vorstelle, wie sie ihre Kinder kleiden wollte, und indem sie gar nicht daran dachte, daß die zuerst ganz klein waren, malte sie sich einen recht schönen Matrosenanzug aus für den Jungen und stellte sich einen Florentiner Strohhut vor für das Mädchen.
So gingen sie auf dem schmalen Weg durch den Wald. Und durch den Wald zog der Atem des Frühlings, herb und streng, die Kiefern reckten sich und hielten sich in Bereitschaft, ihre Kerzen aufzustecken, ein Kreuzschnabel saß auf einem Zweige und sah ruhig das Paar an; das ist ein Vogel, der auf Gott vertraut, denn er baut sein Nest mitten im Schnee, wenn die andern Tiere allen Glauben verloren haben, und im Frühjahr sind seine Jungen schon fast erzogen.
Das Stationsgebäude war ein Haus wie alle diese Häuser, und Menschen warteten da, die sahen gleichgültig und mürrisch aus, wie sie immer aussehen. Aber der beiden Glück machte das dürftige Haus schimmernd und den glänzenden Schienenstrang glückverheißend, der sich gerade hinauszog, weit fort, wer weiß wohin, und alle Menschen, die da warteten und an den Zug dachten und an ihre kleinen Sorgen und Geschäfte, wurden froh und glücklich. Die beiden aber dachten, daß das Leben leicht ist, und wunderten sich, daß sie nicht schon längst das gewußt hatten. Und am merkwürdigsten war, daß alle Menschen ihnen mit Liebe, Freundlichkeit und Schonung zu nahen schienen, und es zeigte sich, daß alle Menschen gut sind. Für den nächsten Tag hatten sie verabredet, daß sie sich im Tiergarten treffen wollten; denn sie mußten einander viel sagen, und vorher wollten sie manches bedenken, weil es doch überraschend gekommen war, wie sie sich gefunden hatten. Hans war zuerst an der Stelle, dann kam Maria, die hatte ein ernstes und[265] ermüdetes Gesicht und begrüßte ihn liebevoll, aber mit sonderbarer Zurückhaltung, und gab ihm einen Brief in die Hand und sprach, während er lese, wolle sie sich auf eine Bank setzen. In dem sehr langen Briefe stand geschrieben, daß sie viel mit sich gekämpft, aber sie sei nun zu dem Entschluß gekommen, daß sie einander nicht angehören dürften; denn gestern habe sie sich durch ihre Gefühle, die sie nicht leugnen wolle, zu einer Übereilung hinreißen lassen; ihr Grund aber sei, daß sie sich zu selbständig fühle, um glauben zu können, daß sie eine gute Gattin sein werde. Dann erzählte sie, wie sie ihre Jugendzeit zu Hause verbracht habe in den großen Sälen, und habe keinen Menschen gekannt, denn mit den Offizieren und Gutsbesitzern, die in ihrem Elternhause verkehrt, habe sie nichts zu sprechen gefunden, außer ganz gleichgültige Dinge; und wie durch die Luft sei es angeflogen, daß sie ganz andere Meinungen bekommen wie alle Leute, die sie kannte, denn sie könne sich nicht entsinnen, daß jemand ihr etwas erzählt über solche Gedanken. Deshalb habe sie auch immer gedacht, ihre Gedanken und Pläne seien unrecht, weil sie niemand gekannt, der sie geteilt, denn erst in ihrem neuen Kreise später habe sie die Menschen getroffen, die ebenso dachten wie sie. Das erzählte sie ihm, damit er sehe, wie ihre Gesinnungen nicht zufälliger Art seien und sich ändern könnten, sondern sie seien aus ihrem Wesen mit Notwendigkeit entstanden, und deshalb könne sie nicht anders werden, wie sie jetzt sei. Dann fuhr sie fort, ihm zu schildern, welche große Anstrengung es sie gekostet, bis sie alle Hindernisse und Vorurteile der Familie überwunden und habe sich in Freiheit bilden dürfen; wenn sie jetzt an diese Zeiten zurückdenke, so begreife sie oftmals nicht mehr, wie das alles möglich gewesen sei. Und nun könne sie das alles nicht mehr opfern und sich einem andern fügen, eine Hausfrau werden und an ganz neue Dinge denken; und wenn sie es doch versuchen wollte, so würde sie selbst unglücklich werden und ihn unglücklich machen, denn der Versuch werde gegen ihre Natur gehen. Darum sei es das beste, er lasse sie, und sie trennten sich jetzt, was zwar ihnen beiden schwer fallen werde; aber da sie nun einmal in solchen unglücklichen Zwiespalt hineingeraten, daß sie einander lieb gewonnen hätten und doch nicht als Gatten zusammenleben könnten, so sei es besser, jetzt Kummer zu leiden und, wenn es möglich, ihre Neigung zu überwinden[266] und dann später in der früheren Art weiter zu leben, wie eine Ehe zu führen, die sicher unglücklich werden müsse und vielleicht ihre gegenwärtige Liebe in Haß verwandeln werde.
