Zweites Buch

[93] Die erste Zeit in Berlin war für Hansen recht traurig, denn sie brachte ihm große Enttäuschungen, weil er gemeint, auf der Universität müsse ganz Besonderes und Herrliches sein, und unter der Wissenschaft dachte er sich etwas Befreiendes und Beglückendes, das ihm in unklarer Weise als das höchste aller irdischen Hoheit vorschwebte; er konnte noch nicht wissen, daß dieses Besondere und Herrliche nicht ein greifbar Vorhandenes ist, sondern vielleicht nur eine Gemütsverfassung sein kann, die einige begabte Menschen mit der Zeit durch ihre Beschäftigung mit wissenschaftlichen Dingen erhalten. Und nun fand er ein großes und graues Gebäude, das nach Staub aussah, dann eine Diele, in der sehr viele Studenten standen und gingen, die gar nicht der Vorstellung glichen, die er sich von Studenten gemacht, sondern eher wie recht unelegante Kaufmannskommis schienen und fast alle außerordentlich spießbürgerliche Gesichter hatten; und endlich war da ein niedriger Kollegsaal mit vielen Bänken, mit einem muffigen Geruch. Der Professor trat ein und wurde mit Trampeln begrüßt, und war ein ganz kleiner Mann in einem dicken Pelz und mit einem recht abgenutzten Zylinder; wie er diese Stücke an den Kleiderhaken hängte, machte er eine komische Hüpfbewegung, und dann trat er auf den Katheder, nickte mit dem Kopf und entfaltete ein uraltes, gebräuntes Heft, aus dem er mit monotoner Stimme außerordentlich lange Perioden vorlas, indessen sein schwarzer Rock speckig glänzte. Die Studenten schrieben mit heftigem Eifer nach, ohne daß einer den Kopf hob, und nachdem Hans zuerst immer gedacht hatte, es müsse noch etwas kommen, schrieb er am Ende auch nach; weil er aber langsam mit der[94] Feder war, so kam er bald zurück und konnte nicht mehr folgen, und so saß er zuletzt recht ratlos und unglücklich da. Wie die Glocke zum Schlagen aushob, ließ der Professor plötzlich seine Stimme zu einem Murmeln sinken, hörte mit dem Ende des Satzes auf, klappte das gebräunte Heft zusammen, hüpfte nach seinem Pelz und Hut und ging hinaus. Die Studenten aber schnappten ihre Tintenfässer zu, steckten die Hefte in die Mappen und gingen gleichfalls.

Das war die erste Vorlesung, und die weiteren hatten einen ähnlichen Charakter. So wurde Hans niedergeschlagen und bekümmert, denn wie er nun mit seinen Heften unterm Arm zum Essen ging und sich bedachte, was er gelernt habe in diesen Stunden, da fand er gar nichts in seinem Gedächtnis, außer die Vorstellung von einem ungeheuren und wüsten Raum, in den er hineingestoßen war, damit er weitergehen solle, und sah weder Weg noch Wegweiser.

Gleich hinter der Universität, am Kastanienwäldchen, war damals ein Speisehaus, wo ein sehr großer Teil der Studenten aß. Hans folgte der Menge und kam in kleine Stuben, wo an Tischen dichtgedrängt die jungen Leute saßen und eilig ihre Speisen verzehrten, indessen Kellner in jägergrünen Joppen mit Hirschknöpfen geschwind mit Schüsseln und Tellern herumliefen und der Strom der eintretenden Gäste dem Strom der herauskommenden begegnete. Wie Hans einen Platz gefunden an einem Tisch, dessen übrige Stühle besetzt waren, und die fleckige Speisekarte genommen, kam hastig ein Kellner im Vorbeilaufen heran und fragte, so daß Hans erschreckt aufs Geratewohl bestellte, denn er war schon durch die Eile und Menschenmenge geängstigt. Dann aß er und trank mit der Schnelligkeit, die er bei den andern sah, denn hinter dem einen Tischgenossen wartete bereits einer auf dessen Platz; und wie er fertig war, kam der Kellner wieder, zählte zusammen, und Hans bezahlte, und weil ihm gesagt war, daß man in Berlin den Kellnern Trinkgeld geben mußte, so legte er ihm fünf Pfennige in die Hand mit einem höflichen und verlegenen Murmeln, denn er scheute sich und fürchtete, der Kellner würde beleidigt sein. Wie alles abgemacht war, hatte er ein leichtes Herz und ging durch die gedrängten Zimmer zurück aus dem Hause. Da fühlte er sich recht einsam und verlassen; denn einige gelbe Blätter hingen an den Kastanienbäumen,[95] Sperlinge zankten sich auf der Straße, ein grauer Dunst war in der Luft, und häßliche Farbentöne hatte alles, schmutzige und stumpfe; nichts Leuchtendes war da, welches das Herz leicht macht. Er wunderte sich, daß das Studentenleben so aussah; ganz anders hatte er es sich vorgestellt.

Seine Stube war ein langer und schmaler Raum, der eine Form hatte wie ein Handtuch; oben am Fenster stand der Schreibtisch mit einem Stuhl davor, dann kam ein Sofa mit einem Sofatisch, dann das Bett, endlich der Waschtisch; und bildeten diese Möbel eine Reihe, so daß man sich an ihnen allen vorbeidrücken mußte, wenn man zum Schreibtisch gehen wollte. Auf dem Waschtisch hatte er seine neue Spiritusmaschine aufzustellen gedacht; denn das hatte er sich so schön ausgemalt, wie er sich den Kaffee nachmittags selber kochen werde, und dabei wollte er dann fleißig studieren; aber die Wirtin sagte, das könne sie nicht erlauben, weil es ihre guten Möbel ruinieren werde, und er solle den Kaffee bei ihr in der Küche bereiten. So ging er jetzt mit der Kaffeemaschine, der Mühle und dem andern Gerät in der Wirtin Küche, und hatten die Leute nur die beiden Räume, also die vermietete Stube und die Küche, in der sie kochten, wohnten und schliefen, nämlich eine sehr dicke und schmutzige Frau, ein finsterer Mann, über den die Frau meistens schimpfte, eine Tochter von achtzehn und einen Sohn von zwölf Jahren.

Hans fand die Frau allein vor, die ihm seine Sachen abnahm und sagte, sie wolle ihm den Kaffee schon bereiten, und obzwar ihm die Leute widerstrebten, ohne daß er freilich den Grund recht wußte, so tat doch diese Freundlichkeit seinem einsamen und bedrückten Gemüt wohl, daß er in dem Augenblick eine Zuneigung zu der dicken Frau faßte und sich nach ihrer Einladung auf den Stuhl setzte, den sie vorher mit der Schürze abgewischt. Die Frau begann gleich zu klagen, daß ihr Mann oft keine Arbeit habe und alles vertrinke, und daß die Ferien über das Zimmer leer stehe, und seien die Studenten meistens unsolide und meinten, die Stube sei ungeniert, aber was wolle sie machen, sie sei eine arme Frau; und nachdem sie sich die Augen mit der schmutzigen Schürze gewischt, fuhr sie fort, daß ihre Tochter ihr auch Sorge mache, die sei hinter den Herren her, mit der werde es noch einmal ein[96] schlimmes Ende nehmen, aber sie könne es nicht halten. Wie sie noch so im Klagen war, kam die Tochter nach Hause und trug einen neuen Hut und fragte ihre Mutter, wie der ihr stehe; die schlug die Hände zusammen und jammerte über den Hut, da antwortete das Mädchen, den habe sie geschenkt bekommen von einem Herrn, und was sie treibe, das gehe die Mutter gar nichts an. Darauf zog die Frau Hansen in den beginnenden Streit und fragte ihn, ob wohl eine Tochter so antworten dürfe, das Mädchen ließ ihn aber gar nicht zu Worte kommen, sondern sagte, sie wolle essen, und schalt darüber, daß so weniges im Eßschrank lag. Inzwischen war der Kaffee fertig geworden, daß Hans gehen konnte; er hörte aber noch eine höhnische Bemerkung der Tochter, die auf ihn zielte, die verstand er zwar nicht, indessen machte sie ihn verlegen, und er wußte nicht recht, wie er sich benehmen solle, wenn er wieder in die Küche gehen mußte; durch die Tür drangen dann noch Worte der Mutter zu ihm, die eine Zustimmung zu den Reden der Tochter zu enthalten schienen. Da fühlte er sich wieder recht elend und unglücklich, und mit Sehnsucht dachte er an seine Heimat und an den Wald, und selbst sein Dachkämmerchen auf dem Löwenhof war ihm jetzt vertraulich in der Erinnerung, wiewohl er nie ein heimliches Gefühl darin gehabt, sondern es immer nur als bloße Unterkunft betrachtet hatte. Denn alles erschien ihm namenlos scheußlich, weil er sich auch eine Studentenbude immer ganz anders gedacht hatte, nämlich als ein Mansardenstübchen, niedrig und klein, aber von quadratischem Grundriß, mit einem alten ledernen Sofa und einem kleinen eisernen Ofen, in dem ein lustiges Feuer brannte, und mit einem großen Bücherbrett voller Bücher.

Nach dem Plane, den er sich von seiner Tagesarbeit gemacht, mußte er nun die gehörten Vorlesungen durcharbeiten. So nahm er das erste Heft vor, das enthielt lauter Literaturangaben über den Gegenstand, und er wußte nicht, was er mit diesen beginnen sollte, dachte, er müsse sie wohl auswendig lernen und schreckte dann zurück vor den vielen fremden Namen, an die sich ihm keine Vorstellung knüpfte; und bei dem zweiten Heft ging es nicht besser, denn hier hatte der Professor ganz weit hergeholte Dinge als Einleitung behandelt, die mit dem Gegenstand nichts zu tun hatten, und weil Hans nicht genau nachschreiben[97] konnte, sondern hatte Lücken lassen müssen, so wurde er aus dem Ganzen gar nicht klug. Derart stieg seine Betrübnis auf einen solchen Gipfel, daß er gar nichts mehr mit sich anzufangen wußte, und weil er gegen seine Unruhe doch irgend etwas tun wollte, so verließ er seine Stube und ging durch die Straßen. Er wurde bald müde, denn das Gehen auf dem harten Pflaster war ihm ungewohnt, und das Geräusch und die Menge der Manschen strengten ihn an, und wenn er die lange Straße hinuntersah, so erblickte er nur himmelhohe Häuser, Drähte und Steinpflaster, und nirgends ein Fleckchen Erde, wäre es auch nur so groß gewesen wie eine Hand. Nirgends war ein Fleckchen Erde, alles war mit Steinen bedeckt. Über eine Brücke ging er, aber auch die Ufer des Flusses waren mit Steinen vermauert. Da fiel ihm ein, daß in dieser Stadt ein Kind geboren werden konnte und aufwachsen, das gar nicht wußte, wie Erde aussieht, und wie ein Wald und ein Kornfeld und eine Wiese aussieht; und als er das dachte, hatte er ein großes Mitleid mit sich selbst.

So ging er, und die Füße taten ihm weh und die Schultern, und ein Ring lag ihm um die Stirn, und war ihm, als habe er sich ausgeweint und könne nicht mehr weinen. In solcher Verfassung blieb er, indem es begann zu dunkeln, und die Laternen wurden angesteckt und die Läden mit stechendem Licht erleuchtet, und die Menschen rasten immer gleichgültig vorbei. Am Ende trat er aus Müdigkeit in eine Wirtschaft, und weil er sich graute vor seinem Zuhause und es zudem doch noch am Anfang des Semesters war, so beschloß er, hier in der Wirtschaft zu Abend zu essen und nicht zu Hause, und wollte hier so lange bleiben, bis es spät genug war, daß er zu Bette gehen konnte.

Eine Kellnerin brachte, was er bestellte und setzte sich dann zu ihm an seinen Tisch, indem sie sagte, er sei gewiß erst seit kurzem in Berlin, und dann erzählte sie, ihr gefalle es sehr gut hier. Hans antwortete in der Weise, wie er gewohnt war, mit allen Menschen zu sprechen; da stand sie plötzlich auf, mitten in seinem Satze, in einer Art, als sei er ihr ganz verächtlich, und nachher war sie ganz fremd zu ihm, als habe sie nie freundlich an seinem Tische gesessen.[98]

Inzwischen füllte sich die Wirtschaft mit Gästen, und die meisten taten sonderbar vertraulich zu den Kellnerinnen, und es war, als ob alle, die hier in dem rauchigen und niederen Raum saßen, miteinander nahe bekannt seien. Nach einer Weile setzte sich an Hansens Tisch ein junger Mann, der aussah wie ein Künstler; dem brachte die Kellnerin ein Glas Bier und zwei Butterbrote, die aß er gierig, als sei er sehr hungrig. Wie er mit dem Essen zu Ende war, knüpfte er ein Gespräch an und erzählte, er wolle eine Operette komponieren und spiele hier in der Wirtschaft abends Klavier, wofür er fünfzig Pfennige und das beschriebene Abendbrot erhalte; aber von diesem Erwerb könne er nicht leben, und wenn nicht die gutherzigen Kellnerinnen wären, so müßte er verhungern, und seine Operette würde viel besser werden wie der »Zigeunerbaron«. Wie Hans antwortete, daß er dieses Werk nicht kenne, vertiefte sich der andre in musikalischen Erörterungen, und zwischenhindurch klagte er bitter über das Los der Künstler in der heutigen Gesellschaftsordnung. Am Ende verbeugte er sich mit großer Eleganz vor Hans, daß dieser sehr verlegen wurde, und ging zum Klavier, setzte sich, fuhr mit den Fingern durch sein langes und dichtes Haar und begann mit großer Geläufigkeit Tänze zu spielen; sein Spiel schien Hansen aber ganz seelenlos, obschon das Pianino viel besser war wie des Lehrers im Dorfe altes Klavier.

Bald darnach fragte die Kellnerin Hansen, ob sie dem Klavierspieler ein Glas Grog bringen solle, weil er sich doch mit ihm unterhalten habe, und indem Hans dachte, das müsse wohl so sein, bejahte er die Frage, aber er schämte sich doch sehr für den Musiker. Dieser nahm das Glas, wendete sich zu Hans, nickte ihm dankend zu, führte es an den Mund und fing dann gewandt einen neuen Tanz an.

Den ganzen Abend quälte sich Hans mit dem Gedanken, daß er nachher der Kellnerin ein Trinkgeld geben sollte, denn das kam ihm unzart und beleidigend vor, weil es nicht mit Herzlichkeit geschehen konnte und deshalb keine Freundlichkeit war, die den Empfänger zu ihm in solche menschliche Beziehung brachte, daß dessen menschliche Würde die gleiche bliebe, sondern er hatte das Gefühl, daß er das Mädchen dadurch unter sich drückte, ebenso wie am Mittag den Kellner und vorhin den Musiker. Viel Schmutz muß ein Mensch[99] erst an seinen weißen Kleidern haben, bis er gleichmütig das Geldstück in die vorgestreckte Hand eines dienernden Menschen gleiten läßt und unbewußt jede Liebenswürdigkeit, die ihm ein Niedrigerstehender erwiesen, durch eine kleine Münze vergilt, statt durch einen einfachen Dank; und nicht nur seinen Bruder zieht er herab, sondern auch sich selbst.

Wie Hans den peinlichen Augenblick überstanden hatte und sich zum Gehen wendete, verspürte er mit den geschärften Sinnen, die ein Mensch innerhalb einer feindlichen Umgebung hat, daß die Kellnerin sich hinter seinem Rücken gegen eine andre über ihn lustig machte, wie schon einmal an dem Tage die Wirtstochter gegen ihre Mutter getan. So wurde immer stärker das Bewußtsein in ihm, daß er lächerlich und dumm sei, und alle andern Leute waren viel gewandter, klüger und erfahrener wie er; denn solange wir die Welt noch nicht kennen, wissen wir die sittlichen Gegensätze nicht zu verstehen und beurteilen und halten sie für Gegensätze des Verstandes und der Erfahrung, und ist das einer der Gründe, weshalb mancher junge Mensch schlecht wird, der von Natur nur oberflächlich war.

Langsam und müde ging Hans heimwärts, und war es eben nach zehn Uhr, wie er an sein Haus kam, und deshalb war es schon dunkel auf den Treppen, aber er tastete sich schnell am Geländer nach oben. Als er fast oben angekommen, trat er auf einen Menschen, der dalag. Wie er schon ohnehin in erregter Verfassung war durch alles vorige, so stieß er einen Schrei aus und prallte zurück, daß er fast die steile Treppe hinabgefallen wäre. Auf das Geräusch wurde die Korridortür geöffnet und Hansens Wirtsleute, später auch die Nachbarn erschienen mit Lichtern, und da zeigte sich, daß eine betrunkene Weibsperson von etwa fünfzig Jahren auf den Stufen lag, die sich hatte auf den Hausboden schleichen wollen, um dort zu nächtigen, und nun hier von Trunkenheit und Schlaf übermannt war.

Der finstere und schwarzbärtige Wirt Hansens stieß das Weib mit dem Fuße an, bis sie sich halb erhob in ihren stinkenden Lumpen, und starrte mit dem aufgedunsenen Gesicht sinnlos in die Lampe, die der Mann in der Hand hielt; er brüllte, er wolle die Polizei holen, und gab ihr allerhand gemeine Schimpfworte, das Weib aber schien[100] nichts zu merken, sondern hockte da und sah zwinkernd mit rotgeränderten und tränenden Augen in die Lampe. Deshalb versetzte der Mann ihr wieder Fußtritte, um sie zum Aufstehen zu bewegen; aber da empfand Hans einen wilden Schmerz im Innern und rief, er solle das lassen und die Frau menschlich behandeln. Hierüber war der Mann erstaunt und erwiderte, wenn er selber betrunken sei, so werde er auch so behandelt, und das noch dazu von den Schutzleuten, die doch von den Steuern lebten, die er zahle, diese Person jedoch zahle keine Steuern. Über diese Worte aber schien seine Frau sich zu ärgern, denn die rief ihm verächtlich zu, er verdiene doch nichts und bezahle auch keine Steuern, und da lachten die andern Leute. Das brachte den Mann in Wut, so daß er sich nun mit seinen Schimpfworten an seine Frau wendete, und die Tochter griff mit in den Streit ein, indem sie in derselben verächtlichen Weise zu ihm sprach wie die Mutter. Da wollte der Mann die beiden schlagen, aber indem nun die Tochter kreischend fortlief und die fette Frau, die Arme in die Seite stemmend, ihn mit wackelndem Busen erwartete, hielten ihn die Nachbarn fest und suchten ihn zu beruhigen. Inzwischen hatte sich die Betrunkene unsicher erhoben, und weil sie noch ihren alten Plan in dem umnebelten Gehirn festhielt, so wollte sie höher steigen, sie trat aber auf ihre Lumpen, fiel halb, hielt sich mit den Händen an den schmierigen Stufen und starrte wieder in die Lampe. Nun erschien ein Schutzmann, den ein andrer geholt hatte. Der packte die Betrunkene und stieß sie vor sich her die Treppe hinunter, daß sie hätte kopfüber stürzen müssen; aber sie klammerte sich am Geländer fest und wimmerte. Hans konnte den Anblick nicht mehr ertragen, denn ihm wurde, als sei er krank, deshalb ging er in seine Stube, schloß hinter sich zu und schob den Riegel vor. So verlief der erste Tag von Hansens Studentenleben, und noch nie war er so unglücklich gewesen wie an dem Abend. Weshalb er ein so heftiges Gefühl von Jammer hatte, konnte er sich nicht klarmachen, und es war auch gut, daß er es sich nicht klarmachen konnte, denn sonst wäre er gänzlich verzweifelt. Denn dieser Tag führte den ersten und heftigsten Streich gegen seinen Glauben, und von heute an wurde ihm, Stück für Stück, Gott geraubt, denn alle diese Menschen, die er getroffen[101] hatte, waren ohne Würde gewesen: der Lehrer, der mechanisch sein Pensum ablas, und der Kellner, der gleichmütig seine Speisen brachte, und die Wirtin, und der Musikant, und die Betrunkene endlich. Und wenn es Menschen gibt, die keine Würde haben, so müssen wir an unsrer eignen Würde zweifeln: nicht mit dem Verstande, denn das ist alles über den Verstand, aber wir können nicht mehr den reinen Glauben und die klare, unschuldige Zuversicht haben.

Und wenn wir an unsrer Würde zweifeln, so können wir an keinen Gott mehr glauben, der über uns ist und durch den unser kleines Leben einer Eintagsfliege am Sommertage eine Bedeutung bekommt, die höher ist wie die Bedeutung von Millionen Welten; und auch dieser Zweifel kommt nicht aus dem Verstande, denn dieser ist noch weit mehr über allem Verstande; aber er kommt aus unserm ganzen Menschen.

Dergestalt bereitete sich bei Hans der Glaube vor, daß er ein Rad sei neben andern Rädern in einem großen Räderwerk, das für sich keinen Sinn hatte, welches die allgemeine Ansicht der Menschen war, mit denen er nun zusammenkam.


In einer philosophischen Vorlesung fand Hans seinen Platz neben einem älteren Studenten, der ihm durch seine eigne Art sehr auffiel, denn er hatte seine Stelle genau ausgemessen und durch Bleistiftlinien bezeichnet und erklärte Hansen, wie er das unumschränkte Recht innerhalb dieser Linien habe, außer daß er seine Nachbarn zur andern Seite müsse bei sich vorüber zu ihren Plätzen gehen lassen, und wenn jemand Bücher oder Hefte über die Linien hinaus neben ihn lege, so dürfe er die zurückschieben. Mit diesem jungen Mann wurde Hans schon beim zweiten Wiedersehen näher bekannt, indem sich die beiden nach jugendlicher Art über die philosophischen Fragen unterhielten, welche die ihre Generation beschäftigenden waren; und indem sie nicht wußten, daß das, was jeder für sich gedacht, von vielen Altersgenossen geteilt wurde, waren sie recht verwundert über häufige Übereinstimmungen ihrer Ansichten und empfanden die als Veranlassung zu engerem Verkehr; und es bewirkte der Jahresunterschied gleich, daß Hans als der Nehmende erschien und Heller, denn so nannte sich der andere, als der[102] Gebende, der ihm lehrte mit Freude und Genugtuung. Dieses war das erste Mal, daß Hans das Gefühl der Freundschaft empfand, welches der Liebe verschwistert ist, und so folgte er mit Bewunderung, Glauben und Zuversicht allem, was ihm Heller sagte; der aber stand völlig, wie er sich ausdrückte, auf dem modernen Standpunkt und hatte auch einen Kreis von gleichgesinnten Freunden, die zu bestimmten Zeiten zusammenkamen, das waren Studenten, junge Kaufleute, junge Schriftsteller, Maler, Musiker und ähnliche. Bei diesen führte er Hansen ein, wiewohl der eine große Besorgnis hatte, daß er werde vor solchen Leute nicht bestehen können mit seinem kleinen Wissen und Vermögen, und saßen sie in einem engen Hinterzimmer einer geringen Wirtschaft, das an den übrigen Tagen von Gesellschaften und Vereinen kleiner Bürger eingenommen war, die sich in sonntäglicher Gewandung und mit Bierfässern hatten photographieren lassen, um die Wände des Zimmers zu schmücken.

Hans fand seinen Platz zwischen zwei jungen Mädchen, die sich mit großem Eifer an den Reden beteiligten. Die eine war eine Russin und hatte einen russischen Studenten als Begleiter, mit dem sie in freier Liebe lebte; das war ein schweigsamer Mensch, von einer leuchtenden Blässe des Gesichtes, mit hoher Stirn und ganz dunklem Haar und langem schwarzen Bart, den er unablässig strich. Der lange Bart, den bei uns einer als Vierzigjähriger haben würde, sah sehr merkwürdig aus in dem ganz jugendlichen Gesicht. Eine Zeitungsnotiz wurde in der Ecke gelesen und besprochen, die mitteilte, daß des Russen Bruder, der als ein hervorragender Revolutionär galt, in Petersburg gefangen genommen war und in Schlüsselburg untergebracht; und wie über den Tisch herüber der Russe nach der Art des Gefängnisses gefragt wurde, machte er mit unverändertem Gesicht eine Handbewegung, die bedeutete, daß sein Bruder dort sterben werde, dann bat er mit fremdartiger Aussprache seinen Nachbarn um eine Zigarette. Er war ärmlich gekleidet, und es wurde erzählt, er sei sehr wohlhabend und gebe fast alles für die Unterstützung der Arbeiterbewegung aus; auch die Frau trug sich sehr einfach und schien dazu unordentlich und sollte von sehr vornehmer Abkunft sein und aus Überzeugung ihre Familie verlassen haben.[103]

Hans kam in eine weihevolle Stimmung, und ihm war, als sitze er neben Aposteln; denn diesen Leuten erschien ihre Pflicht einfach, und sie taten sie ohne Ruhmredigkeit. So erzählte der Russe, er wolle mit seiner Frau bald in sein Vaterland zurückkehren und hoffe, daß er etwa ein Jahr lang wirken könne, bis man ihn nach Sibirien schicke. Am allgemeinen Gespräch beteiligte er sich sehr wenig und hatte eine sonderbare Art, verächtlich über Menschen und Gedanken zu reden.