Mit großer Trauer las Hans diesen Brief; und wie er ihn zu Ende gelesen, sah er in Marias Gesicht, das mit einem Ausdruck von unendlicher Liebe zu ihm gewendet war; da lachte er, und sie hängte sich an seinen Arm und fragte schüchtern, was er nun denke, und wie er sagte, es werde alles gut werden, und sie wollten sich trotzdem ehelichen, da drückte sie seine Hand und war glücklich. In diesem Augenblicke wurde ihm in seiner ganzen Weise offenkundig, was sie zum Opfer brachte, nämlich die Freiheit und das Glück eines Blickes von hohen Bergen, und daß sie in Enge ging und kleine Sorgen auf sich nahm, und das tat sie, weil sie ihn lieb hatte, nicht für sich, sondern für ihn. Und er wußte wohl, daß er dieser Liebe unwert war und ihr nicht ein gleiches Opfer bringen konnte, und in Demut sagte er sich, das alles Herrliche, das wir erhalten, ein unverdientes Geschenk ist, und in Dankbarkeit nahm er sich vor, immer an diese Stunde zu denken. Er freute sich aber, daß er nehmen durfte und dankbar sein, und schämte sich nicht, daß seine Hände leer waren. Solches sind die Werke der Liebe in uns, daß sie unsre schlechteste Eigenschaft überwindet, nämlich den Dünkel, der nichts umsonst empfangen will.
Nachdem die beiden dergestalt zu einem unumstößlichen Entschluß gekommen waren, beredeten sie untereinander, wie sie ihr äußeres Leben bilden würden. Wie die beiden Brüder und die Eltern gestorben, war Maria die Erbin aller Besitzungen der Familie. Solange sie für sich allein lebte, blieb ihr das gleichgültig, und sie hatte die Verwaltung einem Verwandten übergeben, denn sie war zufrieden, daß sie ihren Beruf hatte und ihre Pflicht erfüllen konnte. Nun aber wurde das anders, denn eine Familie will mehr Pflichten wie der einzelne. Hansens Tätigkeit war nicht derart, daß sie ihn selbst auf die Dauer befriedigt hätte, geschweige daß er auf sie hin hätte mögen mit seiner Familie leben. So beschlossen die beiden, daß Hans die Verwaltung der Herrschaft übernehmen sollte, und wußten wohl, wie verschuldet der gesamte Besitz war, so daß er zurzeit im ganzen sogar eine passive Bilanz aufwies, aber freuten sich, daß sie dadurch ein Ziel für frohe Arbeit[267] bekamen, denn sie glaubten, daß wir nur glücklich sein können in einer angestrengten Arbeit, die einen Erfolg hat. Und nachdem sie dergestalt sich über den Plan und die Absichten klar geworden waren, setzten sie schleunigst alles Nötige ins Werk, benachrichtigten die entfernten Verwandten Marias, die zwar den Kopf recht schüttelten, aber doch keine Schwierigkeiten machen konnten, vielmehr recht gütig bei manchem halfen, und dann wurde die Hochzeit bald gefeiert.
So nahmen sie denn die schwere Last fröhlich und guten Mutes auf sich, zogen in ein kleines Häuschen, das früher eine Beamtenwohnung gewesen war, und richteten sich ganz einfach ein. Wohl hatten sie einen Besitz, der auch nach Abzug der Schulden noch Millionen wert war, und doch lebten sie bescheiden, aber sie waren stolz und froh, daß sie Sparen und Haushalten, Arbeiten und Sorgen vor sich hatten, dessen Ende doch Sicherheit und ordentliches Leben für ihre Kinder wurde; denn wenn der Besitz auch groß und wertvoll war, so blieb ihr Einkommen doch gering und konnte nur durch langsames Abtragen der Schulden wieder groß werden.