Die andere Dame, welche Helene genannt wurde, hatte die Begleitung ihres Bruders, und waren die beiden das erstemal in der Gesellschaft und wurde von ihnen erzählt, daß sie soeben sich von ihren Eltern getrennt hätten und allein lebten; der Vater der beiden war ein kleiner Kaufmann, dessen älterer Sohn war befreundet mit einem Mitglied des Kreises, der offiziell zur sozialdemokratischen Partei gehörte; der hatte ein Paket verbotener Schriften bei seinem Freunde hinterlegt, weil bei dem niemand einen Verdacht haben werde; der Vater aber hatte die Schriften gefunden, wie er in argwöhnischer Besorgnis seines Sohnes Sachen durchsuchte, und war mit ihnen gleich auf die Polizei gegangen aus Angst und aus unbedachtem Ärger über seines Sohnes Verkehr. Weil nun einige Schriften in mehreren Stücken vorhanden waren, so nahm die Polizei an, das Paket sei zur Verbreitung bestimmt, und verhaftete den Sohn des Angebers zu dessen großer Bestürzung, und weil sich bei weiterem Nachsuchen der eigentliche Besitzer leicht ermitteln ließ, nachher auch den sozialdemokratischen Freund. Der andre Sohn und die Tochter waren über die Handlung ihres Vaters so entrüstet, daß sie erklärten, sie wollten nunmehr nicht mehr in ihrer Familie bleiben, gingen von Hause fort und mieteten sich zwei Zimmer, um für sich zu leben, was ihnen dadurch möglich war, daß sie beide Geld verdienten, nämlich der junge Mann als Reisender und das Mädchen als Buchhalterin in einem Geschäft.

Der junge Mann, der sich in der fremden Gesellschaft einsam fühlte, begann ein Gespräch mit Hans, weil der gleichfalls hier unbekannt war, und als ein redegewohnter Herr fing er bald an zu erzählen, und Hans hörte zu. Er erzählte aber mit Stolz, welche Kunstgriffe er auf seinen Geschäftsreisen anwende, um den Bürstenbindern,[104] denn sein Artikel war Schweineborsten, Ware zu verkaufen; so habe er auf einer Tour dem jungen Mann eines Konkurrenten alle Aufträge vorweggenommen, indem er sich mit ihm angefreundet habe und ihn abends eingeladen und so betrunken gemacht, daß er sein Notizbuch durchsehen konnte. Über diese Erzählung erstaunte Hans sehr und sagte, eine solche Handlungsweise sei doch nicht redlich, der andre aber erwiderte, im Geschäft sei das nun einmal nicht anders, und wer ein guter Geschäftsmann sein wolle, der er selbst auch wirklich sei, der müsse so handeln. Die Schwester aber nickte Hansen zu und gab ihm recht; und indem sie sagte, daß sie zu ihrem Bruder schon immer ähnlich gesprochen habe wie er, setzte sie ihre Worte so, daß gleich eine freundliche und vertrauliche Beziehung zwischen ihr und Hansen entstand. Dann sagte sie zu ihm, er dürfe es nicht unpassend finden, daß sie zwischen so vielen jungen Herren sei, denn die seien doch alle Männer, die das Höchste wollten, und zudem werde sie ja auch von ihrem Bruder beschützt.

Inzwischen hielt jemand einen Vortrag darüber, ob man wohl auf der Bühne das wirkliche Leben ganz genau darstellen könne, und kam zu dem Ende, daß das nicht möglich sei, weil man ja auf der Bühne immer eine Wand fehlen lassen müsse, nämlich nach dem Zuschauerraum hin; über diesen Vortrag bezwangen die meisten ein Lachen, Heller aber lobte den Redner laut, das Hansen sehr von seinem Freunde verdroß, denn es schien ihm unehrlich. So folgten noch allerhand Reden und Gespräche.

Hans brach mit den Russen zugleich auf, und wiewohl es schon recht spät war, nahmen ihn die beiden doch noch mit sich in ihre Wohnung. Dieselbe bestand aus drei recht elenden Räumen, die hatten aber eine besondere Bedeutung, denn ein großer Teil der Freiheit, welche das Paar genoß, wurde durch diese Wohnungseinrichtung erzeugt. Sie wollten nämlich wie zwei gute Kameraden zusammen leben, nicht so, wie es in der heutigen Ehe sei, daß das Weib vom Manne unterdrückt und ausgebeutet wird; deshalb hatte der Mann eine Stube für sich, und die Frau hatte eine Stube; und nur in wichtigen Fällen und nach besonderer Anfrage und Einwilligung durfte einer des andern Raum betreten; in der Mitte aber lag ein Zimmer, das ihnen beiden[105] gemeinschaftlich gehörte und vornehmlich für die Einnahme der Mahlzeiten bestimmt war. Hatte einer Lust, mit dem andern zu plaudern, so ging er in dieses Zimmer und klopfte an der Tür des andern, und wenn der wollte, so kam er heraus, wenn er aber nicht wollte, so beachtete er das Klopfen nicht, und jener ging wieder in seine Stube zurück.

Auf dem Tisch in diesem Mittelzimmer stand eine russische Teemaschine, deren Schlot der Mann mit Kohlen füllte, die er schnell zum Glühen brachte, und unterdessen legte die Frau einen Hering, in Zeitungspapier gewickelt, auf die Tafel, ein Brot und ein Messer. Das geschah beim Schein einer alten Petroleumlampe, der die Glocke fehlte. Der Mann ging mit weiten Schritten in dem Stübchen auf und ab, und indem er seinen weichen und schwarzen Bart langsam strich, blickte er gradeaus ins Leere, wie wenn er in weiter Ferne ein Ziel sehe, das für andre unsichtbar war durch die Wände mit den schmutzigen Tapeten; dazu erzählte er in abgebrochenen Sätzen mit fremdartigen Tönen von Schlüsselburg, daß dort die Zellen der Gefangenen unter dem Wasserspiegel lägen, und die Gefangenen würden nach zwei oder drei Jahren wahnsinnig. Die Lampe flackerte durch den Luftzug, wenn er vorbeiging. Seine Frau saß auf dem verdrückten und lumpigen Sofa und hatte die Beine auf den Sitz gezogen und die Arme um die Knie geschlagen; sie starrte unbeweglich vor sich hin.

Der Bruder war ein Künstler gewesen, ein Musiker. Ganz zarte, weiche Hände hatte er gehabt, die schonte er ängstlich seiner Kunst wegen, daß er sogar im Bette des Nachts Handschuhe trug. Ein merkwürdiges Leben hatte er in seinen Fingerspitzen; einmal durchblätterte er ein Buch, da sagte er plötzlich, das Blättern mache ihn krank, und war ganz blaß geworden und hatte fieberige Augen. Wie nun sein erstes Werk gedruckt wird und er der Korrekturen wegen in der Druckerei zu tun hat, da sieht er, wie die Bogen von der Maschine gebracht werden, in hohen Stößen, an einen Tisch, wo Kinder sitzen, welche die Bogen falzen müssen; ganz kleine Kinder waren das, von neun Jahren höchstens, Knaben und Mädchen, die sahen blaß aus und hatten fieberige Augen, und griffen eilfertig ein jedes zu, nahmen den Bogen vor sich und falzten. Als er sie befragte, antworteten sie, daß sie oft Kopfschmerzen haben, weil sie vierzehn Stunden lang jeden Tag[106] gedruckte Bogen von einem Stoß nehmen müssen, knicken und falzen; aber es war nicht wegen der Fingerspitzen, die waren hart geworden. Zum Spielen hatten sie keine Lust, sondern sie wollten Geld verdienen und hofften, wenn sie erst erwachsen waren, so wollten sie sich Branntwein kaufen, jetzt nahmen ihnen die Eltern immer ihr Geld weg. Wie er das gehört hatte, da warf er seinen kostbaren Pelz ab und schenkte den einem Kinde, es solle ihn seinem Vater geben, und dann setzte er sich zu den Kindern, nahm einen Stoß Notenbogen und falzte Bogen, und wie seine Fingerspitzen bald rot wurden und feurig, da begann er plötzlich irr zu reden und wurde nach Hause gebracht in einem Wagen und verfiel in eine schwere Krankheit, in der er nichts von sich wußte, sondern schrie beständig, daß er Kinder gemordet habe, und einmal schrie er auch, er habe Kinderfleisch gegessen. Wie er wieder aufstand, mochte er nichts mehr von seiner Kunst hören, sondern kleidete sich in Lumpen und ging ins Volk, pilgerte auf der Landstraße, arbeitete, was seine schwachen Kräfte konnten, und sagte den Leuten, der Kaiser und die Beamten und die Reichen müßten ermordet werden. Einmal banden ihn die Arbeiter, die ihm zuhörten, und führten ihn vor den Richter, aber er entsprang wieder aus dem Gefängnis. Ein verlorenes Mädchen lachte ihm zu, eine ganz niedrige Dirne, die von den Soldaten geliebt wurde. Zu der sagte er, daß er sich vor ihr schäme, weil sie ein größeres Leiden trage, wie einem Manschen möglich sei, da weinte sie, ging mit ihm und diente ihm. Zuletzt wollte er sich als Arbeiter verdingen bei einem Bau, wo er Gelegenheit hatte, etwas gegen den Kaiser zu unternehmen, da wurde er verhaftet, und nun wird er bald sterben, denn er ist ganz krank.

Eine Zeitlang ging der Mann stumm auf und ab. Dann sagte seine Frau: »Ich weiß, woran er sterben wird, an der Lüge. Denn wir sind alle krank an der Lüge.« Darauf sprach sie ein heftiges Schimpfwort gegen die Deutschen. »Ich habe uns durchforscht«, erwiderte der andre, »und ich glaube, wir lügen nicht. Aber wir sind feige. Das ist das Verzehrende.« Nun begannen die beiden einen Streit und erniedrigten jeder sich selbst und einer den andern, und ein sonderbarer Haß war in ihnen, und ihre Augen leuchteten voll Feindseligkeit. Auf Hansen nahmen sie gar keine Rücksicht, als sei er nicht vorhanden, und begannen[107] russische Sätze zu sprechen, und plötzlich, inmitten einer großen Erbitterung, sprang die Frau vom Sofa und warf ihre Arme um den Hals des Mannes und redete ihn mit heftigen Liebkosungen an; da strömten aus seinen Augen die Tränen, und sie beklagte ihn, wollte ihn begütigen und war glücklich und froh. Indessen kam unter dem Sofa ein Kätzchen hervor, das dehnte sich, sprang auf das Polster und machte einen krummen Rücken, da eilte Natascha zu ihm und liebkoste es stürmisch.

In übler Verfassung verließ Hans das Haus der Russen, und mochte es gegen drei Uhr in der Nacht sein, wie er durch die verödeten Straßen fröstelnd ging. Straßenreiniger mit einer sonderbaren Maschinerie begegneten ihm. An der Ecke stand ein Mann, der in einem blankgeputzten Kessel warme Würstchen zum Verkauf bot, dessen Kundschaft bestand vornehmlich aus Studenten, die in später Nachtstunde nach Hause gingen, und von diesen sowie in Erinnerung an vorige Tage, die besser waren, hatte er sich ein eignes Wesen angewöhnt. Hans blieb vor der jammervollen Gestalt mit dem aufgedunsenen Gesicht zerstreut stehen. »Dic, cur hic?« redete ihn der Mann an, dann holte er mit der Gabel ein Würstchen hervor und begann mit Berliner Redensarten seine Anpreisung. Hans nahm und bezahlte, und wie der Mann sein Gesicht sah, fuhr er mit Erzählungen und Ruhmredigkeit fort und sagte, Hans habe wohl keinen Sinn für das studentische Leben, und ein jeder müsse der Gottheit folgen, die ihn antreibt; so habe er für seine Person immer eine besondere Neigung zur Germanistik gehabt, und wenn er nicht durch den Trunk so heruntergekommen wäre, so könnte er jetzt wohl auf einem Lehrstuhl sitzen mit mehr Recht wie mancher andre, der weniger wisse wie er. Aber auch so, wie er jetzt nachts an der Straßenecke stehe, sei noch ein Drang zum Höheren in ihm, wie in jedem Menschen, denn er sei Volksanwalt und setze für das Volk Klageschriften und Gesuche auf, und wenn er freie Stunden habe, so lese er; so habe er Claurens sämtliche Schriften durchstudiert, weil der Mann heute unterschätzt werde, denn keiner von den gelehrten Herren gebe sich die Mühe, ihn durchzulesen.

Über diesem Geschwätz befiel Hansen ein heftiger Widerwille und zugleich eine sonderbare Angst, daß er sich von dem Manne losmachte[108] und weiterging; und es war nun das erstemal, daß ihn die Angst befiel, die ihn von dieser Zeit an immer begleiten sollte. Sie war ganz unbestimmt und richtete sich auf nichts nach vorwärts noch nach rückwärts, aber ihm war, als begehe er ein großes Verbrechen. Jetzt schien ihm das Gefühl noch sonderbar, und er suchte nach Gründen oder Ursachen; und wie er in seinem Verstande nichts fand zur Erklärung, so wurde sie immer heftiger, daß er am Ende Furcht hatte vor dem Alleinsein und nicht nach Hause gehen mochte. In solcher Verfassung traf er einen jungen Dichter namens Krechting, den er vorher in der Gesellschaft gesehen; den begrüßte er und folgte ihm in ein Café. Krechting war ein kleiner und verwachsener Mensch, der schweigend mit langen und dünnen Beinen rüstig ausschritt, bis sie an ihren Ort kamen. Da setzten sie sich, und Krechting blickte finster vor sich hin; ganz unvermittelt fragte er dann Hansen, ob er bei den Russen gewesen sei, und wie der bejahte, pfiff er leise und trommelte mit den Fingern auf dem Marmortischchen. In dem hellen Raum saßen viele verlorene Mädchen, die sich geschminkt und geputzt hatten und deren Augen glänzten; einige suchten die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, viele aber waren müde und ausdruckslos. Hans hatte den Drang, von sich zu erzählen, und hätte mögen über seine Angst klagen, wenn der andre ihn nicht so kalt und zerstreut angesehen hätte, daß er nicht sprechen konnte. Auf der Schule hatte er den Namen Krechtings gelesen und eine undeutliche Kunde von ihm war zu seinen Ohren gedrungen, daß er eine große Achtung vor ihm gehabt; aber dieser Mensch hier entsprach gar nicht seiner Vorstellung. So stieg seine Angst und Unruhe, bis er aus Verlegenheit eine gleichgültige Erzählung begann, der Krechting eben mit so viel Aufmerksamkeit zuhörte, indem er flüchtig eine Zeitung überflog, daß Hans nicht verstummte; einmal machte er eine bissige Bemerkung über einen Schriftsteller, dessen Namen in dem Blatt erwähnt war, dann legte er es weg und sah trübsinnig vor sich hin. Endlich begann auch er zu reden und sprach abgerissen und fast für sich selbst, daß er nun zehn Jahre so lebe, indem er die Nächte durch irgendwelches Geschwätz anhöre, dann an solch ekelhaften Ort gehe wie hier, und in der Frühe komme er nach Hause; den Tag verbringe er mit sinnlosem Tun, und er wisse gar nicht, wozu das alles sei. Unterdessen[109] seien alle seine Freunde zu Ruhm und Reichtum gestiegen, um ihn aber bekümmere sich kein Mensch. Deshalb habe er sich immer gewünscht, wenigstens einen Hund möchte er halten, damit ihn doch ein lebendes Wesen erwarte bei seiner Heimkunft, indessen seine Wirtsleute hätten ihm das nicht zugegeben. So habe er sich denn ein Glas mit zwei Goldfischen gekauft, aber die seien ihm langweilig. Hans fühlte, wie aus dem andern ein Haß gegen ihn strömte, und in ihm erhob sich ein Widerwille, wie vorher gegen den Menschen auf der Straße. Indessen erklärte Krechting sein Wesen, daß er einen Jugendfreund gehabt, mit dem habe er alle Gedanken geteilt, und seit der tot sei, bleibe für ihn die Welt leer und kalt, denn er brauche einen Menschen, von dem er zehren könne, und für sich allein sei er nur ein Schemen. Hans solle das nicht für Eitelkeit halten, wenn er ihm solche Geständnisse mache, denn ihm sei es gleich, daß er gerade zuhöre, nur habe er ein Bedürfnis, zu irgendeinem Menschen zu sprechen.

Ein Mädchen setzte sich an den Tisch der beiden, indem sie ihnen den Rücken drehte, und es fiel Hansen auf, wie durch die dünne Seidenbluse sich die Bewegungen ihrer Schulterblätter bemerkbar machten bei den Gesten, durch die sie einen Eindruck in einem verschlafenen jungen Menschen erwecken wollte, der in ihrer Nähe saß. Krechtings Augen waren wunderlich trübe geworden, wie er sie auf den Rücken des Mädchens geheftet hielt; und indem sein Gesicht eine große Anstrengung des Überlegens aufwies, fuhr er fort, daß er den Russen beneide, trotzdem der ein unreinlicher Mensch sei, ein Stück Heiliger, ein Stück Narr und ein Stück Schuft; aber dem sei es doch möglich geworden, sich die letzten Zwecke zu verschleiern durch seine sozialistischen Banalitäten, und dadurch sei der glücklich; er jedoch, Krechting, könne sich nicht blind machen, denn er wisse, daß es ein Ziel geben müsse jenseits des banalen Glückes für sich selbst oder für andre; aber er vermöge nicht zu erkunden, welcher Art und Natur dieses Ziel sei, denn er sei kein vollständiger Mensch, und ihm fehle irgendetwas, das sein Jugendfreund gehabt, und den habe er verzehren müssen. Indem fühlte das Mädchen die Augen Krechtings im Rücken, drehte sich um und lächelte den beiden zu. Über Hansen kam ein Schauer als vor etwas Grausigem und Gespensterhaftem; eilig stand er auf, entschuldigte[110] sich verwirrt und ging fort, denn es war ihm plötzlich gewesen, als sehe er zwei leblose Masken und als sei Vernichtung und Nichtsein hinter dem gedankenlosen Lächeln der Dirne und hinter den trüben Augen und den gespannten Zügen Krechtings.

Lange irrte er noch durch die Straßen, die bereits wieder lebendig wurden durch die Menschen, welche in der Frühe ihre Geschäfte betreiben müssen, bis er endlich todmüde war, und seine Gedanken waren gänzlich verschwunden; so ging er nach Hause und legte sich zu unruhigem Schlaf. Aus dem erweckte ihn am andern Morgen Heller, der unerwartet zu ihm kam; und indem er auch im Schlummer noch unter dem Eindruck des Abends gestanden, fuhr er erschreckt in die Höhe durch den Anruf des Besuchers.

Heller begann damit, daß man vor wichtigen Entscheidungen des Lebens das Bedürfnis habe, sich einem Freunde mitzuteilen, weniger, um dessen Rat einzuholen, denn ein jeder tue ja doch, was er schon vorher gewollt habe, als um selbst zur Klarheit des Willens zu kommen durch die Aussprache. Nach dieser Einleitung erzählte er, daß Helene, die er gestern zum ersten Male gesehen, einen sehr starken Eindruck auf ihn gemacht habe, vornehmlich durch eine gewisse Kühnheit und Überlegenheit des Willens, die er in ihren Zügen bemerkt, wozu dann noch der Gedanke gekommen sei, daß sie sich dieselben Gedanken errungen habe, die er selbst vertrete und voraussichtlich, denn ganz sicher könne man ja nie wissen, ob man seine Meinungen nicht ändern werde mit den älter werdenden Jahren, auch immer vertreten werde; und sei sein Geist so sehr mit diesem allen beschäftigt gewesen, daß er wohl gemerkt, dieses seien die Anfänge der Liebe. Nun halte er es für eine große Verschwendung von Kraft, wenn sich jemand einem solchen Gefühl hingebe, das durch die Zeit und die Hoffnung immer stärker werde, und dann vielleicht am Ende erfahre, daß die geliebte Dame seine Gefühle gar nicht erwidern könne oder möge; denn nicht nur die Zeit, die in der Hoffnung verbracht, sei alsdann für eine andere Tätigkeit verloren, die vielleicht mehr beglückt hätte, und wir sollten doch immer in unserm Leben das größte Glück zu erringen suchen, das uns möglich sei, ohne unsern Mitmenschen zu schädigen; sondern auch nachher, wenn er die Enttäuschung gehabt, komme eine verlorene Zeit, die je nach der Persönlichkeit[111] des Betreffenden länger oder kürzer sei, in der einer sich nicht glücklich fühle und für alles andre unzugänglich bleibe. Aus diesen Gründen habe er sich entschlossen, schon jetzt dem Fräulein seine Gefühle zu entdecken, obgleich dieselben noch gar nicht bis zur Liebe gediehen seien, sondern nur die Möglichkeit böten, daß sich aus ihnen Liebe entwickle, welches er ihr genau und psychologisch auseinandersetzen werde, und sie dann nur fragen, ob sie meine, daß unter Umständen, wenn nämlich er sich so entwickle, wie er denke, auch sie sich so entwickeln werde, daß sie seine Liebe erwidern könne; über das sie ihm ja wohl keine ganz sichere Antwort geben werde, denn durchaus Gewisses vermöge in psychologischen Dingen kein Mensch zu sagen; aber einen ungefähren Anhalt könne sie ihm wohl bieten. Sollte alsdann die Antwort so ausfallen, wie er annehme, so wolle er ihr vorschlagen, daß sie öfters zusammenkämen, vielleicht eine Stunde täglich, und in dieser Zeit wollten sie über Literatur, Psychologie oder Sozialismus sprechen, wobei sie sich dann genauer kennen lernen würden, und so werde sich ihre Liebe nicht in phantastischer Weise entwickeln, sondern in genauem Zusammenhang mit der Wirklichkeit und den beiderseitigen psychologischen Tatsachen.

Dieser Plan erschien Hansen sehr schön und würdig solcher neuen und vollkommenen Menschen, wie Heller und Helene waren, deshalb lobte er ihn sehr und wunderte sich viel im Innern über die Menschenkenntnis und Klugheit seines Freundes. Da er aber durch seine häusliche Erziehung gewöhnt war, immer an die notwendigen Unterlagen des Lebens zu denken, so fragte er, wie der Freund sich nun seine Absichten weiter ausgedacht habe, wenn alles so eintreffe, nämlich er zu Helene und Helene zu ihm eine Zuneigung fasse.

Hierauf erwiderte Heller, daß allerdings an eine bürgerliche Ehe nicht zu denken sei, indessen könnten sie beide als gleichberechtigte und freie Menschen einen Vertrag abschließen, da sie ja ihre Gesinnungen hätten, und er selbst verdiene durch Stunden, die er Gymnasiasten gebe, so viel, daß er seinen eigenen Lebensunterhalt bestreite, und Helene habe gleichfalls ihr Auskommen, da sie einen Beruf und eine Stellung habe; indem sie aber zusammenlebten, würden sie in manchem noch sparsamer wirtschaften wie jetzt jeder einzelne, wie sich ja im[112] kleinsten schon der Vorteil des Großbetriebes erweise; so wurden sie zum Beispiel das Mittagessen zwar wie vorher in einer Gastwirtschaft zu sich nehmen, aber das Abendessen würden sie sich zu Hause bereiten, wobei sie nicht nur mehr Glücksempfindungen in sich auslösen könnten, sondern auch sehr viel sparen. Nach diesem fuhr er fort, was Hans in seiner Antwort noch gar nicht beachtet habe, das sei, daß hier einmal eine der seltenen Gelegenheiten gegeben werde, wo zwei Menschen verschiedenen Geschlechtes in durchaus sittlicher Weise zusammenleben könnten. Denn in der auf Unterdrückung und Ausbeutung beruhenden bürgerlichen Ehe, wie wir wissen, ist ein wirtschaftlicher Zwang da für die Frau, daß sie beim Manne bleibt, auch wenn sie aufgehört hat, ihn zu lieben, denn sie würde ohne Unterhalt sein, wenn sie von ihm ginge. Dagegen in dem vorliegenden Falle halte nur die Liebe die beiden Gatten zusammen, und wenn bei dem einen das Gefühl erlösche, das doch das Natürliche sei, weil alle unsere Gefühle eine Kurve beschreiben bis zu einer Höhe und von da wieder bis zum Nullpunkt, so könne dieser dem andern ruhig seinen Zustand enthüllen, und die Trennung des Verhältnisses, das alsdann ja unsittlich sein werde, sei sehr leicht.

Nachdem Heller sich durch seine Erzählung und Darlegung Klarheit über seine Absichten verschafft, machte er sich gleich ans Werk, seinen Plan durchzusetzen, ging zu der Speisewirtschaft, wo Helene in ihrer Mittagspause ihr Essen einnahm, und traf sie dort allein an einem Tische sitzend. Es war eine Wirtschaft, wo man für billiges Geld ißt, und die Tischtücher hatten viele Flecken, und ein häßlicher Geruch war in der Luft, und eilfertige Kellner liefen hin und her, indem sie ein großes Klappern mit den Tellern machten.

Wie Heller seine Rede ungefähr in der Art vortrug, mit der er zu Hansen gesprochen hatte, wurde Helene ziemlich verlegen, denn in Wirklichkeit wußte sie gar nichts von den Ansichten, die er bei ihr voraussetzte, und hatte nur öfters über manche Reden ihres Bruders lustig gelacht, der jetzt im Gefängnis war, denn sie hielt den für etwas töricht. Nun verstand sie zwar nicht alles von dem, was Heller ihr erklärte, und wußte auch nicht recht, welche Absichten er ihr ausdrücken wollte, weil sie aber sich nie anders gedacht hatte, als daß sie einmal[113] nach ihres Kreises Sitte heiraten werde, etwa einen elegant gekleideten Geschäftsreisenden, der ihr jeden Sonntagvormittag einen Blumenstrauß schickte, solange sie mit ihm verlobt war, so fand sie doch aus der Verwirrung heraus, daß Heller sich mit ihr verloben wolle, aber das solle noch eine Weile geheim bleiben. Deshalb sagte sie unter häufigem Stocken ihrer Rede, sie könne ihm auf seinen Antrag nicht recht antworten und wolle sich das überlegen, was er gesagt habe; denn da er ein Student war und ihr feiner erschien wie ein Kaufmann, so hatte sie wohl eine gewisse Zuneigung zu ihm. Auf diese Worte erwiderte Heller, daß er keinen andern Bescheid gehofft habe, und sehr zufrieden mit diesem sei; nur bitte er sie alsdann, daß er sie nun täglich zu einer bestimmten Stunde besuchen dürfe. Auf dieses antwortete Helene, daß ihr Bruder, mit dem sie zusammenlebte, augenblicklich nicht auf einer Geschäftsreise war, und sie verbrächten die Abende immer zusammen in ihrer Stube, und wenn es ihm recht sei, so würden sie beide sich sehr freuen, wenn er sie da besuche; sobald ihr Bruder aber reise, was in etwa zwei Wochen geschehe, weil da die Saison für den Einkauf der Schweineborsten anfange, so dürfe er nicht mehr kommen, weil sie alsdann allein bleibe, und die Leute würden ihr Übles nachreden, wenn sie ohne Beschützer seinen Besuch empfinge, obwohl er ja ein gebildeter Mann sei. Zwar schien diese Rede Heller nicht ganz das zu sein, was er gemeint hatte, trotzdem aber war er voller Freude und Hoffnung, verabschiedete sich von ihr mit Liebe und erwartete mit Zuversicht den Abend. Unterdessen besuchte Hans den Bruder Helenens, der Kurt hieß, und tat das nicht aus einer besonderen Zuneigung, sondern aus Bescheidenheit, weil er gern die andern näher kennen wollte und doch nicht wagte, an sie heranzutreten, mit Kurt aber hatte er an dem Abend manches besprochen. Er traf ihn im Geschäft in einem kleinen Stübchen, wo er einem Arbeitsgenossen gegenüber an einem Schreibpult stand und an Geschäftsbriefen schrieb. Im Zimmer war nur noch der Telephonkasten und ein großer Geldschrank, in dessen offener Tür steckte der Schlüssel, und an dem Bund hingen noch andre Schlüssel. Es war die Zeit der Mittagspause, und wie Kurt Hansen begrüßte, richtete sich auch der andre Herr von seiner Arbeit auf, schloß den Geldschrank ab und steckte die Schlüssel in die Tasche und bereitete sich zum[114] Essen. Kurt sagte ihm, er werde noch einmal ein Unglück erleben, wenn er die sämtlichen Geschäftsschlüssel, von der Haustür angefangen bis zum Geldschrank, so leichtsinnig behandle. Inzwischen machte auch er sich straßenfertig und wanderte mit Hans zu der Wirtschaft, wo die beiden zusammen Mittag essen wollten. Wiewohl Hans zu Kurt keinerlei geistige Verwandtschaft spürte, wurde er in der Folge doch weiter mit ihm bekannt, und weil seine Wohnung nicht weitab vom Geschäft des andern lag, so machte es sich wie von selbst, daß er ihn öfters zum Mittagessen abholte, bei dem sie dann über allerhand gleichgültige Dinge mit einer gewissen Behaglichkeit redeten. Auch den Besitzer des Geschäftes lernte Hans kennen, der ein recht wunderlicher und altväterischer Mann jüdischer Abkunft war, welcher zu Hause unterdrückt wurde durch seine Frau; die hatte allerhand Bildungsinteressen und ließ ein verstiegenes Wesen schauen. Diese traf Hansen einmal im Geschäft, redete ihn an, und nachdem sie schnell allerhand aus ihm herausgefragt, lud sie ihn zu sich ein, weil er ihren Kindern Freude machen werde. Sie hatte eine hohe Haarfrisur und rauschte stattlich mit einem schwarzseidenen Kleide in dem engen Raume. Unterdessen nahm Hellers Liebschaft ihren weiteren Verlauf. Er war mit Zolas Buch über den Experimentalroman angekommen und hatte den Geschwistern vorgelesen und erklärt, was für Kurt zwar recht langweilig war, aber Helene faßte eine stärkere Zuneigung zu ihm, wiewohl auch sie nur wenig von dem begriff, was er vortrug; und da einem Verliebten solche Zuneigung nicht verborgen bleiben kann, so kamen die beiden bald zu einer Aussprache, wobei Helene jedoch immer noch in ihrem Irrtum verharrte, daß es sich bei Heller um regelmäßige und bürgerliche Absichten handle. Unter solchen Umständen, und da ihr schien, als wolle Heller aus Zartgefühl nicht mit ihren Eltern reden wegen der Handlungsweise ihres Vaters, ging sie zu ihrer Mutter, um der ihr Herz auszuschütten und ihren Rat einzuholen, und die, welche niemand aus dem ganzen Kreise kannte und sich keine rechte Vorstellung von allem machen konnte, teilte alles dem Vater mit. Dieser war zwar im Grunde einverstanden mit Helenens Wahl, weil er dachte, daß ein Studierter, wenn er erst angestellt sei, ein angesehenes Amt und sicheres Einkommen habe; aber weil er über Hellers Studien und Aussichten nichts[115] wußte, so beschloß er, seine Zustimmung erst noch zurückzuhalten und vorerst den Bewerber um alles zu fragen, was ihm nötig erschien.

Er kam deshalb am Sonntagvormittag im Besuchsanzug und mit dem Zylinder, der von sehr alter Form war, in Hellers Wohnung und begann in freundlicher Weise mit dem zu reden, indem er Helene lobte und erzählte, daß er selbst immer sehr viel Sinn für Bildung gehabt habe und auch das Konservationslexikon in Lieferungen beziehe, und für eine Ehe sei natürlich das Wesentliche gegenseitige Liebe und Hochachtung, er aber als Vater habe doch die Verpflichtung, außerdem noch einen Punkt zu bedenken; und bei diesen Worten machte er die Gebärde des Geldzählens und sah Heller erwartungsvoll an. Der war recht verlegen über das Mißverständnis und schwieg, denn es fiel ihm nichts ein, was er hätte sagen können. Der Alte schob sein Schweigen auf die natürliche Schüchternheit eines jungen Mannes, der vor dem Vater seiner Braut steht, wollte ihn zutraulich machen und sprach deshalb weiter, indem er die Macht der Bildung rühmte und die Neuzeit lobte, welche die Bildung auch dem Volke zugänglich mache, wodurch Aberglaube und schlechte Sitten ausgerottet würden. Wie er sich bei dieser Gelegenheit erkundigte, welchem Studium sich Heller im besonderen zugewendet habe, fand der eine Möglichkeit, aus seinem peinlichen Schweigen herauszukommen, indem er ausführlich erklärte, daß er ursprünglich Theologe gewesen sei, aber nachdem er sich aus seinen ersten Ansichten heraus entwickelt habe, so verzichte er jetzt auf das theologische Studium und wolle zunächst seine Persönlichkeit bilden dadurch, daß er die verschiedensten Dinge auf sich wirken lasse. Hierüber wiegte der Alte den Kopf und hielt ihm entgegen, daß doch die theologische Laufbahn sehr viele Vorteile biete, besonders indem ein junger Mann in ihr rasch zu Brot komme, was eine sehr wichtige Sache sei, zumal wenn einer daran denke, einen Hausstand zu gründen. Hierauf sprach Heller wieder von seinen Überzeugungen, und der Vater im schwarzen Rock wurde hingegen noch dringender mit den Anspielungen auf die künftigen Erwerbsverhältnisse; da erschien es Heller plötzlich als eine Rettung, wenn er diese als recht schlecht hinstellte, und so erzählte er, daß er nicht gesonnen sei, einen bestimmten Beruf zu ergreifen, sondern er gedenke vornehmlich für seine Ansichten zu wirken.[116]

Nachdem der Streich mit der Übergabe der verbotenen Schriften so übel abgelaufen war, hatte der Alte seine Sicherheit verloren, und deshalb, wiewohl er aus allem verspürte, daß Hellers Absichten und Verhältnisse ganz anderer Art waren, wie er gedacht, wurde er doch nicht ärgerlich, wie ihm wohl sonst geschehen wäre, sondern er machte ein bekümmertes Gesicht, seufzte und gab Heller die Hand zum Abschied, indem er sagte, die Welt sei heute anders wie früher, und ein Vater mit erwachsenen Kindern habe viele Sorgen; er vertraue aber Heller, daß er nicht schlecht an seiner Tochter handeln werde; darauf ging das alte Männchen unter vielem Dienern aus der Tür.

Nach diesem Besuch dachte Heller in einer neuen Gesinnung über seine Liebe nach und kam zu dem Schluß, daß bei dem Verhältnis doch auf beiden Seiten ein Irrtum gewaltet habe, indem Helene eigentlich noch gänzlich in den bürgerlichen Anschauungen befangen war und sich nicht, wie er vorher gemeint, zu den modernen Ideen durchgerungen hatte und ihn auch nicht richtig verstanden hatte, und auch sie hatte sich etwas andres von ihm gedacht. Dazu kamen psychologische Erwägungen, denn es war ihm nicht entgangen, daß sie in ihrem Anzuge sehr ordentlich, aber recht einfach war und keinerlei Reiz entfaltete, wo doch offenbar ein Mädchen, wenn es liebt, den Wunsch hat, dem Mann auf jede mögliche Weise, namentlich aber durch den Anzug, zu gefallen; deshalb, wenn sie in Wahrheit eine Neigung für ihn hätte, so müßte sich ihr Gefühl irgendwie in kleinen Koketterien der Haartracht, oder eines einfachen Schmuckes, oder einer gefälligen Bluse, oder sonstwie äußern, aber weil nichts dergleichen geschehen, so mußte er zu dem Schluß kommen, daß ihre Zuneigung zu ihm nur auf einem Irrtum beruhte, der ja erklärlich war, daß sie unter ihren eigentümlichen Umständen sich das einreden konnte, sie liebe ihn, während sie vielleicht nur Achtung empfand.

Wie Heller sich das klar gemacht, beschloß er ohne Zögern so zu handeln, wie es die Umstände forderten, denn für sie beide schien es ihm das beste, wenn sie nunmehr, nachdem sie diese Einsicht gewonnen, in den gewöhnlichen Zustand zurückkehrten, in dem sie sonst gelebt hätten; deshalb schrieb er gleich in diesem Sinne an Helene einen Brief. Diese aber war sehr traurig, als sie Hellers Meinung erfuhr, und[117] weinte heftig, denn sie dachte, daß sie durch irgend etwas seine Zuneigung verscherzt habe, prüfte alle ihre Handlungen und fand endlich als einzigen Grund, der möglich war, daß sie die Angelegenheit ihrer Mutter erzählt, und daß vielleicht von ihrem Vater Schritte geschehen seien, die ihn verletzt hatten. So ging sie zu ihren Eltern, um sich zu erkundigen, und wie sie alles gehört, machte sie unter vielen Tränen ihrem Vater heftige Vorwürfe und sagte, er habe gegen sie ebenso gehandelt wie gegen ihren Bruder, und der alte Mann geriet in große Not und versuchte sie mit allerhand Versprechungen und Liebkosungen zu beruhigen, aber sie sagte immer, ihr Leben sei zerstört, und keinerlei Trost wollte helfen. Es mußte aber in solchen Fällen auf einen immer alle Schuld geworfen werden, und so vereinigte sich bald die Mutter mit der Tochter gegen den Vater, und am Ende kam Helene derart zu einer gewissen Beruhigung, weil sie beides, Vorwürfe machen und Klagen auslassen konnte. Wie Heller den üblen Erfolg seines Planes vernommen hatte, geriet er in große Verlegenheit und beschloß, daß er Helene weiterhin besuchen und scheinbar ganz in der früheren Weise mit ihr verkehren wollte, dabei aber sollte sein Zweck sein, sie sowohl durch Gründe wie durch Erregung von Stimmungen zu andern Gefühlen zu bringen, so daß sie ihre gefaßte Liebe vergäße. Indem er nach diesem neuen Plan handelte, geschah es indessen, daß die beiden als zwei junge und harmlose Leute sich immer weiter in dem Netz der Liebe verstrickten; und wie es öfter geschieht, so kam es auch hier dazu, daß der weibliche Teil schnell ein Übergewicht erhielt, nachdem erst einmal eine gewisse Klarheit in den Beziehungen eingetreten war, und da Helene als ein braves und ordentliches Wesen keine Neigungen für Hellers neue Theorien aufwies, so endeten die beiden zuletzt mit einer gewöhnlichen und bürgerlichen Verlobung. Und dieses Ende machte zwar Heller manche Unruhe, denn er vermochte nur schwer seine Gedanken auf solche unerwartete Handlungsweise einzurichten, im Grunde aber hatte er doch ein großes Glück durch diesen Ausgang, denn nun wurde seinem Bedenken und Reden ein Schluß gemacht, und er mußte sich auf einen Broterwerb einrichten, was für einen solchen Mann doch nötig ist, sonst wird er mit den Jahren anstatt klüger, immer läppischer, und zuletzt gelangt er vielleicht sogar zu Bösartigkeit.[118]


Diese geschilderte Entwicklung von Hellers Liebe ging naturgemäß in einem längeren Zeitraum vor sich, währenddessen unser Held Hans verschiedenes kennen lernte, von dem er vieles noch nicht gewußt. Die Berichte Hellers vom Fortgang seiner Geschichte hörte er zuletzt mit Kopfschütteln an, denn wiewohl der andre älter war wie er, kamen ihm doch jetzt Bedenken über ihn, und er schätzte ihn nicht mehr so sehr hoch wie anfangs. Da sich eine solche Wandlung aus der größten Hochachtung nicht verbergen läßt, so verspürte sie Heller wohl, und indem er durch sie an einer Stelle getroffen wurde, wo er am leichtesten verwundbar war, nämlich in der besonderen Achtung, die er vor sich selbst hatte, so wurde er merklich kühler. Hans aber wurde inzwischen durch die Zufälle solcher unbestimmten Situationen des Lebens, wie er sich jetzt befand, zu einem weiteren Verkehr mit Krechting getrieben und zu einer Bekanntschaft in der Familie von Kurts Herrn.


Über diesen Geschäftsmann und seine Frau ist nichts Wichtiges zu sagen, denn sie sind ganz gleichgültige bürgerliche Personen gewesen. Der Mann hatte sich von unten in die Höhe gearbeitet, und weil er nicht Zeit gehabt, bei steigendem Wohlstand sich geistig weiterzuentwickeln, so hatte er nun immer ein Gefühl der Scheu und Befangenheit in seinem neuen gesellschaftlichen Leben; dazu hatte er seine alten Gewohnheiten zum Teil beibehalten, die er als ganz armer Mensch gehabt, und hielt viel von dem alten Aberglauben fest, der sich bei den Juden aus dem Osten untrennbar mit ihrer Religion gemischt hat. Dergestalt trat er in seinem Hause nicht hervor, denn die Frau, die er geheiratet, als er schon wohlhabend war, mochte im Grunde wohl auch nicht mehr Bildung besitzen wie er, hatte sich aber die äußeren Formen angeeignet und zeigte eine verwirrte Freundschaft zu vielen unzusammenhängenden Dingen, mit denen man sich in der gebildeten Gesellschaft beschäftigt, und leitete nach diesen Wünschen das Haus.

Unter solchen Verhältnissen waren zwei gute und brave Kinder aufgewachsen, ein Sohn und eine Tochter, und hatte der Sohn, der jetzt ein junger Student war wie Hans, schon von Kindheit an eine sonderbare Neigung für ganz entlegene Gelehrsamkeit gehabt und vermochte es durchzusetzen bei dem bekümmerten Vater, der in seines[119] Herzens Grunde alle Leute, die nicht viel Geld verdienen, trotz vieler Mühe zum Gegenteil für dumm halten mußte, daß er Vorlesungen über orientalische Sprachen hören durfte; die Tochter aber, die vor Fremden Luise genannt wurde, war ein fünfzehnjähriges Mädchen von früher Entwicklung, die eine große Liebe für die Dichtung aufwies. Bei diesen Leuten war Krechting sehr bekannt, und als Hans hier das erstemal einen Besuch machte, mit großer Schüchternheit, und empfangen von einem erstickten Lachen der lustigen Luise, da traf er den dort an.

Krechting war gleichfalls jüdischer Abkunft und mochte damals achtundzwanzig Jahre zählen. Vor etwa zehn Jahren war er als Student nach Berlin gekommen und hatte sich einer Gesellschaft gleichalteriger Schriftsteller angeschlossen, in der er nach kurzem berühmt geworden als Dichter von ganz besonderer Begabung, indem er auf eine neue und unerhörte Art sah und darstellte. Dann hatte er ein Büchlein drucken lassen, und weil dieses gerade in die Zeit kam, wo immer Neues sich ablöste, und die Kunstrichter, einmal aus ihrer alten Ruhe geschreckt, gegen sich mißtrauisch geworden waren und begannen, alles Neue und Unerhörte ebenso hoch zu preisen, wie sie es bis vor kurzem verhöhnt hatten, so fehlte es ihm nicht, und der verwachsene junge Mann wurde als der Begründer einer besonderen Richtung gepriesen und als ein solcher sogleich den übrigen jungen Größen der Dichtkunst beigezählt. Seit dieser Zeit aber hatte er kein weiteres Buch geschrieben; und zwar folgten ihm nun andere Neutöner und wurden neben ihn gestellt, aber sein Name war befestigt und blieb, gerade durch sein Schweigen, indem die Leute zwar mehr und mehr vergaßen, was er eigentlich damals gesagt hatte. Dann sammelte von den jüngeren Kunstrichtern, die zu jener Zeit den Ton angegeben, allmählich einer nach dem andern seine Aufsätze, und in jeder solcher Sammlung war auch ein Aufsatz über ihn, darauf erschienen zusammenhängende Bücher über die geistige Bewegung jener Zeit, und in jedem hatte er eine besondere Stelle; und so bekam sein Ruhm bereits eine gewisse geschichtliche Art, und war anzunehmen, daß man auch weiterhin über ihn schreiben werde wie bis jetzt, und nach langer Zeit, etwa einige fünfzig Jahre später, würde dann ein jüngerer Gelehrter Quellenstudien über[120] sein Leben machen, seine Briefe herausgeben und auch sein alsdann sehr selten gewordenes Buch (denn nur wenige Abzüge waren verkauft) neu drucken lassen.

Seine Eltern hatten ihn nach Berlin geschickt, damit er Rechtswissenschaft studiere und dann Anwalt werde und als solcher einen großen Namen bekomme und viel Geld verdiene, er aber hatte das Berufsstudium bald aufgegeben und allerlei anderes getrieben, um seine Persönlichkeit auszubilden. Da er von ärmlichem Herkommen war, so blieben endlich die Zuschüsse von zu Hause aus, und indem er trotz seiner Berühmtheit und seiner vielen und verschiedenen Kenntnisse und Fähigkeiten doch nicht viel verdienen konnte, außer etwas Geringes durch Musikstunden, so gelangte er zu der Meinung über sein Schicksal, die er mit der Redewendung ausdrückte, er sei unter den Frachtwagen gekommen. Den meisten Menschen war es wunderbar, wie er sich zu ernähren vermochte, indessen hatte er sich doch immer durchgeschlagen bis jetzt, vornehmlich durch Bekanntschaft in wohlhabenden Kaufmannsfamilien, dann durch Unterstützungen, die er sich so geschickt zu verschaffen wußte, daß sie nicht kleinlicher Art waren und von vielen kamen, denn geringe Summen, die er geliehen, zahlte er pünktlich zurück.

Unter solchen Umständen hatte er jene zehn Jahre verbracht, die in eine wichtige Lebenszeit fielen, wo sich Wesentliches im Menschen bildet. Als er noch Kind war, machte einmal auf ihn eine Stelle aus dem Talmud einen besonderen Eindruck, wo geschrieben stand: Wer eine gerechte Handlung tut, ist ein Geselle Gottes in der Weltschöpfung. Solange er an Gott glaubte, hatte er diesen Gedanken als seinen Mittelpunkt, und seinetwegen glaubte er später nicht mehr an Gott, denn solches Wort ist ja nur ein mythischer Ausdruck der Gottlosigkeit, die aus dem Hochmut kommt. Deshalb hatte er nachher überhaupt keinen Mittelpunkt mehr für sein Selbst, und das einzige Feste in ihm war der Hochmut. Seiner Eltern schämte er sich bald, die ordentliche Leute waren nach ihres Volkes Art, denn er schämte sich auch seines Volkes, ja er legte den Namen seiner Eltern ab und nahm einen fremden an. Dabei fühlte er aber wohl, daß er immer mit sich tragen mußte, was er hierdurch fliehen wollte, nämlich das Erbteil der Schlechtesten unter ihm, den Sinn eines frechen Knechtes. Dem hatte das Schmarotzerleben[121] seine besondere Farbe gegeben, indem es seine innere Verlogenheit so vergrößerte, daß er endlich selbst bei ganz unmittelbaren Äußerungen seines Gefühls nicht mehr wußte, ob es wahr sei. So kam es, daß er scheinbar unvereinbare Eigenschaften vereinigt, nämlich Bosheit und Empfindsamkeit. Etwa, als er einmal nach seiner Weise über sich selbst, seine Figur und seine Art bei diesen bürgerlichen Leuten Späße gemacht hatte und sich umblickte mit unruhigen Augen, um ganz die Wollust seiner Hanswurstdemütigung zu genießen, sah er die kleine Luise mit unmutigen Tränen kämpfen zwischen den lachenden und sich schüttelnden Menschen, denn einem edlen Herzen mag solche Niedertracht als eine bittere Kränkung seiner selbst erscheinen; da trieb ihn die Bosheit, sich immer mehr preiszugeben, und weil er zufällig Schillers Schrift über die Schaubühne als sittliche Erziehungsanstalt bei ihr gesehen, so zog er auch Gedanken aus dieser Schrift mit in seine Gemeinheit; hier ging das Mädchen aus dem Zimmer, mit krummem Rucken, und als er diese Bewegung eines unschuldigen und hochgesinnten Kindes sah, hörte plötzlich die Bosheit auf zu wirken, und über ein jammervolles Bedauern mit sich selbst hinweg gelangte er in eine empfindsame Stimmung, schlich dem weinenden Kinde nach, legte seinen Arm um sie, die sich zornig sträubte, und weinte mit ihr.

Außer jenen Leuten, wo er Parasit war, hatte er zwei Arten von Freunden und Bekannten. Die erste Klasse waren seine Altersgenossen, gleich ihm Zerstörte oder Gescheiterte, Menschen mit Instinkten, die gegen sie selbst gerichtet waren, die große Worte machten und an ihnen zweifelten, ja sie selbst verlachten, wenn man sie nur fest ansah, Menschen mit unruhigen Augen und Vogelprofilen, ungleichem Gang und verwirrtem Sprechen, liederlich und schmutzig angezogen; und die meinten, sie seien die Herren des geistigen Lebens, und über alle war in jenen Aufsatzsammlungen und Geschichtswerken geschrieben, und untereinander verachteten, haßten und verleumdeten sie sich. Die zweite Klasse bestand aus ganz jungen Leuten, nämlich treuherzigen Studenten, reichen Jünglingen und unruhigen Menschen von allerlei Begabung, die hochkommen wollten, das heißt zu einer Stellung, wie die erste Klasse sie hatte. Und diesen Männern entsprachen die Mädchen und Frauen des Kreises. Mit unordentlichem Haar und schlecht sitzenden[122] Blusen waren sie zwischen den Männern und redeten mit denen ohne Scheu. Alle diese Menschen wähnten frei zu sein, aber sie waren nur losgekettet von den Banden, in denen die Gesellschaft die Schwachen hält, und hatten sich schnell härtere Fesseln selbst geschaffen durch ihre leichtfertige und unbehütete erste Jugend. Nach jenem Vorfall mit Luise geschah es, wie Krechting das nächste Mal zu ihren Eltern kam, daß sie verwirrt war und gab ihm die Hand nicht zur Begrüßung. Er rief: »Und Sie geben mir die Hand nicht?« Sie sah ihn unwillig an und legte flüchtig ihre Hand in seine, die war ganz kalt vor Aufregung. Da wurde er verlegen und begann sehr schnell zu reden, vom Wetter und den vielen Leuten auf der Straße, und sie lachte und lief aus der Tür, daß die Mutter tadelnd hinter ihr her rief und sie entschuldigte. Als er allein mit ihr war, sprach er ganz anders, wie er sich vorgenommen. Er wußte, daß sie eine schwärmerische Vorstellung von ihm hatte als von einem reinen und edlen Dichter und daß er für sie ein Ideal war, wie sich junge Mädchen oft aus der Unschuld und Größe ihres Herzens ein Bild schaffen, das sie einem beliebigen Mann vorhängen, ihrem Lehrer oder einem jungen Offizier, einem Schauspieler oder ähnlichen. Mit spöttischem Hohn hatte er bei sich hierauf ein Gespräch aufgebaut; aber wie sie nun jetzt schüchtern und demütig vor ihm saß, fühlte er unerwartet Mitleiden mit sich selbst, und um das zu unterdrücken, fing er gleich mit Reden an, die noch mehr gelogen waren wie seine beabsichtigten Lügen und zugleich so ungeschickt in Beziehung auf das Kindchen, daß dieses gar nichts zu antworten wußte und immer nur dasaß mit gesenktem Köpfchen, und er fühlte dann einen Zwang, immer weiterzureden, daß er immer läppischer wurde. Er sprach: »Sie müssen mich sehr verachten, daß ich so über mich selbst spotte und auch über Schiller, aber diese beiden Dichter verehre ich am höchsten, nämlich mich und Schiller, und welchen Sinn hätten Götterbilder, wenn man sie nicht von ihren Sockeln stürzte? Und haben Sie nicht schon bemerkt, daß man ein eigenes Machtgefühl bekommt, wenn man sich selbst der Verachtung preisgegeben hat und sieht die Gesichter der Höflichen ringsum, die ihren Ausdruck zu Liebenswürdigkeit zwingen? Daß das Gefühl mehr wert ist wie sein Gegenstand, wissen Sie am besten« – hier spürte er herzklopfend seine[123] Schamlosigkeit wie die eines dritten – »nämlich aus der Liebe. Und ich will nicht Macht, ich will nicht Liebe, ich will nur den flüchtigen Rausch einer Sekunde genießen, denn dieser enthält alles Wertvolle aus ihnen; jeder Besitz ist Enttäuschung, deshalb lebe ich als Chambregarnist nicht nur mit meinem physischen Menschen ...«

Luise war aufgestanden, schwer wurde ihr das Sprechen. »Sie sind so unglücklich«, sagte sie schamhaft; er spürte plötzlich ihre Lippen auf seiner Stirn wie einen kühlen Hauch; dann war sie unversehens aus dem Zimmer. Da kam Scham über ihn, und er wußte nicht, daß er sich nach ihr sehnte; so zerstört war er, daß er das nicht wußte. Hans wurde um eben jene Zeit mit der Familie befreundet, als sich diese Dinge abspielten. So erlebte er auch den weiteren Verlauf.