Am frühen Morgen ging Hans schon in den Wald, und am späten Abend kehrte er nach Hause. Ein unbändiges Frohgefühl überkam ihn, wenn er zwischen den schweigenden Stämmen wanderte; das alles gehörte ihm, diese gewaltigen Buchen, deren Zweige hoch oben sich wölbten, und die kleinen Bäumchen in der Schonung gehörten ihm, wo ein Strohwisch an einer Stange hing, und das trockne Laub gehörte ihm, und die kleinen weißen Blümchen, und die flinke Eidechse und der Vogel auf dem Zweige, die waren in seinem Walde, den er einst seinen Kindern vererbte. Ihm wuchsen die kleinen einjährigen Pflanzen aus dem Samen, die dereinst über seines Enkels Haupte mächtig rauschen sollten, für ihn saugten die Blätter Sonnenschein ein, Luft und Regen. Deshalb forstete er auch nicht mit Kiefern auf, wo Buchen abgetrieben waren, denn er wollte, daß wieder Buchen wuchsen, wo Buchen gestanden hatten; wenn er alte Bäume mußte schlagen lassen, so war es ihm, als müsse ihm das Herz bluten, und nur, weil er doch Einnahmen wegen der Zinsen nötig brauchte, ließ er abtreiben; dann schlief er nachts nicht, ging aus Fenster und sah im Mondschein seufzend über den stillen Wald hin; mit Freuden aber ließ er jungen Bestand ausholzen,[268] wo Licht und Luft geschaffen werden mußten für die Bäumchen. Abends erzählte er, wie er dies machen wolle und das, wie an kahlen Hängen angepflanzt werden sollte, wenn er erst mehr Geld habe, wie in den Bruch Erlenbestand kommen müsse, und wie ein vernachlässigtes großes Gebiet am besten neu bepflanzt werde.
Seine schlimmste Sorge war, daß die Haupteinnahme aus einem unsicheren Bergwerksertrage floß, und häufig überlegte er, was zu beginnen sei, wenn dieser Ertrag einmal im Jahre geringer ausfalle. Wohl sagte er sich dann heimlich, es sei leichtfertig von ihm gewesen, daß er nicht bei der Übernahme mehr von dem Besitz verkauft, damit er das übrige desto sicherer halten konnte, aber was er sich auch überlegte, nichts von dem, was er besaß, wollte er hingeben; ja die beiden Güter, die er damals fortgegeben, und die nun unter einem tüchtigen und wohlhabenden Besitzer schnell gediehen, reuten ihn oft, und gab ihm einen Stich, wenn er in die Nähe ihrer Felder kam und dachte, daß ihm die auch gehört hatten. Deshalb wußte er keinen anderen Ausweg, als daß er immer sparsamer zu wirtschaften suchte, immer eifriger und umsichtiger alles beaufsichtigte. Seine Figur änderte sich; er wurde hager und vornübergeneigt, und seine Nase stand mit einem scharfen Haken aus dem Gesicht, und sein Gang wurde schnell und weit ausschreitend. So vergingen Wochen, Monate und Jahre im Rechnen und Arbeiten; aber Rechnen und Arbeiten füllten das Leben der beiden nicht aus. Denn zu seiner Zeit bekamen sie ein schönes und gesundes Kind, ein Knäblein; dem folgten noch andre Kinder bis zu der Zahl von fünf. Für diese alle mußte die Mutter sorgen, ohne große Hilfe, das tat sie heiteren Gemütes und singend, und die Kinder wuchsen heran in Schnelligkeit, und wenn der Vater des Abends nach Hause kam, so umringten sie ihn, klammerten sich an seinen Beinen an und wollten an ihm hochklettern; und Maria begrüßte ihn mit lachenden Augen. Sie war immer froh, auch ohne einen bestimmten Grund, und hatte Beruhigung im Herzen und sichere Gedanken. Und auch Hans war beständig froh und sicher, trotzdem er sich viele Sorge machen mußte um Geld und pünktliches Zusammentreffen von Einnahmen und Ausgaben, was für einen Mann sehr schwer ist, der keine Begabung für Geldgeschäfte hat; bei seinen großen Rechnungen half[269] ihm auch Maria, denn er verzählte und verrechnete sich häufig und geriet dann in große Ängste.