Zu Krechtings größerem Kreise gehörte ein junger Dichter, den wir hier Peter nennen wollen; den hatte er schon vor langem mit der Familie bekannt gemacht, und war der merkwürdigerweise der einzige von den jungen Genies der Frau, zu welchem der Mann in eine Art von Beziehung geriet, indem er nämlich gelegentlich kleine Scherze über ihn machte, die der harmlos erwiderte, denn in so verschiedenen Welten lebten die beiden, daß sie sich gar nicht kränken konnten.

Peter war gleichfalls vor etwa zehn Jahren nach Berlin gekommen, in einer freilich unbekannten Absicht, und hatte eine Anzahl seltsam ungeschickter und kindischer Gedichte mitgebracht, die recht töricht schienen, wenn man sie für sich las, obschon zwar aus dem wirren und gleichgültigen Zeug zuweilen einmal ein Wort, besonders ein Beiwort oder ein Satz auffiel, der dem Leser ans Herz rühren mochte. Las er aber selbst vor, so bekamen diese schülerhaften Reime ein ganz neues Leben, denn seine guten und sanften Augen leuchteten, und sein Gesicht hatte einen Schein von innen heraus, und die abgenutzten Worte und Wendungen erhielten ein frühlingsmäßiges und feines Gefühl. Dann sagte jeder lächelnd: »Er ist ein großes Kind«, aber alle wurden sonderbar froh, glücklich und gut, als wenn seine bescheidene Seele mächtig geworden wäre über sie, und lächelten auch über ihn und dachten: ›Er ist doch ein Dichter‹; und das war mit einer Freude empfunden, wie gegenüber einem kleinen Kinde geschieht.

Auch dieser Jüngling hatte in jenen früheren Zeiten sein Bändchen[124] herausgegeben; nur kein Kritiker beachtete es, weder in feindlicher noch in freundlicher Gesinnung, und so schrieb niemand etwas über seine Gedichte; aber alle jene scharfsinnigen und klugen Schriftsteller liebten ihn und sagten: »Er ist doch ein Dichter«, oder sie sagten: »Er ist ein großes Kind.« Und so lebte auch er zehn Jahre lang in einer Weise, die sich keiner erklären konnte, denn niemand nahm und druckte seine Arbeiten, und er borgte von niemand, außer etwa einmal eine rührende Kleinigkeit, zehn oder zwanzig Pfennige. Es fand sich aber, daß er Unterkunft hatte bei ganz armen Leuten, bei denen er als Student gewohnt; die gönnten ihm ein Plätzchen umsonst, am Tage auf einem Stuhl in der Werkstatt, denn der Mann war Schuhmacher, und des Nachts in der Küche in einer alten eisernen Bettstatt, die am Tage zusamengeklappt wurde; sein weniges Essen aber fand er bei Freunden, wenn er die zur Abendbrotzeit besuchte, oder die Schuhmachersleute gaben ihm auch wohl von ihrer Suppe ab. Weil der nun in seiner Armut unterstützt werden sollte und ihm doch niemand ein Almosen bieten mochte, so war er von der Frau angenommen, der Tochter und einigen ihrer Freundinnen Unterricht in der Literatur zu erteilen, wodurch er dreißig Mark im Monat verdiente; und weil er seit langen Jahren nicht so viel Geld gehabt hatte, so schöpfte er jetzt neue Zuversicht und hatte neue Kraft zu schaffen, sagte auch, wie wohl es einem Dichter tue, wenn er eine feste Einnahme habe, die ihn vor der Not schütze und ihm auch erlaube, sich zuweilen ein gutes Buch zu kaufen. Bei seinen Schülerinnen hätte er wohl einen recht schweren Stand gehabt, denn die hatten bald gemerkt, daß er vieles Sonderbare glaubte, was man ihm aufbinden mochte, und daß sein Urteil und Wissen in der Literaturgeschichte recht wunderlich schien; aber er merkte es gar nicht, wenn sie über ihn lachten, sondern lachte fröhlich mit, sagte auch wohl, wie gut es tue, so zwischen Jugend zu leben und ihre glückselige Heiterkeit in sein Herz aufzunehmen. Und bald entwickelte sich etwas Merkwürdiges, daß seine Schülerinnen ganz mütterliche Gefühle für ihn zu bekommen schienen, und er folgte ihnen treulich, wenn sie ihm dieses oder jenes richteten oder anbefahlen für seine Kleidung oder seine Lebensweise, und wurden die Mädchen dabei dann ganz ernsthaft und umsichtig, und zuletzt kamen sie auf den Gedanken,[125] weil er doch ein so guter Mensch sei, wenn auch nicht ganz klug, so müsse er heiraten, weil ein solcher wie er bei den gegenwärtigen Zeiten, wo die Männer meistens selbstsüchtig und ungebildet seien, eine Frau sehr glücklich machen werde durch die Bildung seines Herzens, und er selbst müsse auch jemand haben, der für ihn sorge, aber sehr reich müsse die Frau sein, da er ja niemals viel verdienen werde. Dabei stellte sich denn heraus, daß ihn alle diese zwitschernden und lachenden Mädchen so herzlich lieb hatten, daß ihn jede genommen hätte, wenn nur die Eltern einverstanden gewesen wären: denn um seine eigene Einwilligung machten sie sich keine Sorgen.

Am nachdenksamsten aber wurde durch ihn Luise und faßte eine besondere Neigung zu ihm, und geschah das so, daß Peter einmal mit ihr allein war, und da sie zu ihm Vertrauen hatte, so erzählte sie ihm, daß in ihrer Familie etwas vorgefallen sei, wie ja öfter geschah durch den Gegensatz der beiden Eltern, und daß man ihr nichts davon mitteilte. Auf diese Klage antwortete er, daß den Eltern doch viel Trost im Leben fehle, wenn sie die Kinder an ihrem Kummer nicht teilnehmen lassen, und den guten Kindern machen sie auch das Herz schwer, denn sie spüren doch von dem Unheil, aber müssen dann ihre Lust am Helfen und Trösten in ihrer Brust verschließen; das nahm sie ihm nun zwar übel, daß er sie für ein Kind hielt; aber wie er dann fortfuhr, daß den Erwachsenen die Kinder gegeben seien, damit sie besser und heiterer würden, und wie sie ihn fragte, ob er selbst durch sie besser geworden sei, lachte er freundlich und sprach: »Ja, ich habe Sie doch lieb«; da fiel sie ihm um den Hals und küßte ihn, und dann lief sie schnell weg. Nach Wochen aber sagte sie ihm, daß sie ihn geküßt habe, sei geschehen, weil er doch ein erwachsener Mann sei und sie noch ganz jung, und er sei doch ihr Lehrer.

Peter teilte ihr auch mancherlei Pläne und Wünsche mit, so vor allem seinen Gedanken, eine Zeitschrift zu begründen, die nur der reinen Kunst und dem Schönen dienen solle und nicht abhängig sei von Rücksichten auf Gewinn und Verdienst, und meinte, da er selbst jetzt doch für sich eine passende Einnahme habe, die für seine Bedürfnisse genüge, so könne er die Leitung dieser Zeitschrift ohne Belohnung übernehmen, und solche Dichter, die wohlhabend seien, würden ihre[126] Werke umsonst zum Abdruck geben, und die ärmeren Dichter müßten sehr viel bezahlt bekommen. Dann müßte sich ein Reicher finden (oder es gebe vielleicht auch mehrere reiche Leute, die der Kunst helfen wollten, man kenne sie nur nicht, und sie wüßten nicht wie, weil sie vielleicht in entlegenen Schlössern wohnten, und es sei auch noch nicht eine solche Zeitschrift da), der sehr viel Geld schenke; das müsse man dann natürlich recht sorgsam verwalten, damit auch das gewollte Ziel erreicht werde und es nicht Unwürdigen zugute komme. Wenn dann die Zeitschrift recht viele Leser habe, dann könne man das Volk zur wahren Kunst erziehen, daß es sich nicht mit den schlechten und dummen Büchern abspeisen lasse, die ihm heute gegeben würden, sondern gute Kost wolle, und dadurch würden auch wieder in Rückbeziehung die Dichter gehoben, denn die würden mehr Freude an ihrem Schaffen haben, und manche gebe es, von denen er für seinen Teil glaube, wennschon er keinen Namen nennen wolle, die gewiß Schöneres und Edleres schaffen würden, wie sie jetzt täten, wenn sie sähen, daß es seine Leser fände.

Durch solche gegenseitige Vertraulichkeit kamen sich die beiden immer näher, und wie nun in den Kindern der Plan entstanden war, daß sie Peter verheiraten wollten, so kam sie zu dem Entschluß, sie selbst wolle ihn zum Manne nehmen, wenn sie zu ihrem Alter gekommen wäre, welche Gedanken sie aber noch verschwieg aus Scham und Bedenken.

Es hatten aber die Eltern der jungen Mädchen am Ende gespürt, daß in den Literaturstunden mancher Unfug getrieben wurde, und daß die Kinder seltsame Ansichten und schlechte Kenntnisse erwarben. Hierdurch kam zuletzt Zwistigkeit und Ärger mit dem Lehrer, und so wurden am Ende die Stunden aufgekündigt, und Luise erhielt von ihrer Mutter noch außerdem viele Vorwürfe über ihre besondere Vertraulichkeit mit dem Dichter, und wurde häßlich über ihn gesprochen. Gegen solche Reden wehrte sie sich zuerst und verteidigte ihn, aber endlich, wie sie spürte, daß sie durch ihre Widerworte das Übel nur ärger machte, schwieg sie und ersann einen Plan. So erwartete sie ihn auf der Straße, sprach ihn an und sagte ihm, daß er wohl gemerkt haben werde, welche Wünsche sie habe, nämlich später einmal seine Frau zu[127] werden; aber jetzt sei ihr das Leben bei den Ihren so unerträglich geworden, daß sie nicht mehr so lange zu Hause bleiben wolle, bis sie sich ihnen, weil sie dann ganz erwachsen sei, offenbaren könne, sondern sie wolle mit ihm von Hause fliehen. Sie würden aber sicher schon einen Ort finden, wo gute Menschen sie aufnähmen, und sie seien doch beide auch nicht hochmütig, sondern würden gern jede Arbeit übernehmen, um sich ihr Brot zu verdienen. Peter erwiderte ihr, daß das zwar sehr schwer sei, was sie vorhabe, aber wenn sie nicht mehr bei ihren Eltern bleiben könne, welches er glaube, wenn er ihrer beider Art betrachte, so wolle er ihr helfen und mit ihr entweichen, und denke er aber, sie zu seiner alten Mutter zu bringen, die weit weg in Westfalen lebe in einer kleinen Stadt und zwar recht arm sei, aber sie habe ihn sehr lieb und mache ihm nie Vorwürfe, daß er in den Augen der Welt kein großes Wesen geworden sei, wenn er ihr freilich auch immer erzählt habe, daß er viel Geld verdiene, welches man als Schriftsteller ja könne, indem mancher für einen kurzen Artikel, den er in einer Stunde schreibe, hundert Mark oder noch mehr bekomme. Dieser Mutter solle sie dann behilflich sein, weil sie nämlich außerdem, daß sie für Leute wasche, einen kleinen Laden halte mit Schreibwaren für die Schulkinder, und so könne sie ohne Sorge und in Liebe leben.

Wie das Mädchen einverstanden war, machten sie sich gleich auf den Weg nach dem Bahnhof und kauften Fahrscheine, und da sie nicht genug Geld hatten, konnten sie freilich nicht bis zum Ende fahren, aber Peter tröstete sie und sprach, daß sie nur eine ganz kurze Strecke gehen müßten, acht oder zehn Stunden, durch einen schönen Wald. Und so fuhren sie nun, und am Ende stiegen sie aus, machten sich auf die Füße und gingen; und wie sie zu dem Walde kamen und hochwipflige Bäume sie empfingen, da faßten sie sich freundlich an die Hand und schritten weiter fröhlichen Mutes wie zwei Kinder. Laub raschelte unter ihren Füßen, und hoch über ihren Köpfen bogen die Zweige sich wölbend zur Höhe, und durch grünes Laub leuchtete Sonnenschein, und Tropfen des Lichtes fielen auf den Boden voll goldbraunen Laubes. Und allerhand geheimnisvolle Märchenlaute waren da hinter den Bäumen, ein Klopfen und Zirpen, und ein leises Huschen, und ein Knistern; eine blitzende Fliege summte in einem schrägen Sonnenstrahl,[128] und ein ganz großer Käfer flog mit tiefem Gebrumm rund um einen Baumstamm. Der Dichter erzählte von den Waldvögelchen, von den kleinen Meisen, die so klug schauen, und von den Finken, vom Zeisig und Hänfling und von den wunderlichen Spechten, und das kleine Mädchen schmiegte sich an ihn, ängstlich und voll Liebe, und das Herz tat sich ihr auf, denn sie hatte bis dahin den Wald noch nicht gekannt, weil ihre Eltern immer mit der Eisenbahn an vornehme Orte gefahren waren, bei denen es Bäume auf Rasenplätzen gab und sorgfältig geharkte Wege.

Viele Stunden gingen die beiden, und sie wurde recht müde, denn sie war solcher Wege nicht gewohnt, er aber schritt immer freudig und zuversichtlich weiter, und deshalb mochte sie ihm nichts klagen, denn von selbst merkte er nicht ihre Ermüdung; und so kamen sie am Ende vor das kleine Städtchen, wo Peters Heimat war, und gingen durch das alte Tor die große Straße hinunter, wo neugierige Gesichter hinter blitzenden Fensterscheiben ihnen nachsahen, und in Nebengäßchen, und in einem ganz versteckten Winkel da stand ein uraltes Häuschen, ganz schmal und niedrig, unter einem blühenden Lindenbaum, und war die obere Hälfte der Haustür geöffnet, und man konnte durch den dämmerigen Hausflur in ein Gärtchen sehen, wo rote Rosen an hohen Stöcken blühten. Da traten sie ein, und da kam Peters alte Mutter aus ihrem Stübchen, und trug ihre alten mageren Arme nackt, und legte die Hand über die Augen, um die Fremden zu betrachten, da umarmte sie schon ihr Sohn und küßte sie, und in ihrem ehrlichen Gesicht ging die Freude auf.

Wie sie nun alle drei in dem heimlichen und sauberen Stübchen saßen, auf dem schwarzledernen Kanapee unter den bunten Öldruckbildern, und Peter erzählte seine Geschichte und Vorhaben, da schlug die alte Frau wohl immer nur die Hände zusammen vor Verwunderung und wiegte den Kopf und sah liebevoll das zarte Mädchen an; aber nicht einmal kam ihrem braven Herzen der Gedanke, daß ihr großer Junge doch noch ein rechtes Kind sei, denn sie hatte eine besondere Hochachtung vor ihm. Deshalb war sie mit allem einverstanden, und jetzt lief sie nun eilfertig hinaus in die Küche, einen kräftigen Kaffee zu bereiten auf die Anstrengungen der Reise. Aber als die beiden[129] jungen Leute allein waren, begann Luise plötzlich heftig zu weinen, und wie er sie trösten wollte und streichelte ihr die schwarzen Haare, da machte sie eine unwillige Bewegung mit der Schulter, daß er ganz ratlos dastand. Bald blickte sie wieder auf und sah in sein Gesicht, und da mußte sie plötzlich hell auflachen, aber das Weinen war noch nicht ganz vorüber, und das Böckchen stieß sie mitten im Lachen, und ihre Augen füllten sich wieder mit Tränen. Indem kam die gute alte Mutter wieder in die Stube und trug auf einem Präsentierbrett den Kaffee in einer sehr großen Kanne, und zwei Tassen, denn sie selbst wollte nicht mittrinken, weil sie sich für zu gering hielt, und eine rotlackierte Zuckerdose aus Blech stand bei der Kanne; und wie sie die Weinende erblickte, fing auch sie an zu trösten und empfahl den Kaffee, indem sie eine lange Geschichte begann, wie er eine wunderbare Heilung einer Lahmen bewirkt hatte; da lugten durch die Türspalte die beiden Mieterinnen, die sie in ihrem Häuschen hatte, das waren zwei uralte Weiberchen, sauber und ordentlich und über die Maßen neugierig. Wie die Mutter die beiden bemerkte, nötigte sie, daß sie hereinkommen mußten; die entschuldigten sich vielmals und standen hintereinander, dann aber kamen sie in die Stube, indem sie sich die blanken Hände an den reinlichen blauen Schürzen abwischten und neugierig das Pärchen betrachteten. Aber bald wurden sie recht vertraut, prüften mit den Händen den Stoff von Luisens Kleid und fragten nach dem Preis, tranken vergnügt von dem schwachen Kaffee aus der großen Kanne, nachdem sie zuerst vielmals abgelehnt, erzählten von ihren Krankheiten und fragten, ob Luise auch die Kaiserin recht oft sehe. Peter war fröhlich und unbefangen zwischen den drei gutherzigen alten Frauen, lachte viel und erzählte so, daß die drei nicht aus dem Verwundern kamen; Luise aber hatte inzwischen einen Entschluß gefaßt, zog Peter auf die Seite und bat ihn, daß er ein Telegramm an ihre Eltern schicke, das denen ihren Ort anzeige, welches der sehr richtig fand, und tat sofort, was sie begehrte.

So geschah es denn, daß am nächsten Tage die Eltern des Kindes kamen, in großer Aufregung und Sorge; aber wie sie den frohmütigen und harmlosen Dichter, die geschäftige und saubere alte Mutter und die braven andern Weiberchen um ihre Tochter versammelt fanden,[130] die lachend ihrem Vater an den Hals flog, da vermochten sie nicht die empörten Reden an Peter zu führen, die sie sich vorgenommen, sondern die Mutter machte nur ein gekränktes und kaltes Gesicht, und der Vater brummte etwas, das nicht deutlich wurde durch die Liebkosungen der lachenden Tochter, und zuletzt, weil sie ganz ratlos waren, was das Ganze bedeutet habe, nahmen sie das Mädchen mit sich in ihr Gasthaus und luden den Dichter zum Mittagessen ein, das er ohne Schuldbewußtsein auch freundlich annahm. Nach diesem Anfang fanden die Eltern bald, wie sie das ganze Begebnis als einen Kinderstreich auffassen konnten, was die ihrem Wesen angemessene Art einer Erklärung war, und so überwanden sie leicht ihren Groll, und am Ende lachten sie mit ihrer Tochter zusammen, indem die Fröhlichkeit des unbefangenen Kindergemütes auf sie überstrahlte.

Wie sie alle in dem Gasthause versammelt waren, sprach Luise, daß sie gedacht habe, sie wolle später, wenn sie in ihre Jahre gekommen wäre, den Dichter heiraten; aber nun sei ihr doch klar geworden, daß sie ihn zwar immer noch so lieb habe wie früher, und vielleicht noch lieber, aber seine Frau könne sie nicht werden. Das wolle sie ihm gesagt haben, und weil sie sich noch nicht geküßt hätten bis jetzt, so wolle sie ihm nun, zum Abschied von ihrem gemeinsamen Plane, einen Kuß geben; als sie das gesprochen hatte, faßte sie sein Ohrläppchen, beugte seinen Kopf zu sich nieder und küßte ihn auf die Lippen; dann lächelte sie, indes ihr eine Träne in die Augen trat; und auch der Dichter lächelte. So endete der beiden Liebesverhältnis.


Indem Hans immer weiter in die Gedanken hineinkam, die in dem Kreise der Menschen um ihn herrschten, gelangte er bald zu dem Entschluß, daß er sein Studium ändern müsse. Aber Scheu vor den Eltern und Furcht vor dem Ungewissen hielten ihn eine Zeit in einem peinigenden Zustande, bis er sich am Anfang des zweiten Semesters zu einer schnellen Tat entschloß; denn durch Zufall war die Tür der Amtsstube in der Universität einmal offen, wie er gerade vorbeiging: da trat er ein und erklärte, daß er sich in eine andere Fakultät umschreiben lassen wolle, und wie ihn der Beamte fragte, was er denn zu studieren gedenke, da sagte er ohne Besinnen und ohne daß er vorher eine Absicht[131] gehabt hatte, er wolle Historiker werden. Dann belegte er seine neuen Vorlesungen, faßte sich auch ein Herz und besuchte einen der Lehrer; der empfing ihn freundlich und hatte bald Hansens Meinungen erkundet, denn er hatte selbst in jungen Jahren freiheitlich gesinnte Ansichten gehabt, und wie damals gerade die Revolutionszeiten gewesen waren, hatte er als junger Gymnasiallehrer seinen Schülern lateinische Aufsätze aufgegeben über die Vorzüge der Republik vor der Monarchie und darüber, daß die Verbrennung der Leichen richtiger sei wie das Begraben. Wegen solcher Betätigung seiner Gesinnungen hatte die Behörde ihn damals abgesetzt, aber später wurde er an die Universität berufen. Dieser alte Mann bekam eine Freude an Hans, und der gewann so einige geringe Aussichten für seine Zukunft.

Inzwischen war sein Jugendgenosse Karl gleichfalls nach Berlin gekommen und zeigte sich als von gleichen Ansichten. So beschlossen die beiden, eine nähere Bekanntschaft mit wirklichen Arbeitern zu machen, und da sie keinen andern Weg wußten, so dachten sie eine Volksversammlung zu besuchen, und gerieten in die Versammlung eines großen Fachvereins, in der ein Vortrag über die materialistische Geschichtsauffassung gehalten wurde; denn damals, wo das Sozialistengesetz noch bestand, hatten diese Fachvereine in Wahrheit eine Art politischer Bedeutung, die zwar nicht ausgedrückt war, aber sich doch mit Notwendigkeit von selbst aus den Umständen ergab. Mit einer großen Furcht wie vor etwas Außerordentlichem hielten sich die beiden bescheiden im Hintergrund, wo neben ihnen am Tisch einige Arbeiter saßen, ein alter Mann und zwei junge Leute, die sie zuerst mißtrauisch betrachteten, und endlich sagte der eine junge Mann gerade heraus, sie seien doch keine Schuhmacher, es war nämlich der Fachverein eine Verbindung der Schuhmacher, und sie sollten ihm ihre Absichten sagen. Darauf erwiderte Hans, daß sie Studenten wären und gern die Verhältnisse der Arbeiter kennen lernen wollten. Hierüber wurden die Gesichter der andern freundlich und bewillkommten die beiden und zogen sich noch weitere Arbeiter an ihren Tisch, die alle fröhlich und liebenswürdig waren. Dabei stellte sich heraus, daß sie Hans und Karl für zwei Spitzel gehalten, weil man an ihren Daumen gesehen, daß sie keine Schuhe machten, und Hans trug Stiefel, die zu Hause von einem[132] schlichten Schuster genau in der Form gearbeitet waren wie die Kommißstiefel, an denen die Geheimpolizisten erkannt wurden.

Hans war recht erstaunt über die braven und ordentlichen Gesichter der Leute und über ihre sonntägliche Kleidung und fröhliche und ruhige Art. Einen gewissen Ernst hatten sie wohl alle, aber der war mehr ehrbarer und bürgerlicher Art, und sie zeigten nichts Düsteres oder Trauriges, sondern schienen, als wenn sie alle zufriedener und glücklicher Hoffnung lebten. Die meisten der Anwesenden waren jung, und man sagte Hansen, daß die Älteren, weil sie verheiratet seien, gewöhnlich das Geld nicht aufwenden könnten, welches das Gehen in die Versammlung koste, weil man doch sein Glas Bier trinke, oder auch zwei, und seine Zigarre rauche.