Was aber ganz besonders merkwürdig schien, das war, daß er sich gar nicht mehr Gedanken machte über abstrakte Dinge und Fragen, denn ihm war, als sei alles Grübeln plötzlich abgeschnitten und habe gar keinen Liebreiz mehr, und hätte er sich früher so gekannt, so hätte er sicher geurteilt, er sei beschränkt geworden, und doch war es ihm jetzt, wenn er an sein früheres Wesen dachte, als sei er damals töricht und kindisch gewesen. Und ebenso war es Maria, daß alle ihre Mühe und Arbeit, die sie sich früher gemacht, ihr kindisch vorkam; und wenn es auch gering war, zu bedenken, was ein Kind anziehen sollte und was ein andres essen durfte, und ob an einem Bach Weiden gepflanzt werden sollten für die späteren Korbflechtarbeiten, wenn die Äpfel aus einer neuen Anpflanzung erst versendet wurden, so schien beiden das doch heute viel wichtiger wie solche Fragen nach Freiheit und Verantwortlichkeit und ähnlichem, die sie früher bedacht. Und als sie einmal an einem glücklichen Nachmittag am Sonntag zusammen im Garten saßen und von weitem die jubelnden Kinder hörten und sich über die Wandlung wunderten, kam ihnen eine Zusammenfassung oder Erklärung dieser Erscheinung. Es geschah das aber, indem sie ein Schwalbenpärchen sahen, die Lehm zusammentrugen zu einem Neste für sich und ihre Kinder.
Da sagten sie: Wie die Vöglein, so leben auch die Menschen, wachsen, freien sich, kriegen Kinder, ziehen sie groß, und dann sterben sie; und ihre Kinder tun desgleichen; und so ist die Erde bevölkert mit lebenden Wesen, auf welche die Sonne scheint. Und jedesmal, wenn Kinder heranwachsen, denken sie, das ist etwas ungemein Merkwürdiges, daß wir auf der Welt sind, und es gibt nichts Merkwürdigeres, und mit uns wird alles neu, und vor uns ist nichts gewesen, nach uns aber wird alles das sein, was wir einmal Großes und Wichtiges schaffen werden. In Wahrheit aber erschaffen sie genau so Großes und Wichtiges wie die Menschen vor ihnen geschaffen haben, das sie gar nicht beachten. Und in solcher Gesinnung kommen sie auch zu weiterer Überhebung, daß sie in sich hineinsehen wollen und wollen wissen, wie in ihnen alles zusammenhängt, und woher es kommt, daß ihnen die Welt so erscheint,[270] wie sie ihnen wirklich erscheint; und dann denken sie, daß sie das alles ändern können nach ihrem Wohlgefallen und können bauen, was sie wollen, und einreißen, was sie wollen.
Wenn es nun Gott gut meint mit solchen besonders hoffärtigen Menschen, so setzt er sie mitten in eine einfache und vernünftige Aufgabe; und da sehen sie, daß einer mit dem andern zusammenhängt, und daß die Menschen so leben, wie es ihnen vorgeschrieben ist, und solche Gedanken haben, wie Gott will, daß sie Gedanken haben; ebenso wie diese Schwälblein vielleicht denken, wunder welch ein Werk sie verrichten, und wie merkwürdig es ist, daß sie Mann und Frau sind, und wie wunderbar einst ihre Eier sein werden und wie eigen ihr Nest; und setzen doch bloß Dreck zusammen wie alle Schwalben vor ihnen und nach ihnen, und haben Eier und brüten nach aller Schwalben Sitte, weil so das Geschlecht der Schwalben sich erhält auf der Erde, das Fliegen und Mücken fängt und zum Herbst fortzieht und im Frühjahr wiederkehrt. Solche aber, die zerfahren sind aus Hochmut, finden keine einfache und vernünftige Aufgabe, sondern tun irgend eine widerwärtige Tätigkeit, damit sie ihr Brot verdienen, und wenn sie ihr Tagewerk vollbracht haben, so brüten sie weiter und haben dumme Gedanken über ihre Wichtigkeit und werden immer zerfahrener. Inzwischen geht das Leben vor ihrem Fenster vorbei wie ein schönes Mädchen, und sie merken es nicht, denn sie wissen nicht, daß sie dem Mädchen nachgehen sollten, sie zur Frau begehren und mit ihr leben in Freude und ohne überflüssige Gedanken. Und nachdem sie immer zerfahrener geworden sind, beginnen sie auch immer dümmer zu werden; und zuletzt enden sie in leerem und einfältigem Geschwätz.