Ganz vorn, auf einer Erhöhung, saßen an einem langen Tisch die Vorstandsmitglieder und an einem Tischchen daneben ein Polizeioffizier mit einem Schutzmann. Nach einiger Zeit eröffnete der Vorsitzende die Versammlung, und es wurden einige Angelegenheiten des Vereins erledigt in merkwürdig förmlicher und formelhafter Weise, indem der Vorsitzende häufig erklärte, so oder so sei die parlamentarische Sitte: denn das schien als besondere Hauptsache betrachtet zu werden, daß alles bis ins kleinste parlamentarisch zuging. Bei einem Punkte fragte Hansen sein Nachbar leise, indem er annahm, ein Student wisse diese wichtigen Dinge, ob das so richtig sei. Man verspürte bei allen, daß sie einen freudigen Wunsch nach Form und Regel hatten und nach Kräften eine Ordnung suchten, um sich ihr zu unterwerfen. Dann stand der Vortragende auf, der über die materialistische Geschichtsauffassung reden wollte. Der war ein älterer Arbeiter, in dessen Gesicht sich eine merkwürdige geistige Anstrengung zeigte, wie er redete, denn er holte mit schwerer Arbeit die Gedanken herauf und drückte sie mit Mühe in Worten aus, und deshalb sprach er sehr langsam und eindringlich; alle aber folgten ihm mit eigner großer Anstrengung. Was er sagte, hatte eigentlich mit der Marxschen Theorie wenig zu tun; es kam aber seine Herzenssehnsucht heraus und die Herzenssehnsucht der Hunderte von Arbeitern, die ihm lauschten, denn er meinte, die Arbeiter seien heute von der Bildung abgeschnitten und müßten sich die Bildung erwerben, dann seien sie die Herren der Welt, und jeder[133] von diesen Männern dachte bei seinen Worten, daß er die Bildung haben wolle, und malte sich ein Gedankenbild zukünftigen Lebens der Menschheit, wo alles Leid verstummte, Haß, Neid und Unterdrückung verschwand und die Menschen in gegenseitiger herzlicher Freundschaft lebten und sich bildeten.

Wie der Vortrag beendet war und einige aus der Versammlung nacheinander auf die Stufe traten und ihre beistimmende oder abweichende Meinung sagten, sprachen Hans und Karl weiter mit den Männern, die an ihrem Tische saßen. Der eine war erst vor kurzem aus dem Osten nach Berlin gekommen, nachdem er zu Hause eine mehrjährige Gefängnisstrafe abgebüßt hatte wegen Geheimbündelei. Der erzählte seinen Prozeß und stellte seine Sache so dar, daß er mit seinen Freunden, die das Gesetz wohl kannten, keinerlei Geheimbund gehabt, indem sich sich immer nur freundschaftlich zu Ausflügen oder Zusammenkünften getroffen hatten. Dann fuhr er fort, daß er zuerst der Meinung gewesen, er sei ungerecht verurteilt, nicht, daß die Richter gegen ihn besonders etwas gehabt hätten, aber sie seien durch ihre Klassenvorurteile verblendet; dann aber habe er sich die Sache weiter bedacht und sich im Geiste auf den Standpunkt des Richters gestellt, denn wenn einmal ein Gesetz sei, und wenn es auch ungerecht ist, so müsse doch der Richter danach entscheiden, und da habe er sich denn gesagt, daß er und seine Freunde eigentlich nur eine Umgehung des Gesetzes begangen hätten, denn alles, was das Verbot des Geheimbundes bezwecke, hätten sie doch getan und sich nur gehütet, die äußeren Formen eines Vereins anzunehmen, und das habe der Richter wohl eingesehen, und darum müsse er sich jetzt selber sagen, daß er gerecht verurteilt sei, und wenn er selbst Richter gewesen wäre, so hätte er auch nicht anders gekonnt.

Über diese Worte entstand eine Meinungsverschiedenheit, indem einige sagten, wenn kein wirklicher Verein mit Satzungen und Vorsitzenden und festen Versammlungen gewesen sei, so wären sie in unrechtmäßiger Weise bestraft, und es könnten ja dann alle andern Menschen auch verurteilt werden, weil doch jeder einen Kreis von Bekannten habe, die mit ihm einer Gesinnung seien; die andern aber schlossen sich der Meinung des Erzählers an, den sie Jordan nannten, und sagten,[134] Recht müsse sein, und wenn sie selbst erst die politische Macht errungen hätten, was wohl schon in zehn oder zwanzig Jahren sein könne, so müßten die Gegner auch den Gesetzen gehorchen, die sie selbst dann geben würden; zwar würden diese freilich auf keine Unterdrückung ausgehen, und deshalb würden auch die Gegner wohl willig sich ihnen fügen.

Sie fragten auch Jordan nach dem Aufenthalt in seinem Gefängnis, denn es war eine Nachricht durch die Zeitungen gegangen, daß er und seine Freunde sehr viel hatten erdulden müssen. Da streifte Jordan seine Ärmel hoch, zog die Manschette ab und wies an seinem mageren Arm einen geröteten Streifen um den Knöchel, denn man hatte ihnen Ketten angelegt; aber wie die Zuhörer Ausrufe machten, erzählte er, daß das Tragen der Ketten nicht so schlimm sei, wie man sich vorstelle, denn man habe ja ohnehin nicht viel Bewegung; nur müsse man immer Vorkehrungen treffen, daß die Haut nicht durch das Eisen gescheuert werde, denn solche Wunden heilten sehr langsam und seien schmerzhafter wie manche gefährliche Verletzung. Und wie einige darauf wieder über den Leiter der Gefängnisse schalten, daß er sie unnützerweise mit diesen Ketten gequält habe, entschuldigte er von neuem, indem er sagte, man habe sie erst nach einem Fluchtversuch von zweien unter ihnen geschlossen, und wenn er selbst auch die Ketten für ein sehr wenig wirksames Mittel gegen die Flucht halte, so sei doch der Leiter der Anstalt andrer Meinung gewesen und habe gedacht, daß er auf diese Art weitere Fluchtversuche unmöglich mache. Der Erzähler schloß dann, indem er auseinandersetzte, ein jeder Mensch stehe auf seinem Posten, den er ausfüllen müsse, und anders könne er nicht, und er selbst glaube, daß unter den niederen Gefängnisbeamten mancher sei, der ihre Meinungen teile, aber er müsse doch seine Pflicht tun. Und deshalb kämpfen ja auch sie, er und die andern, nicht gegen die Menschen, sondern gegen die Verhältnisse, und man müsse auch nicht glauben, daß es in den höheren Ständen nur lauter rohe und gefühllose Menschen gäbe, vielmehr lebe da mancher, der selbst in großer Bedrängnis sei.

Dieser Jordan war ein langer und hagerer Mann, dem man in seinem kummervollen Gesicht deutlich seine früheren Leiden ansah, und[135] sprach langsam und gemessen und mit einer kindlichen Wichtigkeit. Die Zuhörer schienen alle recht ernst geworden; als aber ein neuer sich zwischen sie setzte, wurden plötzlich alle heiter und begrüßten den lachend, denn auch der hatte zwar erst vor kurzem das Gefängnis verlassen, wohin er wegen einer Majestätsbeleidigung gekommen, aber sie fingen an, ihn zu necken, und erzählten, er sei bis über beide Ohren verliebt in ein Mädchen, die ganz außerordentlich zielbewußt war, denn so nannten sie es, wenn jemand ihre Anschauungen teilte, und die habe ihm einmal gesagt, sie könne ihn nicht lieben, weil er noch keine Opfer gebracht habe und sei nicht ein einziges Mal verurteilt; das habe er sich so zu Herzen genommen, daß er noch denselben Abend in einer Versammlung eine Rede mit den heftigsten Majestätsbeleidigungen gehalten, für die man ihn sofort arretiert habe. Über diese Geschichte lachten alle, und wie er selbst den Erzähler zum Scherz mit dem Ellbogen stieß, entstand unter Gelächter und Späßen ein allgemeines scherzhaftes Schieben und Stoßen um den Tisch wie bei fröhlichen Jungen, daß der ernste Polizeileutnant seinen gesträubten Bart von dem Papier, auf dem er fleißig die Reden niederschrieb, nach der Richtung wendete und der Vorsitzende eine Glocke erklingen ließ und zu parlamentarischer Ordnung mahnte.

Auf der Bühne stand gerade ein Redner, der seine abweichende Meinung von den Gedanken des Vortragenden mühsam in recht unklaren Sätzen erklärte, die doch von den Versammelten mit musterhafter Geduld und Ruhe angehört wurden; seine Meinung aber war, daß die Arbeiter die Bildung schon errungen hätten, weil sie »aufgeklärt« seien, aber es gäbe noch eine zu große Menge von »unaufgeklärten« Arbeitern, und die seien der wahre Feind, gegen den man kämpfen müsse. Zum Schluß trug er einen Vers vor, der gegen den »Unverstand der Massen« gerichtet war und großen Beifall erhielt.

Inzwischen erzählten die jungen Leute mit leiser Stimme wieder andere Scherze. Auf einen gewissen Polizeibeamten, den sie den Spitzohrigen nannten, hatten sie einen besonderen Ärger, und deshalb wurde ihm zum Verdruß regelmäßig die neue Nummer des »Sozialdemokrat« in den Briefkasten gesteckt, ohne daß er je den Täter ausfindig machen konnte; der »Sozialdemokrat« war damals das anerkannte[136] Blatt der Partei und wurde in England gedruckt und heimlich nach Deutschland gebracht und hier im stillen verbreitet, und besonders stolz waren die Leute darauf, daß das Blatt immer mit der pünktlichsten Regelmäßigkeit in die Hände der Leser kam. Über den Spitzohrigen erzählten sie noch andere Geschichten; der hatte bei einer Haussuchung in einer gipsernen Kaiserbüste wichtige Schriftstücke der Partei entdeckt, die der Besitzer an ihrem Ort ganz sicher geglaubt; aber nach einigen Tagen, wie des Kaisers Geburtstag war, hing bei ihm eines Morgens eine blutrote Fahne aus dem Fenster statt der schwarzweißen, und hier vermochte er den Mann, der ihm diesen Streich gespielt, nicht aufzufinden. Mit besonderer Freude erzählte diese und andre Geschichten der junge Mann, der mit seiner zielbewußten Geliebten geneckt war und Weiland genannt wurde, und seiner Listigkeit merkte man wohl an, daß er nicht unbeteiligt war an derartigen Späßen.

Während diesem hatte der Redner auf der Bühne eine unvorsichtige Äußerung getan; über die erhob sich der Polizeileutnant, setzte seinen Helm auf und erklärte die Versammlung für aufgelöst. Da standen sofort alle auf, und indem sie sich mit Ruhe zum Gehen bereiteten, stimmten sie die Marseillaise an, der ein besonderer, für ihre Verhältnisse passender Text untergelegt war.

Das machte auf Hans und Karl einen gewaltigen Eindruck, wie die mutigen, leidenschaftlichen und jubelnden Töne dieses Liedes, von Hunderten begeisterter Männer gesungen, in dem vorher so nüchternen Saale ertönten, und es war, als wollten diese Leute jetzt alle gleich zum Kampf eilen, und als müßten sie siegen, und die beiden Studenten waren so hingerissen von der Wucht, daß sie sich gleich dem Haufen angeschlossen hätten, wenn die zu einer Barrikade gezogen wären, denn es war, als sei ihnen die eigene Überlegung geraubt und als folgten sie nur dem gemeinsamen Impuls der Menge, so schritten sie im Takt mit den andern, und ihre Herzen schlugen hoch, und nur ein Trieb war ihnen, nach vorwärts zu gehen.

Indessen währte das wunderliche Gefühl nur wenige Augenblicke, denn auf der Straße verstummte das Lied; vor der Tür standen zwei Reihen Schutzmänner, zwischen denen alle hindurchgehen mußten.[137] Eine Stimme rief: »Laßt euch nicht provozieren«; daraufhin war es mit einem Male, als sei jetzt alles harmlos, kleine Gruppen schwenkten nach verschiedenen Richtungen ab, ein Schutzmann mahnte einmal zum Weitergehen, und willig gingen alle weiter und zerteilten sich, es war nicht anders, als seien alle von einem einfachen Vergnügen gekommen. Ohne weitere Überlegung hatten sich die beiden Studenten den Leuten an geschlossen, mit denen sie zusammengesessen, und gingen, die einen fragend und die andern erklärend, durch die Straßen, welche so gleichgültig aussahen wie sonst, nur war es Hansens angestrengten Nerven, als hallten ihre Schritte ganz besonders auf dem Pflaster. Nach kurzem Bereden traten sie in eine Wirtschaft, in der die Arbeiter bekannt waren, denn der Wirt begrüßte sie mit Vertraulichkeit; die Vertraulichkeit von dem ungesunden und dicken Mann war Hansen unangenehm.

Es stellte sich heraus, daß der ältere Arbeiter von den beiden Studenten eine Belehrung haben wollte, denn er erzählte, daß er viel gelesen habe, und besitze zu Hause eine Menge Bücher, deshalb habe er auch keine Frau genommen, und ihn beschäftige vornehmlich eine Frage, die sei ihm aber noch in keinem Buch beantwortet, wiewohl er keine Mühe gescheut, denn er sei doch nur ein Arbeiter und besitze nicht die rechte Vorbildung; nämlich, es werde gesagt, daß unsre Gedanken und auch das, was wir wollen, durch die Verhältnisse bestimmt werde, in denen wir leben, und daß also die Verhältnisse schuld sind an allem Übeln, das geschieht. Wenn das richtig sei, dann könne man also dem Menschen, der Böses tut, mit Recht keinen Vorwurf machen und dürfte ihn auch nicht strafen, und auch dieser Schluß werde von vielen für richtig gehalten. Er aber meine, das alles könne nicht so sein, denn dann verlohne es sich ja gar nicht, daß man lebt, und er für seinen Teil wolle lieber tot sein als leben, wenn es so sei.

Der Mann, der zu Hans das sagte, mochte etwa fünfzig Jahre alt sein und war ein Schuhmacher, und seine Gestalt und Gesicht waren auch die eines armen Schuhmachers, der vielleicht nach seines seßhaften Gewerbes Art zuweilen wunderliche Gedanken hat. Aber diese Worte rührten Hans ans Gewissen, denn plötzlich merkte er, daß er ein ganz andrer Mensch geworden war wie früher, und daß er früher[138] gedacht hatte, er wolle lieber tot sein als so leben, wie der Mann schilderte, und daß er jetzt so lebte. Und dazu wurde ihm klar, daß er jetzt viel log; denn der fröhliche Weiland redete wohl die Wahrheit, und der ernsthafte Jordan redete die Wahrheit, und dieser Mann; aber er selbst hatte sich in Lügen gefangen und war dadurch in Gewissensangst geraten.

Er wußte aber nicht, was er antworten sollte; denn nicht nur gibt es ja keine Antwort auf die Frage, sondern er selbst war auch so verwirrt, daß er auch sonst nichts Rechtes zu sagen gewußt hätte. Deshalb sprach er nur, daß das eine Sache des Glaubens sei; wenn einer glaube, daß er in seinen Gedanken und Entschlüssen durch die Verhältnisse bestimmt werde, so sei es so, und wenn er das nicht glaube, so sei es nicht so. Hiermit war dem Mann nun wohl nicht sonderlich gedient; aber er merkte wohl, daß Hans ihm nicht mehr zu sagen wußte, und deshalb forschte er nicht weiter.

Jordan hatte mit Anstrengung zugehört. Jetzt sagte er, es sei richtig, daß die Verhältnisse unser Denken und Wollen bestimmen; denn wenn wir alle in der herrschenden Klasse geboren wären, so würden wir so denken und handeln wie die, und die Arbeiter verurteilen, und doch wären wir im übrigen genau solche Menschen wie jetzt. Hierüber versuchte Karl zu bemerken, daß sie beide als Studenten doch der höheren Klasse angehörten; es zeigte sich aber, daß die Arbeiter die beiden gar nicht recht ernst nahmen, sondern sie mit einer liebenswürdigen Nachsicht betrachteten, etwa wie ein alter Förster einen jungen Herrn mit auf den Anstand genommen hat, und dieses Urteil ergab sich nicht aus den Worten, die sehr zartfühlend waren, aber man merkte es doch in der Gesinnung. Der alte Mann jedoch sagte zum Schluß, wenn die Gerechtigkeit nur ein Rauch sei, so sei die ganze Welt sinnlos; damit erhob er sich zum Gehen und war erregt wie einer, der einen heftigen Kampf für sein Liebstes streitet und dabei doch das Gefühl hat, daß sein Kampf nutzlos ist.


Karl hatte sich mit Weiland angefreundet und mit dem verabredet, daß sie gemeinsam am Sonntag einen Ausflug in einen Vorort machen wollten, der berühmt war durch seine Tanzgelegenheiten, und[139] Hans ließ sich bereden, mitzugehen. Sie kamen in einen niedrigen und sehr großen Saal, der mit Zigarrenqualm und Menschengeruch angefüllt war; ein Lärmen, Lachen und Schwatzen stieg in die Höhe, auf einer Bühne saß eine kleine Kapelle, und die Paare drängten sich durch die Menge zum Antreten. Nach vielem Suchen fand Weiland seine Braut, die mit zwei andern Mädchen zusammensaß, welche von verlegener Freude ergriffen wurden, wie sie die drei sahen; aber die Lustigkeit Weilands und der leichte Sinn Karls überwanden bald die Befangenheit der ersten Minuten, und nur Hans fügte sich nicht so recht ein, wofür er auch der besonderen Aufmerksamkeit der Mädchen teilhaftig wurde. Bald begann Weilands Braut mit Geläufigkeit zu erzählen und redete mit Verachtung von ihren Eltern, deren Anschauungen zurückgeblieben seien, denn ihr Vater war ein alter Achtundvierziger, der immer noch auf dem Standpunkt der bürgerlichen Demokratie stehe, und der habe ihr ein Sparkassenbuch angelegt und gehöre zur freireligiösen Gemeinde. Ihr Wunsch wäre, daß sie mit Weiland in freier Liebe zusammenleben wollte, aber ihr Vater verlangte, daß sie sich der bürgerlichen Trauung unterzögen. Hans sprach am meisten mit der einen Freundin, einem stillen und blassen Mädchen, das ein schwarzes und oben geschlossenes Kleid trug und ihre Hände mit einem eigenen schwermütigen Ausdruck lässig im Schoß liegen hatte. Die erzählte, daß sie Weißnäherin war und für ein Geschäft arbeitete; sie konnte nicht tanzen, und ihre Reden waren sonderbar müde und unfroh. Einmal antwortete sie auf eine Bemerkung: »Ach, was hat man vom Leben, den ganzen Tag sitzt man vor der Maschine, und wenn man heiratet, so hat man dazu bloß noch Sorgen und Kummer.« Etwa achtzehn Jahre mochte sie alt sein. Auch klagte sie in ihrer Art darüber, daß sie sich nun schon so lange gewünscht habe, einmal einen feinen Herrn kennen zu lernen, und nun, da sie das erreicht, sei sie in solcher Verfassung, daß sie ihn von sich abschrecke. Über diese Reden bekam Hans bald ein peinliches Gefühl und war ihm, als müßte er eine Schuld haben, und zugleich war er aber auch gereizt gegen das Mädchen; die begann in klagender Weise weiter zu erzählen von ihrem Leben und von ihren Verhältnissen; da zeigte es sich, daß ihre Eltern sich ganz jung geheiratet hatten, weil ihr Vater in Schlafstelle gewohnt[140] bei den Eltern der Mutter, und daß sie von Leichtsinn schnell in Sorge geraten waren und ihren Körper noch nicht hatten entwickeln können, wie sie auch keine Ersparnisse gehabt hatten für die Einrichtung des Hausstandes, und wie dann in schlechter und lichtloser Wohnung viele schwächliche und freudlose Kinder gekommen waren, die aufwuchsen in Bitterkeit und ohne Kraft, mit blassen Backen und hinschmachtendem Leib. Über alle diese Umstände urteilte das Mädchen mit wunderlicher Klarheit, und am Ende sprach sie, die armen Leute hätten sehr unrecht, wenn sie immer mehr Freiheit haben wollten, denn sie seien wie die Kinder, die von guten Menschen beaufsichtigt werden müßten, damit sie sich nicht schädigten durch ihre eignen Torheiten, und dieses Urteil hätten unter ihnen viele Frauen, aber die Männer verhöhnten sie deswegen und sagten, sie seien nicht aufgeklärt.

Wie das Gespräch diese Wendung genommen hatte, verschwand ihnen beiden die peinliche Stimmung, und es entstand bald eine gewisse Behaglichkeit zwischen ihnen, indem sie auf die Dinge des gewöhnlichen Lebens kamen und das Mädchen eine ernsthafte Mütterlichkeit gegen Hansen entwickelte, gegen ihren Willen, denn sie hatte sich die ganze Woche darauf gefreut gehabt, ein leichtes und fröhliches Liebesband zu knüpfen mit einem Studenten, den sie sich als einen besonders lustigen und ganz außergewöhnlichen Menschen vorgestellt; aber nun erzählte sie, wie sie und ihre Mitarbeiterinnen kochendes Wasser geliefert bekamen für ihren Kaffee, und daß sie sich Geld gespart zu einem neuen Kleid, und wenn er sich nicht schäme, mit ihr auszugehen, so wolle sie dieses Kleid tragen, denn sie wisse bereits eine billige Gelegenheit für einen guten Stoff, der ihr auch zu ihrem Gesicht und Figur stehe.

Inzwischen tanzten die andern, und die dünne Musik tönte durch das Lärmen; Zigarrenrauch ringelte sich in die Höhe zu der allgemeinen Wolke, und Kellner drängten sich eilfertig und aufgeregt durch die Menge; wie Hans sie nach schüchternem Bedenken zum Trinken aufforderte, nippte sie zart an ihrem Glase und klagte dann, daß sie wenig vertragen könne.

Die andre Freundin war ein übermütiges, gesundes und rotbackiges Wesen, deren Augen in Fröhlichkeit blitzten, die hatte solche Lust zum[141] Tanzen, daß sie nicht still sitzen mochte, wenn die Musik ertönte, und Karl, der ein geschmeidiger und leichter Tänzer war, führte sie immer mit heiterer Aufforderung in den Reigen. Bald fanden sie heraus, wie sie Hansen und die Freundin necken konnte, und Karl, der durch alles gleichfalls in frohe Laune geraten war, stimmte mit ein; aber obschon beide eine gutherzige Gesinnung dabei hatten, wußten sie doch nicht eine gewisse Taktlosigkeit zu vermeiden, die durch das Dissonieren der Meinungen ja leicht in dem lebendigeren Teil erzeugt wird, und so entstand ein nicht ganz behagliches Gefühl bei allen, durch das besonders Hansen plötzlich die schlechte Luft, der Menschengeruch und der unfeine Lärm häßlich auffielen, so daß er stiller wurde und in sich versank.

Wenn Leute aus dem Volk recht gesund und in ihrer Art wohlgeordnet leben, so haben sie einen zutraulichen Glauben an sich selbst und an alles, was sie tun, der sie sehr glücklich macht. Von dieser Beschaffenheit war Karls Freundin. Die diente bei einer vornehmen Herrschaft und war recht tüchtig in ihrer Tätigkeit, und indem sie aus diesem die Überzeugung herausnahm, daß alles, was sie tat, überhaupt nicht besser getan werden könne, hatte sie in ruhiger Zuversicht bald die Herrschaft über den kleinen Kreis gewonnen, daß selbst Weilands Braut sich ihr unterordnete. Es war für Hansen recht unbehaglich, daß er sich dieser an sich harmlosen Herrschaft nicht zu erwehren vermochte, wenn er nicht eine Mißstimmung schaffen wollte; und so hatte er hier zum ersten Male das Gefühl, daß doch eine Kluft zwischen den verschiedenen Klassen der Gesellschaft ist, die nicht überbrückt werden kann, und wenn jemand den Versuch dennoch machen will, so begeht er vielleicht eine schlechte Handlung, denn er zerstört die Wurzel des Dranges nach Höherem.

In der Folge stellte sich heraus, daß Karl bei dieser Zusammenkunft mit dem Mädchen eine Liebschaft angeknüpft hatte, die man mit dem Berliner Ausdruck als Verhältnis bezeichnet. Er bewegte sich in den seltsamsten Vorstellungen, indem die modernen sozialistischen Ideale mit alten romantischen Bildern vom Volk bei ihm zusammenschmolzen, und so erschien ihm dieses Mädchen aus dem Volke mit ihrem Drange nach Freiheit und nach ungestümem Glück zugleich als eine[142] kräftige und ursprüngliche Natur und als ein Erstling einer großen Zukunft. Es kamen die beiden aber zusammen an Sonntagen, die das Mädchen frei hatte, und indem zu der Zeit der Frühling begann, daß er die Menschen aus den kahlen und grauen Straßen hinauslockte in helles Grün, fuhren sie aus der Stadt, bis sie an Orte kamen, wo sie allein waren und sich auf heimlichen Wegen ergingen unter Kiefern, welche die ersten hellgrünen Spitzen vorsteckten. Da sah sie viele Dinge, die ihr früher nicht bekannt gewesen waren, weil sie vorher die nicht beachtet, Vögel von allerlei Art und Frühlingsblumen und einen reinen, klaren Himmel; und zuerst war sie einem gedankenlosen Drange gefolgt, der sie nach Glück und Genuß trieb, wie sie aber ein Vögelchen gesehen hatte, das einen Halm im Schnabel trug zu seinem Neste, und ein Himmelschlüsselchen, das schüchtern sein Köpfchen beugte auf einer großen Wiese, da verschwand ihr das laute Lachen, und ihre Augen wurden ernster, und ihr war, als müsse Karl ein Halt sein für sie, und das Leben schien ihr nicht mehr eitel Jubel wie vorher. Aber wie sie sich so änderte, da begann Karl seine Seele vor ihr zu verschließen, denn auch ihn hatte nicht Liebe zu ihr getrieben, sondern Leichtfertigkeit und eine falsche Vorstellung, die er sich selbst geschaffen; aber bei ihm wandelte sich der leichte Sinn nicht in Treue und Zuneigung. Das merkte sie gar bald, und da seufzte sie heimlich und kehrte bei sich ein; aber schon war ihre Liebe zu groß geworden, als daß sie hätte sich entfernen können von ihm, und so hing sie ihm weiter an in bitterer Demütigung, und ihr Kummer machte sie besser, wie sie gewesen, und ihr Gesicht verlor zwar seine jugendliche Frische, aber es bekam edlere Züge, und selbst ihre Bewegungen erhielten etwas Vornehmes, das ihren Bekannten auffiel, daß sie es dem Einfluß Karls zuschoben. Dieser aber lebte in Haltlosigkeit; schämte sich seiner selbst und war deshalb hart gegen sie; denn schwache Menschen können es nicht leiden, daß sie geliebt werden und müssen den Liebenden plagen. Unter solchen Umständen geschah es, daß sie sich gesegneten Leibes fühlte; da erschrak sie heftig und hatte zugleich eine heimliche Freude, und außerdem überkam sie, wie aus einer Nacht, die Erinnerung an ihre Heimat und an ihre Eltern, und wie sie sich schämen mußte zu Hause, wenn dort jemand etwas von ihr wüßte; vor ihren Freundinnen in Berlin aber[143] schämte sie sich nicht, auch hatte sie keine Freude auf das Kind, wenn sie bei denen war. Wie Karl die Neuigkeit erfuhr durch Weilands Braut und nicht durch sie selber, da hatte auch er einen starken Schrecken, und indem sich verwirrte Gewissensbedenken in ihm erhoben, die nicht auf klaren und verständigen Gefühlen ruhten, sondern auf Unwahrheit, so beschloß er bei sich, daß er sie heiraten wolle. Wie er ihr diesen Entschluß mitteilte, sprach sie zu ihm: »Wenn du mir solche Worte gesagt hättest in unsrer ersten Zeit, bevor ich dich wirklich lieb hatte, so wäre ich sehr stolz geworden durch sie und hätte mich ohne weitere Gedanken gefreut, deine richtige Frau zu werden. Nun aber weiß ich, daß es ein Gefühl gibt, das ich damals nicht kannte, und das wahrscheinlich viele Menschen nicht kennen, und vielleicht hätte ich unter andern Verhältnissen auch selbst bis zu einem späten Tode nichts von diesem Gefühl erfahren; da ich es nun aber kenne, so kann ich nicht mit dir zusammenleben, denn du kannst mich nicht so ehren, wie es nötig wäre, weil ich geringer Herkunft bin und mir nicht feine Art angewöhnen kann, auch nicht der rechten Bildung fähig bin; was alles wohl jetzt in unserm Kreise und so lange wir jung sind nicht so schlimm erscheint, aber mir viele schmerzliche Stunden erzeugen würde, wenn ich erst älter bin und du in eine andre Gesellschaft gelangt bist.« Wie sie das gesagt hatte, spürte Karl, daß sie aus übergroßer Liebe ihm mehreres verschwieg, von dem sie gedacht hatte, daß es ihn kränken könne, und es war ihm, als ob er sich recht schämen müsse vor ihr. Damals zog zuerst Bitterkeit in sein Herz, denn er sah plötzlich ein, daß er ein niedriger Mensch war, und er begann sich selbst zu hassen und versuchte, ob er andre verachten könne; denn solche Hölle entbrennt in unedlen Leuten, wenn ihnen durch die Betrachtung Edler ihr Unwert klar wird; deshalb begann er lügnerische Worte zu machen, die sie schmerzten und in ihm am Ende eine große Leere schufen.

Wie nun ihre Zeit herannahte, mußte sie ihre gute Stelle aufgeben, und indem sie unwillig abwehrte, daß er ihr in irgend etwas half, nahm sie ihr erspartes Geld von der Sparkasse und zog zu einem alten Kunkelweibe, das in solchen Fällen Mädchen Unterkunft gewährte; hier saß sie in einer großen Hinterstube, die ein Fenster in der äußersten Ecke auf den Hof hinaus hatte, und saß an dem Fenster im[144] trüben Winterlicht und nähte Windeln, Binden und Hemdchen für das Kind, das sie erwartete. Und daran dachte sie, daß das ein kleines Wesen sein werde, das sie sich an die Brust legen wollte, und alle andern Gedanken waren ihr versunken; nur stellte sie es sich immer wieder mit Absicht recht klar vor, wie klein das Kind sein werde, weil sie es sich sonst zu groß gedacht hätte, etwa wie es auf einem Stühlchen sitzt und nach seinem Schüsselchen verlangt. Mit Kraft und Anstrengung vergaß sie, daß sie es nicht bei sich behalten konnte, sondern sie mußte nach ein paar Wochen wieder in Dienst gehen, und das liebe Kind mußte bei der Frau bleiben; denn wenn sie daran gedacht hätte, dann hätte sie immer weinen müssen; so aber konnte es ihr vorkommen, als gehöre ihr diese Stube, und sie sei verheiratet, und am Abend komme ihr junger Mann, und zuweilen bedachte sie bei sich, wie sie die Möbel anders stellen wolle und alles recht reinlich halten. Aber dann tat sich die Tür auf, und das alte Kunkelweib kam herein und erzählte ihre Geschichten, wie sie sich mit den Leuten gezankt hatte. Da mußte sie sehr an sich halten, daß sie nicht weinte; denn wenn Karl sie besuchte, so war ihr das auch kein Trost, weil sie sah, daß er nur um sich ängstlich war, und an sie dachte er eigentlich gar nicht; ja, es war zuzeiten, als sei es ihm ein besonderes Opfer, welches er ihr brachte, daß er sie besuchte.

Wie es oft geht, daß Verhältnisse, die eigentlich längst sinnlos geworden sind, doch noch fortbestehen, weil keine äußere Gelegenheit kommt, die sie zum Aufhören bringt, so geschah es auch hier. Denn nachdem das Mädchen wieder eine neue Stellung erhalten hatte, schien es äußerlich, als sei zwischen beiden alles wie vorher, da sie doch beide mit Mühe und Verdruß ein drückendes Joch trugen, und Karl war oft heftig und ungerecht gegen sie, und sie schwieg voller Sanftmut. Da bat sie ihn, es war gerade am Jahrestag ihrer ersten Begegnung, daß sie wollten wieder an jenen Ort hinausfahren, wo sie sich kennen gelernt. Sie kamen an, und es schien äußerlich alles unverändert, denn wie im vorigen Jahre war der große und niedrige Raum vollgedrängt mit Menschen, und spielte auf der Erhöhung die geringe Kapelle, und es war fast, als schlage der Lärm der Gespräche, des Klapperns, des Gehens und Kommens, des Tanzens und der Musik im[145] gleichen Zeitmaß an ihr Ohr, nur saßen sie jetzt allein und ohne die Freunde.

Aber da wurde ihnen klar, wie sie selbst sich verändert hatten, denn sie wurden von Widerwillen und heftiger Langeweile befallen, und wo im vorigen Jahr ihnen die Hoffnung einen weiten Raum gezeigt hatte hinter diesen tanzenden Paaren, da war es jetzt, als sei das alles hier nicht räumlich, sondern geschehe in einer Fläche, und sie hätten fliehen mögen, weil das Gewühl ihnen nahe kam. Mit einem erzwungenen Lächeln führte Karl sie zum Tanze, aber ihre Hände lagen schlaff ineinander, und sie beide dachten an den ersten plötzlichen Händedruck, den sie sich damals beim Tanz gegeben, der sie beide elektrisch durchzuckt hatte.

Während diesem überlegte sie sich eine Absicht, führte ihn aus dem Saal in den winterlichen Garten und sprach zu ihm: »Ich sehe ein, daß es für uns beide am besten ist, wenn wir nun auseinandergehen. Wohl haben unsre Eltern recht gehabt, daß sie uns warnten vor der Leichtfertigkeit und sagten, gleich gesellt sich zu gleich. Ich habe geglaubt wie viele heute, das Leben sei leichter geworden, und die Alten seien altfränkisch, und unter den Menschen herrsche mehr Gleichheit wie früher. Aber jetzt verspüre ich, daß ich einem falschen Scheine gefolgt bin, denn in Wahrheit ist das Leben schwerer geworden, weil ein jeder allein steht in der Welt und keinen Menschen hat, noch Meinung, an die er sich halten kann; und in Wahrheit ist eine tiefere Ungleichheit unter die Menschen gekommen, wie sie früher war; denn als du versuchtest, wie du es nanntest, mich zu bilden, da verspürte ich eine tiefe Kluft, die nicht überbrückt werden kann; und wenn ich redlich sprechen soll, so muß ich sagen, ich weiß nicht, welches mehr wert ist, deine Bildung oder das, was ich für mich habe und auch behalten will. Und vielleicht ist das der einzige Unterschied gegen früher, daß ich als ein Dienstbote solche Gesinnungen habe und ausspreche. Aber wir wollen nicht in Haß und Erbitterung voneinandergehen, denn wir haben doch einmal gedacht, wir gehören zusammen, und ich wenigstens bin durch dich ein andrer Mensch geworden. Und wie ich dir schon sonst sagte, will ich das Kind für mich behalten und will mich seiner auch allein freuen, du aber sollst keine Furcht haben durch uns beide. Und denke[146] auch nicht, daß ich ein trauriges Leben haben werde; denn ich will suchen, daß ich einen guten und tüchtigen Mann bekomme, der für mich paßt, und will heiraten und ein rechtschaffenes Leben führen.«

Nach diesen Worten geschah nur noch Unbedeutendes; und so trennten sich am Ende die beiden, nachdem einer den andern sonderbar beeinflußt hatte und dessen Leben in eine neue Bahn geleitet.

Bei Karl kam es in den folgenden Wochen, daß eine dichterische Begabung, die sich bis dahin nicht hatte zu äußern vermögen, einen ihr angemessenen Ausdruck fand. Freilich war seine Dichtung nicht ein Kind der Kraft und Gesundheit und ein freiwilliges Überfließen, sondern wie bei so vielen Menschen unsrer heutigen Zeit war sie ein Kind der Schwäche, die hier dem Seelenunkundigen durch scheinbar scharfe Wiedergabe der Natur gerade als Stärke zu erscheinen vermochte. Zu jener Zeit kam aus dem Auslande der Einfluß gleichgestimmter Seelen, und weil der leere Nachton früherer Kunst, der bei uns damals vornehmlich zu hören war, die Ohren und Geister nicht gegen die fremden Klänge einzunehmen vermochte, so geschah es, daß gerade die Dürftigen und Schwächlichen zu einer besonderen Entfaltung kamen und ein seltsames Gaukelspiel vortäuschen konnten. Karls Geschick wollte, daß er mit in diese Bewegung geriet. Aber weil er ein schwacher Mensch war, so hatte er nicht die Liebe zu den Dingen und Menschen, die ein Dichter haben muß, der die Welt in sich aufnimmt in Heiterkeit und Ruhe und sie vergoldet durch seine Freude, Hoffnung und Willen zum Guten und dann wieder aus sich heraus stellt in einen Rahmen, damit die Menschen das Bild anschauen mögen und glücklicher und besser werden, sondern er beobachtete das einzelne und zerfaserte es und wollte aus den untersuchten Stücken des Leichnams wieder lebendige Körper schaffen, und zerfaserte sich selbst in Hochmut und Selbstverachtung und wollte neue seelische Wahrheiten bilden aus diesen Quellen der Eitelkeit. Und dieses alles bedeutete für die Geschichte seines Wesens einen weiteren Schritt in die Auflösung. Wie aber eine Frucht, die sich aus der Blüte entwickelt hat zum Fruchtansatz und allmählich gereift ist zum rotbackigen Apfel und dann vom Baum gepflückt wird und aufgehoben im dunkeln Raum, wie solcher Frucht alles weitere Geschehen als eine weitere Entwicklung erscheinen muß,[147] nicht nur, daß sie noch reift auf dem Stroh und schmackhafter wird, sondern auch, daß sie endlich vom Kernhause aus zu faulen beginnt und die Fäulnis sich immer mehr ausdehnt, bis der ganze Apfel verfault ist und der Schimmel ihn bedeckt, so muß auch solchem Menschen seine Auflösung als eine Weiterentwicklung erscheinen, und er mag sich sogar als einen Erstling preisen der künftigen Zeiten, wo eine neue Art Menschen leben wird, die ihm gleich sind, da er doch nur ein fauler Apfel ist und nicht mehr wert, als daß ihn die Hausfrau ausliest und wirft ihn auf den Mist.


Es ist schon früher berichtet, daß die Gräfin viele Jahre lang bettlägerig gewesen ist. Welche Krankheit sie haben mochte, das konnten die Ärzte nicht bestimmt sagen, denn es wechselten die Schmerzen und die Stellen des Leidens und alle Anzeichen, und nur das war immer das gleiche, daß sie nicht ihr Bett verlassen konnte.

Sie war eine harte Frau und hatte einen unruhigen Verstand, der zu allen Dingen schweifte, und seit ihrer Krankheit vornehmlich aber zu den verschiedenen Angelegenheiten des Haushaltes. Diesen wollte sie beständig von ihrem Lager aus leiten, und die Dienstboten mußten ihr alles genau berichten und erklären, und indem sie in ihrer Einsamkeit nach diesen Antworten und Erzählungen sich ein vollständiges Bild von allem machte, befahl sie ihnen genau alles bis in das geringste, was getan werden sollte. Aber da die Dienstboten sich sehr häufig nicht an ihre Befehle kehrten und nach ihrem Belieben wirtschafteten und ihr dann später trügerischerweise Falsches berichteten, bildete sie sich doch eine unrichtige Vorstellung von allem, was vorhanden war und was geschah. Dann kam es, daß die Leute ihre früheren Lügen vergaßen und nach dem wirklichen Stande erzählten, auch sonst sich Widersprüche herausstellten zwischen ihrem Bilde, das sie sich gemacht, und den wirklichen Zuständen. Hierüber geriet sie immer in großen Zorn, schalt viel und klagte dann das Geschehene ihrem Mann, der sich hierdurch noch mehr von ihr entfremdete, als ohnedies durch ihre Krankheit geschah. Wie sie das verspürte, machte sie ihm Vorwürfe und trieb sich und ihn immer weiter in den Unfrieden hinein.

Die beiden Söhne, die mit alten und in der Familie erblichen Namen[148] Bolko und Ivo genannt wurden, hatten sich inzwischen in der bereits früher geschilderten Art entwickelt und waren von Hause fortgekommen als Offiziere. Die ganze Zeit über verlangten sie von ihrem Vater immer sehr viel Geld, der zwar für sich selbst leichtfertig und unbedacht war, für seiner Söhne zielloses Leben aber doch einen klaren Blick hatte; auf seine Ermahnungen freilich hörten sie nicht, sondern hielten ihm keck sein eignes Beispiel vor; und indem er Furcht hatte, über seine Verhältnisse selbst klar zu werden, vermochte er ihnen auf diesen Einwurf nicht eindringlich zu antworten, denn sie lebten in der Meinung, daß das elterliche Vermögen viel größer sei, als es in der Tat war. So war er dahin gelangt, daß er schon Geld auf Wechsel genommen hatte, und war in die Hände der Wucherer geraten; nun befiel ihn zuzeiten eine heftige Angst und sinnlose Reue; und während solche Stimmungen früher von selbst wieder verschwunden waren durch die Wirkungen seines leichten Gemütes, kostete es ihn jetzt Anstrengung, sich von ihnen frei zu halten. Die Frau durfte von allen diesen Sorgen nichts erfahren, und wenn sie in ihrer Unwissenheit oft Verfügungen traf, die ihm in seinem Mangel schwierig wurden, so mußte er allerhand Ausflüchte ersinnen, Lügen erzählen und lange Geschichten vorbringen und zuweilen sich gekränkt stellen oder Vergeßlichkeit heucheln.

Die Tochter, die allein zu Hause geblieben war, stand ohne eine rechte Bedeutung an der Seite, denn sie merkte wohl, daß der Vater Geheimnisse hatte, und aus Scheu und Mitleid wurde dadurch ihr Benehmen fremd gegen ihn, was er nach seinem bösen Gewissen ausdeutete, als wisse sie vieles und zürne ihm; und die Mutter hielt sie von den Angelegenheiten des Hauses entfernt aus Eifersucht, weil sie selbst die Leitung behalten wollte, und auch aus geheimer Furcht, daß ihre Unzulänglichkeit aufgedeckt werde. So brachte die junge Dame ein freudloses Leben hin in Sehnsucht nach einer Tätigkeit und Wirkung.

Indem die Dinge so lagen, kam plötzlich der älteste Sohn Bolko unvorbereitet zu einem kurzen Besuch: der Vater erschrak, als er das Telegramm erhielt, und wie des Sohnes sporenklirrender Schritt auf dem Gange hörbar wurde, stockte ihm das Blut. Er führte ihn zur[149] Mutter, die den Ältesten immer besonders geliebt hatte, indem sie von seinem wahren Leben gar nichts wußte, sondern ihn immer nur kannte, wie er als ein hübscher und schlanker Mensch mit offenem Gesicht ehrerbietig in ihrem dämmerigen Krankenzimmer stand. Sie freute sich mit einem glücklichen Gesicht, wie er ihr die Hand küßte, und mit großer Zärtlichkeit streichelte sie seine blonden Haare. Dann ließ sie sich von ihm erzählen, und er mußte Bälle beschreiben und Schlittenfahrten, und auch von seinen Pferden sprach er. So hörte sie immer mit glücklichem Lächeln zu, und als sie selbst einmal einiges sprach, suchte sie seinen Gedanken eine leise Richtung zu geben, denn sie hatte eine Heirat für ihn im Sinn und hätte gern gewußt, welches seine Meinung sei; und in dieser kurzen Zeit erschien ihr plötzlich ihr eignes Leben gar nicht so unglücklich wie sonst, und ihres Sohnes künftiges Leben war ihr heiter und sonnig. Er lachte aber über ihre Anspielungen und machte Scherze, so daß sie ein wenig gekränkt wurde; aber nur ein wenig, sie verzog den Mund, wie sie als junges Mädchen getan, und ganz schnell wurde sie wieder zufrieden und heiter; seit sehr langer Zeit war sie nicht in solcher Verfassung gewesen. Nach einer Weile stand er auf, um das Zimmer zu verlassen; groß und stattlich war er vor ihr, und sie blickte in ein ungetrübtes und lachendes Gesicht. Da überkam sie eine besondere Zärtlichkeit und gab ihm einen Wink, daß er sich über sie beugen mußte, und sie selbst hob ihren Kopf und drückte ihm einen Kuß auf die Stirn; dabei überflog Röte ihr ganzes Gesicht, und ihre Augen glänzten. Wie er zum Vater zurückkehrte, fand er den in einer Ecke seines großen Lehnstuhls, da sah er ganz verfallen und grau aus; schweigend wies er dem Sohn einen Platz an. Die Furcht vor dem Gespräch lastete auf beiden, und um die Stille zu brechen, sagte der junge Mann endlich gleichgültige Sätze über die Ernte. Der Vater nickte nur, denn ihm verschloß die Angst den Mund noch fester wie dem Sohne, zuletzt aber fragte er doch nach dem Grund des Besuches, unvermittelt. Da schwieg der junge Offizier zuerst lange, und endlich erzählte er, daß er Abschied von den Eltern nehmen wolle, weil er am andern Tage einen Zweikampf habe, in dem er fallen werde. Nichts weiter sagte er, aber der Vater merkte, daß sein Sohn sich schämen mußte über die Ursache, und daß alles unabwendbar[150] war, und saß da mit entsetztem Ausdruck und offenem Munde, und den Sohn überkam ein Ekel vor dem gedunsenen und schlaffen Schlemmergesicht; deshalb fügte er in härterer Sprache hinzu, daß er seine Schulden und andre Verpflichtungen aufgeschrieben habe und ihm das Verzeichnis geben wolle, damit der Vater später alles begleiche.

Da war es, als sei dem Alten das Wichtigste gar nicht klar geworden, und nur das Geringere berührte ihn, und fing an, mit heftigen Worten auf den Sohn zu schelten, daß der Schulden gemacht habe, und in seiner Verstörtheit gebrauchte er ganz gemeine Ausdrücke. Hierdurch geriet der Junge in eine feindliche Erregung und sprang ungestüm von seinem Stuhl auf und erwiderte die Vorwürfe und sagte dem Vater, daß er keine Eltern gehabt habe, und auch sein Bruder habe keine Eltern gehabt und auch seine Schwester nicht; niemand habe sich um sie gekümmert wie bezahlte Leute, denn den Eltern waren sie zur Last, weil die andre Dinge vorhatten; nur wurden sie zuweilen der Mutter vorgeführt in geputzten Kleidern und mit einstudierten Reden; nie haben die Eltern ein Herz gehabt für die Kinder, deshalb seien die nie mit einer Bitte zu ihnen gekommen; ein einziges Mal habe er erlebt, daß die Schwester gebeten, sie möchte gern Kaninchen haben, da sei ihr von der Mutter geantwortet, daß kein Raum vorhanden sei. Viele Vorwürfe habe er sich selbst schon gemacht über sein verkehrtes Leben, das nun jetzt in jungen Jahren zu Ende sei, und er wisse wohl, daß er selbst schuld habe, denn trotz allem hätte er ein andrer Mensch werden können; aber außer ihm selbst seien die Verursacher seines Unterganges sein Vater und seine Mutter. Und nicht lange könne es dauern, dann werde sein Bruder Ivo nach Hause kommen in derselben Weise wie jetzt er. Damit warf er das Verzeichnis der Schulden auf den Tisch und sagte, sein Erbteil müsse hinreichend groß sein, daß diese Summen nur eine Kleinigkeit dagegen ausmachten, und dann ging er aus der Tür; erleichterten Herzens, denn er war ein schwacher und schlechter Mensch und war nun beruhigt in seinem Gewissen, weil er sein Unrecht einem andern aufgeladen hatte. Wie nun die Nachricht kam von dem Tode des jungen Herrn, da ereignete sich das Sonderbare, daß die alte Gräfin plötzlich von ihrem Lager aufstand, auf dem[151] sie fünfzehn Jahre lang verharrt, und war, als sei sie nie krank gewesen. Sie ließ sich die Kleider kommen, die sie damals zuletzt getragen, als sie sich gelegt, und wählte sich ein dunkelfarbiges Gewand aus; es schien aber, als sei sie größer geworden, und ihre Figur hatte sich verschmälert, so daß das Kleid in sonderbarer Weise auf ihr hing, und indem es gleichzeitig unmodern geworden war und für einen jugendlicheren Menschen gearbeitet, machte sie einen seltsam unheimlichen Eindruck in ihrem Aufzug. Mit Leichtigkeit stieg sie die Treppen und besuchte alle Räume und Winkel und betrachtete Vorräte und Einrichtungen und fand alles ganz anders, wie sie es sich auf ihrem Lager gedacht, und geriet in heftige Erregung über die Dienstboten; und so schalt sie im Hause herum und zankte mit Bosheit, während die Leiche des Erstgeborenen gebracht wurde und der alte Herr verstört in seinem verschlossenen und verriegelten Zimmer saß. Nach dem Herkommen wurde der Tote in einem großen Saal aufgebahrt, der mit Tannengrün geschmückt war; in dem Saal hatten seit vielen hundert Jahren die Toten des Geschlechtes gelegen, von Lichten auf alten Leuchtern ihre wachsfarbenen Gesichter beschienen. Die Leute aus der Gegend und die Bedienten und die Arbeiter von den Gütern kamen, die Leiche anzusehen; sie kamen mit ihren Frauen und den schüchternen Kindern und hatten ihre Sonntagskleider angezogen. Da sahen sie die Gräfin in wunderlicher Kleidung, die über die Leiche des Sohnes ausgestreckt lag und schluchzte, daß ihre Gestalt erschüttert wurde. Viele Stunden lag sie so, und wie sie sich erhob, begann sie wieder ihr mißtöniges Schelten mit den erschreckten Leuten und eilte aufgeregt durch alle Räume, Kommodenschubladen aufziehend, in denen sie vor fünfzehn Jahren alte Flicken aufgehoben, in Schränken wühlend und nach längst vertragenen Kleidern forschend, das Porzellan und Glas betrachtend, das die Wirtschafterin mit zitternden Händen auf den großen Ausziehtisch stellen mußte, und das Silber nachzählend, das sie selber putzen wollte.