In Wahrheit können wir doch nichts wissen, als daß wir hier auf dieser schönen Erde wandeln und brave Menschen sein sollen und uns freuen. Dann werden wir älter in Heiterkeit und Glück, und endlich sterben wir, und im Gedächtnis der Menschen leben wir eine Weile noch als verständige Leute oder als unverständige.
Als sie solche Gedanken hatten, blickten sie nach der Elsgrube hin, denn die konnten sie sehen von ihrem Hause aus, und dachten, daß hier einst die alte Burg gestanden hatte, und daß das damalige Herrengeschlecht heruntergegangen war, und ein treuer Diener hatte die letzte[271] Tochter geheiratet und das neue Geschlecht begründet. Das hatte lange geblüht durch vielerlei Zeiten hindurch, die Urzeiten hatte es erlebt und das Lebensalter und die Renaissance, das absolute Fürstentum und die Neuzeit; endlich war es untergegangen durch Untüchtigkeit; und nun gründete wieder ein treuer Mann aus der unteren Gesellschaft das dritte Geschlecht; und vielleicht erlebte das auch durch die Jahrhunderte Wandlungen der Dinge, Verhältnisse und Gedanken, und es zeigte sich, daß jede Zeit meinte, sie habe in allem das Richtige gefunden; und vor Gottes Augen war das alles doch nichts weiter wie die Reihenfolge der Schwalben, die ein Nest unterm Hausdache beziehen; und wenn die Kinder dieses Geschlechtes klug waren, so taten sie dasselbe, was jetzt Hans und Maria taten: arbeiten und sich liebhaben, ihre Kinder erziehen und fröhlich sein.
So waren ihre Gedanken, und die mochten wohl manchem von den andern kleinbürgerlich erscheinen. Aber was wir wert sind, das sind wir ja nicht wert durch unsre Gedanken, sondern dadurch, daß wir die Stelle auszufüllen vermögen, in die wir gesetzt sind; denn wenn wir das können, so bekommen wir Verstand und richtige Gedanken, und für die einen sind diese Gedanken richtig, für die andern jene. Nur ist das eine Weisheit, von der die Leute unsrer Zeit nichts wissen wollen, denn freilich ist sie nicht zu sehen, sondern wir müssen sie glauben. Aber wissen wir dies nicht, daß wir ja gar nicht die wahre Welt sehen, sondern nur einen trügerischen Schein?
In der wahren Welt steht Gott als ein Bauersmann im blauen Kittel vor dem Scheunentor und worfelt Weizen. Er nimmt eine Schaufel voll Weizen und schleudert den in die Scheune. Da fliegen zusammen durch die Luft Korn und Spreu und wissen nicht, wer sie in Bewegung gesetzt hat und wohin sie getrieben werden; doch sie verspüren, daß eine Kraft in ihnen ist und daß dieselbe Sonne sie blitzend bescheint und daß dieselbe Luft sie klar bestreicht. Da denkt die Spreu hoffärtig: ›Siehe, wir sind wie diese da, und vielleicht sind wir auch besser, denn uns scheint, wir fliegen höher‹, und die Körner denken demütig: ›Es ist wohl so, daß wir alle gleich sind.‹ Aber nur einen Augenblick verweilen sie beide in der hellen Luft und unter der blitzenden Sonne; denn was Jahrhunderte sind für uns und unsre Welt des[272] Scheins, das ist ein Augenblick für Gott und für seine wahre Welt. Dann senken sich die schweren Körner zu dem Weizenhaufen, auf den sie fallen sollen, und die Spreu trägt der Zugwind vor dem Scheunentor auf einen andern Haufen zu der früheren Spreu.
Ende
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