Der alte Herr hatte mit schweren Sinnen gerechnet und gezählt; zum ersten Male kam ihm jetzt eine Art Klarheit seiner Lage, und er fühlte sich gänzlich hilflos. Mit schweren Schritten ging er die Treppe hinab, und gebeugt bestieg er den Wagen, um nach dem Orte zu reisen, wo sein Sohn gestanden. Hier suchte er den Wucherer auf in seinem[152] Hause, das erst neu gebaut war, denn der Mann war ein Bauunternehmer; eine marmorne Treppe erstieg er, die mit einem teuren Teppich belegt war, und kam in ein prunkvolles Gemach; es war ihm, als verlasse ihn alles Selbstbewußtsein, das immer natürlich gewesen war, wie er dem stiernackigen Menschen gegenüberstand, der seine gewöhnliche und gemeine Art mit Kaltblütigkeit hinter einer eignen Höflichkeit verbarg, welche der Graf in den Kreisen, welche er sonst gekannt, noch nie getroffen hatte; vielleicht war der Mensch erst vor kurzem aus dem Zuchthause entlassen, und trotzdem wußte er sich so zu haben, daß der adelige Mann verwirrt wurde vor ihm. Vergeblich versuchte der in einer vornehmen und nachlässigen Manier zu sprechen, er mußte abbrechen und nach einer andern Weise suchen; am Ende legte er dem andern mit Schüchternheit seine Verhältnisse offen dar, als sei der gegen ihn ein alter und würdiger Herr, dem er vertrauen müsse, und der ihn ermahnen und tadeln, aber auch unterstützen werde. In diesen Minuten, als ihm der künstlich erhaltene Stolz vor der Kraft eines ehrlosen Menschen zusammenbrach, begann in dem Grafen eine Verstörtheit, die ihn am Ende kindisch machte. Der andre, der seinen Vorteil bald bemerkte, wußte ihn zu den Absichten zu bestimmen, die er selbst sich gesetzt, und so wurden die Schulden derart geordnet, daß der Graf ihm kaum je wieder aus den Händen kommen konnte. Ivo, der zweite Sohn, wurde zu der Beerdigung erwartet; er verspätete sich aber in auffälliger Weise und kam erst, als die Träger den zugeschraubten Sarg eben auf die Achseln nehmen wollten. Nachdem die Feierlichkeit beendet war, saßen die vier Familienmitglieder in trüben Gedanken beisammen. Am Ende begann der Sohn mit einem Scheine, als handle es sich nur um Unbedeutendes, daß er den Vater auf andre Gedanken bringen wolle, und habe er in der letzten Zeit Unglück im Spiel gehabt, und brauche er bis zum übernächsten Tage eine bestimmte Geldsumme, die ihm der Vater gewiß geben werde; absichtlich brachte er die Bitte in Gegenwart der beiden Frauen vor, weil er dachte, daß für das erste sein Anliegen dadurch geringfügiger erscheinen müsse.

In dem alten Herrn wurden durch diese Worte längst vergessene Erinnerungen lebendig, und deren Drang übertäubte in seinem geschwächten[153] Geist das Verständnis dessen, was er gehört. So begann er von seiner Jugend zu erzählen, und wie man damals anspruchsloser gelebt habe, denn nur an Königs Geburtstag habe man Wein getrunken, und sonst Kofent, und er selbst habe einmal seinem Vater kleine Schulden beichten müssen, da habe ihn der übel aufgenommen und ihm vorgerechnet, was er selbst arbeite und verbrauche, und habe ihm dann Hausarrest gegeben vier Wochen lang. Heute aber sei die Jugend leichtfertig, und das Eindringen der reichen Bürgerlichen in die Armee habe die Zeiten vornehmer Einfachheit verdrängt. Ivo saß da in großer Besorgnis, denn in Wahrheit hatte er große Schulden und wußte nicht, wie er seines Vaters Reden auffassen sollte. Und wie der Vater geendet hatte, begann die Mutter, schalt auf die heutigen Zeiten, in denen es keine treuen und sorgsamen Dienstboten mehr gäbe, und erzählte weitläufig von ihrer Leinenaussteuer, wieviel Dutzend sie von jeder Sache gehabt, und wie das alles auseinandergerissen sei, so daß sie nichts Vollständiges mehr vorfinde, und das Wenige, das noch in den Schränken liege, sei übel gewaschen. Dabei war, als seien die fünfzehn Jahre ihres Krankenlagers gar nicht gewesen, und sie verwechselte die Zeiten, denn indem sie von einigen Leuten sprach, dachte sie an deren Eltern, die in den Jahren, welche sie im Sinn hatte, so aussahen wie die jetzt. Dem Ivo wurde es unheimlich durch seine eigne Angst und durch das wirre Sprechen der Eltern, und er blickte hilfesuchend auf seine Schwester; die aber hatte ihren eignen Gedanken nachgehangen und seine Bitte überhört, weil sie im Ton nicht auffällig gewesen war, und da sie den Verfall der Eltern allmählich hatte vor sich gehen sehen, so waren ihr auch diese Reden nicht auffällig gewesen. So saß sie da im schwarzen und geschlossenen Kleid, die Hände im Schoße liegend und ins Leere blickend; sie bedachte aber, wie sie es erreichen könne, daß sie diesem Leben entfliehe, denn bis zur Unerträglichkeit hatte sich der Überdruß in ihr gesteigert.

Aber wie der junge Offizier sich derart ganz allein zwischen diesen drei Menschen fühlte und seine Sorge ihm mit Schwere auf das Herz fiel, stieg es ihm heiß in die Augen, und zwei Tränen rannen ihm über die Backen und in die Winkel des zuckenden Mundes. Hierdurch wurde die Schwester aufmerksam, und indem ihr nun seine früheren[154] Worte in klares Bewußtsein traten, fragte sie erschreckt, ob seine Schuldenlast vielleicht sehr hoch sei; er aber war so bekümmert, daß er nicht zu reden vermochte, und so nickte er nur mit dem Kopfe. Dann, während sich inzwischen unter den Eltern ein Streit entspann um ein silbernes Salzfaß, das die Mutter vermißte, klagte er mit abgerissenen Worten der Schwester, daß es ihm an Mut fehle, um seinem Leben ein Ende zu machen, denn das sei ja doch der einzige Ausweg. Als er das sagte, schrie sie laut auf und verhüllte ihr Gesicht; der Vater wendete sich langsam zu ihr und fragte sie nach der Ursache ihres Schreiens, und indem er an den Wortwechsel über das Salzfaß dachte und in seinen trüben Gedanken meinte, daß es sich bei diesem um etwas Wichtiges handle, das auch seine Tochter schwer betrübe, suchte er mit der alten Gewohnheit liebenswürdiger Gesinnung sie zu trösten, indem er sagte, daß dieses Salzfaß sich schon noch wiederfinden werde, und sie als ein Kind brauche sich nicht solche Sorgen zu machen wie die Erwachsenen. Bei diesen Reden wurde dem jungen Ivo der Zustand seiner Eltern endlich ganz klar, und er verspürte mit Erschrecken, daß er zu seinen eignen verworrenen Verhältnissen nun auch noch das Bedenken der Familienangelegenheiten auf sich nehmen müsse, und nur geringer Trost war es ihm, daß er jetzt die Möglichkeit in der Hand habe, seine Lage in die Richte zu bringen, denn es ahnte ihm wohl, wie arg alles verwickelt war. Indessen besprach er sich nun mit der Schwester, was zu tun sei, und beruhigten die beiden die Eltern und brachten die mit Schonung dahin, daß sie ungestört von ihnen blieben und sich mit Ruhe beraten konnten.

Die ganze Nacht brannte in dem Arbeitszimmer des alten Grafen eine schlechte Lampe ohne Glocke, die sie sich aus der Küche hatten heraufbringen lassen; bei ihrem Schein lasen sie Aufzeichnungen, Ausgabenberechnungen, Einnahmenverzeichnisse und allerhand Aufstellungen über die Vermögensverhältnisse, und als letztes fiel ihnen das Blatt Bolkos in die Hand und die Urkunden über die Unterhandlungen mit dem Wucherer. Es war den Ungeübten nicht möglich, ein klares Bild aus dem Wirrwarr zu gewinnen, in dem sich der alte Herr selbst ja schon seit langen Jahren nicht mehr zurechtgefunden hatte; aber eine recht deutliche Vorstellung von ihrer Lage gewannen[155] sie doch vornehmlich aus einem Schreiben, in welchem der frühere Vermögensverwalter um seine Entlassung bat, der eine andre Stellung angenommen hatte. Indessen drängte die Zeit, denn Ivos Hauptschuld war fällig, und er hatte seine Ehre verpfändet, und so ersparte die Notwendigkeit eines schnellen Entschlusses ihnen die Verzweiflung, die sie überfallen hätte, wenn sie sich länger hätten bedenken können, und es blieb kein weiterer Ausweg, als daß sich Ivo an den Wucherer seines Vaters wendete, da dieser die Verhältnisse am besten kannte und deshalb am leichtesten geneigt sein mußte zur Aushilfe. Was dann weiter geschehen sollte, insbesondere mit dem Vater, und wie Ivo die Ordnung und Verwaltung der Geschäfte in die Hand nehmen würde, das mußte man nachher bedenken.

Eine kurze Zeit war noch bis zur Abfahrt des Wagens für den Zug, den Ivo benutzen mußte. Er trat zu seiner Schwester, und sein Gesicht, das gestern noch leichtfertige und leere Züge aufgewiesen hatte, er schien gealtert und männlicher geworden; und indem er ihre Hand erfaßte, sprach er zu ihr in einem neuen und tiefen Ton, den sie bis dahin nicht von ihm gehört.

»Liebe Schwester, wir sind die letzten von einem alten Geschlecht, zu dem viele Menschen durch Jahrhunderte aufgesehen haben. Nun gehe ich einen schweren Weg, denn ich weiß nicht, ob ich bekommen werde, was ich suche; bekomme ich es aber nicht, so muß ich sterben, denn wenigstens liegt mir das ob, zu achten, daß unser Name nicht in Unehren erlischt. Du bleibst dann allein zurück, aber ich habe um dich keine Sorgen, denn du wirst schon eine Stelle für dich finden in der Welt; das sehe ich jetzt mit ruhigen Augen, denn seit mir offenkundig geworden ist, vor welcher Entscheidung und Ernsthaftigkeit ich stehe, habe ich plötzlich einen neuen Blick bekommen, Leben und Menschen zu betrachten, über die ich vorher gar nicht nachgedacht. Ich weiß, daß mein Bruder meinte, unseres verfehlten Lebens Ursache seien unsre Eltern, und ich selbst habe wohl dieser Meinung beigepflichtet in Stunden, wo das Gewissen mich mahnen wollte; aber dabei wußte ich doch immer im Herzen, daß ich nur eine schlechte Ausflucht meiner Angst suchte, und im Innern wußte ich mit großer Furcht, meines verfehlten Lebens Ursache sei ich selbst, denn ich gab mich hin an schlechte[156] Menschen und war gedankenlos und überlegte nicht meiner Schritte Folgen, und alles, was ich tat, verstrickte mich immer mehr in das Netz, dessen Maschen mich nun so eng umschnüren; und schon daraus, daß ich bisher immer mehr gefesselt wurde, würde ich annehmen, wie auf die Stimme eines Dämons hörend, daß mein Suchen vergeblich sein wird und meines Lebens Ende unabwendbar nahe ist. Nicht wenig aber hat die heimliche Gewissensangst selber zu meiner Verstrickung beigetragen, denn sie selbst machte blind, und gleicherweise das Streben, ihr zu entgehen, indem ich sie mir leugnete, machte blind. Nun aber, in dieser Nacht der Verzweiflung, habe ich ein neues Licht gesehen, und ich weiß nun, daß niemand eine Schuld hat, nicht meine Eltern und nicht ich, sondern wir sind getrieben durch eine Macht zu dem Ende, das sie gewollt hat, und ich glaube, daß ihr Wille gut und nützlich ist. Denn wenn die Macht den Willen hat, daß einer ins Licht kommen soll und sein Geschlecht in die Höhe führen, so ist der pflichtlos und heiter, sorgt nicht und ringt nicht, und ohne sein Zutun wächst er, wie der Baum wächst, hoch wird und breit, und seine Form ist ebenmäßig; aber wer ringt und wessen Gewissen kämpft und wer will und wessen Verstand ein Ziel sieht, der ist ein Mensch, der zerfällt, denn er hat sein Band nicht mehr; und was er auch tut, das gereicht ihm alles zum Unsegen; und zum schlimmsten Unsegen gereicht es ihm, wenn sein Gewissen ein eifriger Mahner ist. Den andern aber treibt es ruhig und in Kraft zur Höhe, durch kluge Handlungen und törichte, und durch gute Taten und schlechte. Und nun ist das sonderbarste, daß mir jetzt plötzlich die Fähigkeit geworden ist, durch meinen Blick die Menschen zu unterscheiden, ob sie von dieser Art sind oder von jener; denn zwar hat unsre gegenwärtige Weise des Lebens die Kraft, die Menschen stärker zu zersetzen und aufzulösen wie frühere Zeiten, und so entgehen auch die zum Glück Bestimmten nicht solchen Jahren, wo es scheint, als haben sie ihr Band nicht mehr, und ihre Gedanken klagen einander an, und ihre Handlungen scheinen keinen guten Ausgang zu haben; aber dennoch kann ich diese Guten deutlich unterscheiden von den Geringen; und indem ich die Augen schließe, sehe ich deutlich vor mir, wie meine Freunde und Bekannten sich teilen in die beiden Lager. Diese Worte wollte ich dir hinterlassen zu einer Erinnerung[157] an mich, und auch als einen Trost, wenn du über mein Schicksal bekümmert sein solltest, was ich zwar nicht denke, denn ich habe dir nichts erwiesen, aus dem du eine Liebe gegen mich hättest schöpfen können, und nun ist es ja für solches zu spät. Aber denke nur, daß ich ohne Bekümmernis und in Ruhe den Pfad schreite, der mir vorgeschrieben ist.«

Nach dieser Rede ging Ivo und machte denselben Weg, den sein Vater gemacht zwei Tage vorher; aber wie er vorausgesehen, hatte sein Suchen nach Geld keinen Erfolg. Und so kam die Kunde in die Heimat, daß der zweite Sohn seinem Leben selbst ein Ende gemacht habe, und mit dieser Kunde kam eine verwirrte Erzählung von einem Mädchen, die zu derselben Zeit in den Tod gegangen sei. Das war ein blutjunges Wesen, das kaum zur Jungfrau herangereift war, die wohnte mit ihrer Mutter in einem kleinen Stübchen, das ein schräges Dach hatte und ein einziges Mansardenfenster, aus dem man über die Dächer und in den rauchverhängten Himmel der Großstadt sah. Zwei weiß bezogene Betten, ein ärmlicher Tisch und zwei schlechte Stühle waren in dem Kämmerchen, und ein herrlicher großer Spiegel aus geschliffenem Glas in kunstvollem Glasrahmen aus Venedig, der das Licht tausendfach widerblitzte.

Die Kleine war eine Schauspielerin, die zu einem großen Theater gehörte, aber wegen ihrer Jugend, und weil sie sich auf der Bühne befangen und eckig zeigte, erhielt sie keine großen Rollen, sondern wurde immer nur zu ganz unbedeutenden Nebenfiguren verwendet, und meistens zu Dienstboten, wo sie dann einige unwichtige Worte zu sprechen hatte. Es lebte aber eine große Sehnsucht in ihr nach der Kunst, und es berauschte sie, wenn sie an die Lampen dachte und an den dunkeln Zuschauerraum und an eine Leidenschaft, die ihr das Herz überfließend machte, daß sie hätte die Arme öffnen mögen, und an den schönen Klang voller und tiefer Worte. Deshalb lernte sie eifrig für sich und studierte, und wenn sie einen Abend frei hatte, so zündete sie Lichte an, daß der herrliche Spiegel blitzte und funkelte, und trat im Kostüm ihrer Rolle vor den Spiegel und spielte, was sie am meisten liebte; vornehmlich aber war das die Ophelia. Da trug sie ein weißes Kleid, das durch einen goldenen Gürtel gehalten wurde, und ihre gelben[158] Locken flossen über ihren zarten Nacken. So stand sie vor dem blitzenden Spiegel und sprach:

»Da ist Rosmarin, das ist zur Erinnerung: ich bitte Euch, liebes Herz, gedenket meiner! Und das Vergißmeinnicht, das ist für Liebestreue. Da ist Fenchel für Euch und Aklei, da ist Raute für Euch, und hier ist welche für mich, wir können sie auch Reue, Gnadenkraut nennen – Ihr könnt Eure Raute mit einem Abzeichen tragen. Da ist Maßlieb – ich wollte Euch ein paar Veilchen geben, aber sie welkten alle, da mein Vater starb. Sie sagen, er nahm ein gutes Ende.«

Währenddem stand die alte Mutter in der Ecke, und Tränen des Glückes liefen über ihr blasses Gesicht, und sie freute sich der lieblichen und schön klingenden Stimme und der gelben Locken und zarten Gestalt. Und die Tochter umarmte sie, küßte sie und fragte: »Wann werde ich die Ophelia spielen dürfen? Meinst du, noch diese Spielzeit?« Und vor Sehnsucht und Glück weinte auch sie klare Tränen.

Und an dem Abend, da Ivo auf seiner einsamen Stube saß und an sie einen Brief schrieb voll schmerzlicher Worte des Abschiedes und der Sehnsucht nach Glück, und dann holte er seine Waffen hervor und machte sie bereit, da geschah es ihr, daß Hamlet gegeben wurde, und kurz vor dem Aufziehen des Vorhanges fiel die Darstellerin der Ophelia, die eine berühmte Künstlerin war, über einen vergessenen Bohrer, und verletzte sich den Fuß derart, daß sie nicht auftreten konnte; und wie der Inspizient und die Schauspieler in großer Verlegenheit standen, denn durch einen besonderen Zufall war die Darstellerin, der die Rolle sonst in der zweiten Besetzung anvertraut wurde, für den Abend krank gemeldet, da trat die Kleine mit klopfendem Herzen vor und bot sich an, und in der allgemeinen Kopflosigkeit nahm man ihr Anerbieten an, das in einem ruhigen Augenblick wohl lächelnd abgewiesen wäre. Und nun stellte sich die Kleine vor die Lampen und den dunkeln Zuschauerraum, im weißen Kleid mit dem goldenen Gürtel, wie sie so oft vor dem strahlenden Spiegel gestanden. Wie Laertes sie ermahnt: »Schlaf nicht, laß von dir hören«, antwortet sie in süßer Verwirrung ihr »Zweifelst du daran?« Und in den drei Worten klang ihre Angst und Hoffnung, ihre Liebe und Furcht so wunderbar an die Ohren der Hörenden, daß alle zusammenzuckten, als in Ahnung des angeknüpften Unheils dieser lieblichen[159] Gestalt; und in einem Nu war ein Faden gesponnen zwischen ihrem Munde und den Herzen der Zuschauer, den spürte sie immer stärker werden, wie sie dem Bruder ihre kindliche Ermahnung gibt und ihrem Vater antworten muß, bis zu dem »Ich will gehorchen, Herr«. Da war erst eine atemlose Stille, wie der Zwischenvorhang fiel, und ihr schien, als müßten alle ihre Herzschläge hören, und dann kam ein sonderbares Geräusch, das sie erst gar nicht verstand, wiewohl sie schon oft den Beifall für andre gehört hatte, und wie sie noch so zweifelnd harrte, da ging der Vorhang wieder in die Höhe und ihre Mitspieler führten sie mit dankbarer Verbeugung vor die Rampe. Dann sprachen andre mit ihr, und sie antwortete und fühlte, daß sie beglückwünscht wurde, und trat wieder auf, und das Stück hatte seinen Fortgang, und auch die Stelle sprach sie: »Da ist Rosmarin, das ist zur Erinnerung: ich bitte Euch, liebes Herz, gedenket meiner! Und da ist Vergißmeinnicht, das ist für Liebestreue.«

Schwankend und mit unsicheren Schritten ging sie nach Hause, wo ihre Mutter sie erwartete, die noch nichts ahnte; und wie sie in das helle Kämmerchen trat, wo das dürftige Abendbrot auf dem Tische stand und die Mutter fleißig an einem Kleid für sie nähte, da konnte sie sich zuerst gar nicht verständlich machen, aber die Mutter erriet schon und jubelte, und eine Lustigkeit kam ihr über das verhärmte Gesicht, und sie wurde beweglich und geschwätzig als eine alte Schauspielerin, die freilich nie zum Höheren gekommen war, und indes die Tochter munter aß, erzählte sie alte Bühnengeschichten und die Legenden, wie diese entdeckt war und jener seinen ersten Erfolg gehabt hatte, fragte dazwischen und beantwortete selbst ihre Fragen, und hatte endlich in allem ein so wunderliches Wesen, daß die Tochter zuletzt in ein lautes und herzliches Lachen ausbrechen mußte.

Erst spät gingen die beiden schlafen unter vielen Plänen und Hoffnungen, und früher wie sonst wachten sie wieder auf, wie die helle Wintersonne auf die gefrorenen Fensterscheiben schien. Lachend vor Kälte sprang sie aus dem Bett, heizte schnell den kleinen Eisenofen an und kroch wieder in das warme Lager, um noch in behaglichen Gesprächen abzuwarten, bis das Stübchen sich erwärmte und das dicke Eis des Fensters abtaute. Dann erhoben sich die beiden, kleideten sich an und bereiteten sich das Frühstück; wie sie sich setzen wollten, klingelte[160] der Briefträger; sie kam jubelnd zurück; da war ein Brief von Ivo, der war gewiß gestern im Theater gewesen und hatte gleich geschrieben.

Aber wie sie den Brief aufgerissen hatte, wurde sie totenblaß; hastig kleidete sie sich für die Straße an und eilte in Ivos Wohnung. Da standen schon Neugierige auf der Straße, und Schutzleute bewachten den Eingang des Zimmers, damit nicht Unberufene eindringen sollten, aber durch ihren Anblick wurden sie bestürzt und ließen sie durch. Da lag Ivo auf dem Fußboden, unentstellt, denn seine Kugel hatte gut getroffen, und nur die Tischdecke war ein wenig verschoben. Der Pistolenkasten stand auf dem Schreibtisch; sie nahm die andre Waffe heraus, ehe den Schutzleuten ihre Bewegung klar wurde, und indem sie gegen sich abdrückte, fiel sie neben ihrem Geliebten zur Erde.

Wie die Unglücksfälle über die gräfliche Familie hereinbrachen, bemühten sich bereitwillige Verwandte um Hilfe. Ein Vetter erschien, ein älterer und unverheirateter Mann, der als ein Sonderling galt, der ordnete, was zunächst notwendig war, denn die junge Gräfin Maria war zu unerfahren, und die alten Herrschaften schienen beide ihrer Sinne nicht mehr ganz mächtig zu sein. Deren Schicksal war nun bestimmt und unabänderlich, und so bemühte sich der Vetter vornehmlich, für die junge Dame etwas auszudenken.

In der ersten Zeit erschien die recht verschlossen und ohne Teilnahme für irgend etwas, bis an einem Abend der Vetter im Ärger aus sich herausging und sie schalt, daß sie wohl auch nur so sei wie alle, die etwas musizieren, etwas malen, englische Romane lesen und Konversation machen. Auf die Vorwürfe erwiderte sie, daß sie gar keine besonderen Talente gehabt habe und wohl gern die Hauswirtschaft geleitet hätte, aber das habe sie nicht gedurft; aber wenn es möglich sei, daß sie etwas nach ihrem Willen tun dürfe, so möchte sie wohl Krankenpflegerin werden. Hierüber wurde der Verwandte recht erstaunt und fragte sie, ob sie denn fromm sei; das verneinte sie und sagte, sie habe vieles gelesen, und wenn sie sich auch kein Urteil anmaßen wolle, so müsse sie doch sagen, daß sie nicht kirchengläubig sei; und wie der Verwandte weiter forschte, stellte sich heraus, daß sie gänzlich atheistisch gesinnt war, und wollte aber Menschen nützlich sein und eine Beschäftigung haben, die sie befriedigte.[161]

Da wurde der Verwandte gerührt und erzählte, daß er als junger Mann eine große Neigung zur Medizin gehabt, und weil das damals nicht als standesgemäß gegolten, ein solches Studium zu beginnen, so habe er sich von seiner Neigung abwenden lassen; dadurch aber habe er sein Leben eigentlich zugrunde gerichtet, denn indem er zu dem andern, das er nun wirklich getrieben, keine innere Neigung gehabt, sei er nie zu Befriedigung und rechter Arbeit gekommen. Deshalb, weil er selbst das durchgemacht habe, wolle er ihr helfen bei ihrem Vorhaben, und es freue ihn, daß sie ihrem jetzigen Leben entsagen wolle, denn das Leben der Vornehmen werde im Grunde doch nur durch die Furcht vor den Leuten bestimmt, die trotzdem nicht so schlimme Dinge verhüten könne, wie sie eben mit Vater und Brüdern durchgemacht. Nach solchen Worten schloß er sie in seine Arme und küßte sie auf die Stirn; und dann ermahnte er sie nochmals, sie solle bei ihrem Mute verharren, denn der komme aus einem guten Gewissen; und wenn Ängstliche ihr vorstellen würden, daß es ihre natürliche Pflicht sei, daß sie ihre Eltern pflege, so solle sie nicht darauf hören, sondern solle ruhig tun, was sie sich vorgenommen.


Weiland hatte sich bald nach dem letzten Zusammentreffen mit Hans und Karl verheiratet. Um wenigstens äußerlich zu zeigen, welche geringe Bedeutung sie der bürgerlichen Eheform beilegten, waren das Brautpaar mit den beiden Zeugen, welche Freunde von Weiland waren, in Alltagskleidung zum Standesbeamten gegangen; da hatten sie in einem staubigen und leeren Vorzimmer gewartet und waren dann zu dem Beamten eingetreten, der hinter einem gelbpolierten Tisch saß und einen Federhalter im Mund hielt und in der Rechten ein Lineal hatte. Der prüfte die Papiere der Zeugen, nahm die Aushangsbescheinigung zu seinen Akten, füllte das Formular in seinem dicken Buche aus, las dann seine Niederschrift laut vor und ließ die Anwesenden unterschreiben, indem er mit ärgerlichen Worten mahnte, daß sie keine Kleckse machen und nichts durchstreichen, auch ihre Vornamen nicht abkürzen sollten. Dann unterschrieb er selbst, und indem das Paar und die Zeugen noch in Erwartung weiterer Geschehnisse standen, winkte er ungeduldig mit der Hand, daß sie entlassen seien und gehen müßten.[162] Im Vorzimmer wünschten die beiden Zeugen mit verlegenen Mienen Glück, und das Brautpaar lud sie der Verabredung gemäß zum Mittagessen ein. So gingen die vier mit leerem und verwirrtem Gemüt in eine Gastwirtschaft, da bestellte der junge Ehemann nach der Karte das Essen, und die üble Stimmung besserte sich ganz allmählich, indem alle zuerst die Speisen lobten und dann die Unfreundlichkeit des Standesbeamten tadelten; nur die junge Frau blieb fast stumm, und man sah, daß sie sich bezwang, um nicht zu stören. Nicht lange verharrte die Gesellschaft an dem unbehaglichen Ort, sondern nachdem sie gegessen hatten, standen sie auf und gingen, und auf der Straße verabschiedeten sich die Freunde mit Danksagungen und nochmaligem Glückwunsch, und dann faßten die Eheleute sich unter den Arm und gingen ihrem Heim zu, das sie sich schon vorher eingerichtet hatten.

Sie gingen durch die Haustür und über den Hof und sahen die neugierigen Gesichter der Mitbewohner an den Fenstern und erstiegen die schmalen Treppen und gingen an den verschlossenen und mit Namenschildern versehenen Türen der Wohnungen vorbei in die Höhe, und immer niedergedrückter wurden sie, wie sie so immer höher stiegen auf der schmutzigen und ungastlichen Treppe. Nur wie sie vor ihrer Tür ankamen, an der bereits das neue Namenschild befestigt war, hatten sie ein glücklicheres Gefühl, aber wie sie dann aufgeschlossen hatten und in dem engen und dunkeln Korridor standen, fiel sie ihm um den Hals, schluchzte und weinte heiße Tränen aus dem tiefsten Herzen herauf, und die Erinnerung an die schmutzige Treppe, die sich eintönig an den gleichmäßigen Türen vorbei in die Höhe wand, bewirkte ihnen beiden eine heftige Vorstellung von dem einförmigen, freudeleeren und gedrückten Leben, das heute armen Leuten bevorsteht, wenn sie ihre Jugend verlassen und die Sorgen der Ehe auf sich nehmen. Und wiewohl sie ja jetzt noch jung waren und selbst die Sorgen noch nicht erlebt hatten und ein fröhliches Stübchen hatten mit neuen Möbeln und frischen Gardinen, und die Sonne schien hier oben in ihre Fenster, so standen doch vor ihrem Sinn die vielen beladenen, mißmutigen, vergrämten und besorgten Menschen, die sie in ihrem Leben schon gesehen, und sie wußten, daß nicht lange mehr ihre Heiterkeit und roten Backen andauern würden.[163]

Aber wie den armen Leuten gegeben ist, daß sie die Gegenwart zu genießen vermögen, so kamen auch die beiden bald über ihre Verstimmung hinweg, freuten sich ihres Stübchens und ihrer Küche, des neuen Sofas und des Salontisches, auf dem eine Visitenkartenschale stand, und des Vertiko; und wiewohl Sofa, Tisch und Schränkchen, neben dem Teppich und den Stühlen und allem anderen, ja neben den bunten Bildern von Marx und Lassalle an den Wänden, genau gleich waren tausend andern Sofas und Tischen, Schränkchen und Stühlen, die in tausend andern Wohnungen junger Leute standen, so schien ihnen ihr Stübchen doch etwas Besonderes und Schönes zu sein, das kein anderer Mensch hatte; und wenn sie zwar der festen Meinung lebten, daß die Zukunftsgesellschaft auch das häusliche Leben viel vernünftiger ordnen werde, wie es jetzt ist, so waren sie doch jetzt glücklich und zufrieden, wie sie ehrfurchtsvoll vor ihrem Salontisch saßen, auf dem die Visitenkartenschale aus bronziertem Zinkguß in der Sonne blitzte.

So führten sie ihre erste Zeit in harmloser Freude und genossen beide das Glück der jungen Ehe und die Vorstellung von einer besonderen Freiheit in ihr, die sie durch ihre Anschauungen und Gesinnungen hatten, daß nämlich die Frau nicht unterdrückt und ausgebeutet werde, und daß sie so in Wahrheit in freier Liebe lebten.

Derart hatten sie ausgemacht, daß sie des Morgens abwechselnd früher aufstehen wollten, denn beide mußten um sechs Uhr auf ihrer Arbeitsstelle sein, und nun sollte den einen Tag der Mann und den andern Tag die Frau zuerst das Bett verlassen, um für beide den Morgenkaffee herzurichten. Nach dieser Verabredung begann den ersten Tag die junge Frau, und mit sonderbarem Behagen erwachte der Mann von einem leisen Huschen auf den Dielen, da sah er durch die halboffene Tür, wie sie den neuen Petroleumapparat instand setzte und Wasser in das Blechgeschirr mit prasselndem Geräusch aus der Wasserleitung ließ, und während das heiß wurde, maß sie den Kaffee ab in die Mühle, nahm die zwischen die Knie und begann zu mahlen. Dann wischte sie den sauberen Küchentisch noch einmal ab und rückte die Stühle davor, holte den Frühstücksbeutel herein und setzte den Topf mit der Milch zurecht. Und wiewohl das alles nur ganz einfache Dinge waren, die nun von jetzt an jeden Tag geschehen sollten, so kam ihm[164] doch ein sonderbares Glücksgefühl ins Herz, indem er zufrieden in seinem Bette lag.

Am andern Tag war die Reihe an ihm; da stand er vorsichtig auf, um seine Frau nicht zu wecken, die indessen mit verbissenem Lachen sich nur so stellte, als schlafe sie noch; mit ungeschickten Händen brachte er die Kochmaschine in Ordnung, wie er es gestern gesehen; aber schon als er das Wasser in die Kasserolle ließ, war er irr, und wie er die Bohnen mahlen sollte, wußte er nicht, wie viel er nehmen durfte. Da mußte er zu ihr gehen und sie fragen, sie aber antwortete, daß er ganz ungeschickt sei und nie die Handgriffe lernen werde, und daß die Männer überhaupt solche Sachen nicht verstünden, und dann sprang sie geschwind aus dem Bett, nahm alles in ihre flinken Hände und besorgte mit Schnelligkeit das Frühstück, indessen der Mann gehorsam zuschaute.

In solcher Weise geschah es, daß nach einiger Zeit die rasche Frau doch alle frauenhafte Arbeit in ihre Hände nahm, indem sie freilich ihren Mann häufig ausschalt; dieser aber, der sich schnell zu großer Geduld entwickelt hatte, nahm solches Schelten nicht übel, da es ja nicht böse gemeint war und eigentlich eine Zärtlichkeit ausdrücken sollte.

Wenn am Abend die Arbeit beendet war und das Abendbrot verzehrt und das Geschirr aufgeräumt, so begann für die beiden der schönste Teil des Tages, denn der Mann nahm vom Büchergestell an der Wand ein aufklärendes Buch, etwa Bebels »Frau« oder Zimmermanns »Wunder der Urwelt«, las vor und erklärte; die Frau aber, die fleißig stopfte und flickte, hörte eifrig zu, fragte und widersprach, und recht oft kam zwischen beiden eine lehrreiche Diskussion zustande. In den meisten Fällen drehte sich der Streit darum, was die Arbeiter unter den gegenwärtigen Verhältnissen tun könnten, indem der Mann meinte, daß sie sich aufklären müßten und Bildung erwerben, die lebendige Frau aber schalt, daß die Männer träge und mutlos seien und zu Taten vorgehen müßten, und wenn sie selbst ein Mann wäre, so würde sie gewiß suchen, die Arbeiterklasse durch ein Attentat von einem besonders schlimmen Bedränger zu befreien, damit die andern Furcht kriegten. Hierauf erwiderte der Mann, daß sie durch solche Handlungen ja Ausnahmegesetze rechtfertigen würde und den ruhigen Fortgang der Entwicklung stören, von dem man alles erwarten müsse.[165]

Indem die beiden dergestalt für sich lebten, geschah es ganz natürlich, daß sie weniger in Versammlungen gingen und der Mann auch geringeren Anteil nahm an der geheimen Tätigkeit seiner Freunde in Verbreitung verbotener Schriften oder im Sammeln von Geld; er sagte ihnen aber, daß er seinen Mann stehen werde, wenn es nötig sei; und wenn etwa die zunehmende Macht der Arbeiter die Regierung zu weiteren Unterdrückungsmaßregeln treibe und diese dann in einer bewaffneten Erhebung antworteten, um die soziale Republik zu begründen, das etwa in zwei oder drei Jahren geschehen könne, so wolle er selbstverständlich sogleich mit in die Reihen der Kämpfenden treten.

Inzwischen zeigte es sich zu ihrer großen Freude, daß die Frau ein Kind erwartete, und nun machten sie neue Pläne und Hoffnungen, wie sie das nicht wollten taufen lassen und als ein freies Wesen auferziehen ohne den Glauben an alle die Erfindungen, welche die herrschenden Klassen benutzten, um das Volk niederzuhalten, und dazwischen erzählte die Frau von einem schönen Kinderwagen, auf den sie jetzt schon sparte, denn er sollte Gummiräder haben, und auch von Jäckchen und Mützchen sprach sie; diese Gedanken schienen zwar dem Mann töricht, allein er mochte doch nicht recht etwas gegen sie vorbringen, denn sie konnte viel schneller sprechen wie er und auch viel mehr. Er selber trug sich indessen mit noch andern Absichten; denn es war damals zuerst die Sitte aufgekommen, daß die Spekulanten ihre unbenutzten Grundstücke, die zu Bauplätzen bestimmt waren, in kleinen Abteilungen an Arbeiter verpachteten, die allerhand Gemüse und Blumen auf dem sandigen Boden zogen und sich eine Laube bauten und am Feierabend mit Weib und Kind sich hier in ländlicher Arbeit erfreuten. Einige Arbeitsgenossen von Weiland hatten sich zusammengetan zu einer solchen Ansiedelung, die sie »Klein-Kamerun« nannten; diesen dachte er sich anzuschließen, wenn er seine Frau von der Vortrefflichkeit des Planes überzeugte, und die Frau sollte das Abendbrot in der Laube zurichten, und da würden sie dann im Freien essen, und das Kind sollte auch im Wagen anwesend sein und die frische Luft mit genießen, und nach dem Essen wollte er dann immer graben, pflanzen und jäten. Derart lebten die beiden als zielbewußte und ganz umstürzlerisch gesinnte Arbeiter doch in allerhand Wünschen, wie sie wohl kleine Bürger haben[166] mögen, und es zeigte sich auch an ihnen, daß die Gedanken der Menschen immer viel weiter greifen, wie ihr eigentliches Streben ist, das für einen Arbeiter in Wahrheit ja doch immer nur auf ein größeres Behagen gehen kann und auf die Art von Freiheit und Sittlichkeit, welche er versteht, nämlich des kleinen Bürgers, weil er den gerade über sich sieht.

So nahte sich die Zeit, wo die Frau entbunden werden sollte. Als eine fleißige und frische Person ging sie noch bis in die letzten Tage auf ihre Arbeit, und weil sie jung und gesund war, so geschah alles ohne besondere Unfälle und in richtiger Weise. Und nun war das Leben und das Glück, das sich jedesmal wiederholt, wo eine Familie wenigstens nicht mit allzu großem Leichtsinn gegründet ist, wenn das Erstgeborene kommt; zwar hatten sie nur ein Mädchen, aber doch war der Vater so stolz, daß er meinte, er sei fast allen seinen Arbeitsgenossen überlegen, und die Mutter dachte, ein so kräftiges, gesundes und kluges Kind sei doch eine sehr große Ausnahme; den Namen gaben sie ihm nach den drei von ihnen am meisten verehrten Männern, nämlich Marx, Lassalle und Bebel, als Karoline Ferdinande Auguste. Es stellte sich naturgemäß heraus, daß die Frau zunächst ihre Arbeit lassen mußte, und so hatten die Ehegatten jetzt wieder viele Gelegenheit, über die bessere Organisation solcher Dinge in der künftigen Gesellschaft zu reden, wo eine gelernte und geübte Pflegerin eine Menge Kinder versorgen kann, indes die Mütter ihrer Arbeit nachgehen, die wegen ihrer geringen Kenntnis und Übung, auch wegen des bekannten Nachteils jeden Kleinbetriebes, doch gewiß ungeeignetere Pflegerinnen wären wie jene, und meinte die Frau, sie würde sich sehr gern von der Gesellschaft an solche Stelle als Pflegerin setzen lassen, denn dabei hätte sie ihr Kind doch immer bei sich, das sie auch nicht bevorzugen wolle. Inzwischen erwies sich das Kind als kräftig wachsend und froher Gemütsart und bekam einen sehr schönen Wagen mit Gummirädern, um den vorher die Frau eines Amtsrichters vergeblich gefeilscht hatte, er war der aber zu teuer gewesen, und auch alle seine Wäsche war sehr schön.

Hans und Karl hatten die Freundschaft mit den beiden aufrecht gehalten, und obschon sie zwar kein rechtes Verständnis für kleine Kinder[167] hatten, so freuten sie sich doch des Glückes der Eltern mit. Zuweilen kamen sie am Sonntagnachmittag in die kleine Wohnung mit den ängstlich geschonten Möbeln, brachten allerhand Zugebröte in Papier gewickelt, wie Wurst und Käse, und aßen dann mit der Familie unter fröhlichen Gesprächen zu Abend; und erzeugte die Annäherung der Klassen in dem Schuhmacher und den Studenten auf beiden Seiten ein besonderes Hochgefühl und eine gewollte Freude, als kämen sie alle in eine neue Freiheit, indem es ihnen freilich oft mit Schwere auffiel, daß es eigentlich wenig war, was sie einander sagen konnten, und daß sie fast sich gegenüberstanden wie Menschen verschiedener Sprachen, die durch einige allgemeinverständliche Laute und Zeichen einander ihre Freundschaft versichern.

Auch Jordan war oft zu Besuch bei den jungen Leuten, jener ruhige Mann, der damals in der Versammlung ihnen die Spuren der Ketten an seinen Knöcheln gezeigt hatte. Einmal, als er mit den beiden Studenten zusammen von dem Ehepaar wegging, war er in sehr trüber Stimmung und in jener Verfassung, die zu Klagen und Erzählungen treibt. So sprach er von seiner Heimat, wo er bei einem alten Meister gelernt, der ihn lieb gewonnen hatte, weil er Sonntags nicht zum Tanzen ging und zu Biere, sondern zu Hause blieb und Bücher las; der hatte ihm gesagt, wenn er seine Wanderschaft beendet habe, so solle er wiederkommen, dann sei er selbst so weit, daß er nicht mehr arbeiten könne, dann solle er seine Werkstätte übernehmen und seine Kundschaft bekommen. Nun hatte er aber gesehen, wie überall das Handwerk durch die Fabriken verdrängt wurde, und auch die Schuhmacher konnten sich nicht lange mehr halten, und wenn jetzt ein junger Mensch sich in einem kleinen Ort als Meister niederließ, so mochte er ja wohl noch ein paar Jahre lang sein Auskommen haben, aber dann ging das Handwerk doch zugrunde, und da war es besser, gleich in jungen Jahren in die fabrikmäßige Produktion zu gehen, solange man sich noch gewöhnen konnte, und vielleicht bekam er eine bessere Stellung. Weshalb Jordan das erzählte, wurde nicht klar; aber der Grund war, daß er Heimweh hatte und sich aus dem großen Fabriksaal mit den schnurrenden Maschinen und der hastigen Arbeit wegsehnte in die kleine Schusterwerkstätte mit dem Schemel, dem[168] Knieriemen und der Glaskugel vor dem Licht. Weiterhin erzählte er, daß er versprochen gewesen sei, kurz vor seiner Verhaftung, und das Mädchen habe er auch von Jugend auf gekannt, denn was man so in Berlin sehe von Mädchen, da wisse man bei keiner, was der schon alles passiert sei, und das sei ja wohl nicht richtig, wenn man als junger Kerl sein Herz an ein Mädchen hängt, denn man könne ja tausend haben für eine, aber weil er sie so lange gekannt und auch ihre Eltern, so sei er doch der Meinung gewesen, er habe etwas Gutes. Wie er aber wieder aus dem Gefängnis herausgekommen sei, da habe er sie mit einem andern verlobt gefunden, und sie habe ihm nur gesagt, die Jugend gehe schnell vorbei, und nachher kommen die Sorgen, darum sei man dumm, wenn man seine Jugend mit Warten hinbringen wolle. Damals sei er an allem verzweifelt, und wenn er nicht aus der Schrift von Engels gegen Dühring gelernt hätte, daß die Handlungen der Menschen durch die Verhältnisse bestimmt werden, so hätte er vielleicht dem Mädchen etwas angetan; nun aber sei das lange her, und er sehne sich nach Weib und Kind, und besonders wenn er bei Weiland gewesen sei, der zwar sehr leichtfertig gehandelt habe, daß er sich außer der Küche noch Stube und Schlafzimmer gemietet; wenn er sich jedoch die Mädchen ansehe, so habe er zu keiner Lust, daß er sie heiraten möchte, denn mit den Jahren werde man immer bedenklicher, wiewohl ja alles Überlegen doch nicht vor einem falschen Schritte bewahren könne, denn Heiraten sei immer ein Glücksspiel.

Aus diesen Reden ging hervor, daß der treuherzige Mann wohl schon seine Augen auf ein bestimmtes Mädchen gerichtet hatte, aber er scheute sich vor dem letzten Schritt aus Furcht, wie denn ja auch Personen seines Schlages, wenn sie nicht ein ganz besonderes Glück haben, übel anzulaufen pflegen in der Ehe.

Als die Weihnachtszeit heranrückte, beschlossen Hans und Karl, nicht nach Hause zu reisen, sondern sie wollten das Fest bei ihren Freunden verleben, die ihrer Meinung nach ihrem Herzen jetzt am nächsten standen. So besorgten sie in Fröhlichkeit die kleinen Geschenke, die sie für einander und für die andern Freunde ausgesucht hatten, pilgerten hinaus zu der entfernten Straße und erstiegen die vielen Treppen der hohen Wohnung.[169]

Hier zeigte es sich, daß die Frau den Baum herrichtete, und daß der Mann mit den Gästen in der Küche warten mußte, und war außer den beiden Studenten noch Jordan anwesend und jenes Mädchen, mit dem Karl sein Liebeserlebnis gehabt; über dieses unerwartete Wiedersehen schien Karl verlegener wie sie, denn sie reichte ihm unbefangen die Hand und schüttelte sie kräftig; Jordan lachte, wie er Karls linkische Gebärde sah, und die andern merkten wohl, daß zwischen ihr und Jordan Einvernehmen war. Da wurde die Tür geöffnet und alle traten ins Zimmer, wo auf dem deckengeschützten Salontisch ein niedlicher Weihnachtsbaum brannte, und die Frau stand zur Seite und hatte das Kind auf den Armen, das zwar noch ziemlich teilnahmslos war, und hielt in einem Händchen seine Kinderklapper und sah mit etwas hängendem Kopf auf den Boden, ungeachtet aller Aufmunterung der Mutter, es solle den Weihnachtsbaum betrachten. Die andern legten verstohlen die mitgebrachten Geschenke an die passenden Plätze und zeigten dann ihre Bewunderung der Anordnung durch Ausrufe und Lobpreisungen, welche die Frau mit bescheidenem Stolze annahm. Der kleine Weihnachtsbaum mit seinen Kerzen zeigte sich noch einmal im Spiegel, neben dem die Bilder von Marx und Lassalle friedlich herabsahen. Aus vielen Wohnungen des viereckigen Hofes glänzten durch das Fenster andre Bäume, und das Bewußtsein, daß hier überall sich Menschen freuten, machte noch froher und glücklicher. Da stimmte Weiland mit Heller Stimme die Arbeitermarseillaise an:


Wohlan, wer Recht und Wahrheit achtet,

Zu unsrer Fahne steht zuhauf.

Wenn auch die Lüg' uns noch umnachtet,

Bald steigt der Morgen hell herauf!

Ein schwerer Kampf ist's, den wir wagen,

Zahllos ist unsrer Feinde Schar,

Doch ob wie Flammen die Gefahr

Mög' über uns zusammenschlagen,

Nicht zählen wir den Feind, nicht die Gefahren all!

Der kühnen Bahn nur folgen wir,

Die uns geführt Lassall'.[170]


Den Feind, den wir am tiefsten hassen,

Der uns umlagert schwarz und dicht,

Das ist der Unverstand der Massen,

Den nur des Geistes Schwert durchbricht.

Ist erst dies Bollwerk überstiegen,

Wer will uns dann noch widerstehn?

Dann werden bald auf allen Höhn

Der wahren Freiheit Banner fliegen!


Das freie Wahlrecht ist das Zeichen,

In dem wir siegen; nun wohlan!

Nicht predigen wir Haß den Reichen,

Nur gleiches Recht für jedermann.

Die Lieb' soll uns zusammenkitten,

Wir strecken aus die Bruderhand,

Aus geist'ger Schmach das Vaterland,

Das Volk vom Elend zu erretten.


Alle fielen ein, und die mächtigen und jubelnden Töne des Liedes erfüllten den engen Raum und klangen hinaus über den viereckigen Hof mit den gleichförmigen Lichterreihen der Fenster; und bald öffneten sich hier und da Fenster, und neue Stimmen aus den andern Wohnungen fielen ein, und am Ende sangen alle die armen Leute, die rings um diesen Hof in dürftigen und engen Stuben wohnten, und ihr Lied stieg in die Höhe aus der Stätte ihrer täglichen Hoffnungslosigkeit und Sorge zu dem klaren und sternenfunkelnden Himmel; und unser lieber Vater im Himmel hat es gewiß gern gehört, wenn es auch nicht fromm war und die großen Kinder nicht an ihn glauben wollten, und hat sich seines lieben deutschen Volkes gefreut, daß auch solche Leute, denen so wenig Gutes geschieht, doch so rechtlich und brav denken. Wie der Gesang beendet, waren alle tief ergriffen; das waren einfache Arbeiter, die täglich in ihre Fabrik gehen und Schuhe machen für den gemeinen Bedarf, die ganzen langen Stunden des Tages hindurch; und Studenten, die eben den ersten Schritt hinaus taten in die Freiheit des Geistes; die armen Leute, die an die knechtische Arbeit für[171] die Notdurft gefesselt sind, stehen gewiß auf der tiefsten Staffel der Leiter, und diejenigen, die zu geistiger Freiheit zu dringen vermögen, auch wenn sie äußerlich nur bescheidene Stellen erringen, stehen doch gewiß auf der höchsten Staffel; aber wiewohl die größte Entfernung zwischen ihnen war, die unter Menschen möglich ist, so fühlten sie sich doch als wahre Brüder, die sich lieb hatten und sich nicht einer über den andern erhoben dachten; und wurde so wieder einmal lebendige Tat, was unsre Vorfahren meinten, wenn sie sagten, daß vor Gott alle gleich sind, welches Wort heute für die meisten eine sinnlose Rede ist. In dieser neuen und wunderlichen Stimmung erhielten die armen Geschenke, die sie einander machten, und ihre Gefühle, die sie hatten, einen ganz andern und ernsteren Sinn wie vorher, denn es war ihnen wie frommen Leuten in der Kirche, und nachdem erst ein Schweigen auf den Gesang erfolgt war, wagten sie eine kurze Weile nicht laut zu sprechen. Hier begann nun Jordan, ergriff die Hand des Mädchens und sagte, daß er sich diesen Abend ausgesucht, um ihnen als seinen Freunden mitzuteilen, daß sie beide sich verlobt hätten. »Zwar weiß ich,« fuhr er fort, und das Mädchen erglühte rot, »was vorher mit ihr geschehen ist; aber ich habe bedacht, daß ich selbst sogar mehrere Liebschaften früher gehabt habe, und deshalb wäre es ungerecht von mir, sie zu tadeln, vielmehr wollen wir doch alle, daß auch die Liebe frei und ohne Zwang sein soll; denn freilich wäre jede solche Verbindung unsittlich, die nicht frei wäre, und wahrscheinlich werden in der künftigen Gesellschaft, wo die Not und die Gewalt fehlen, die heute alles Böse erzeugen, die Menschen in Bälde so veredelt sein, daß sie gleich zuerst und ohne einen Irrtum erkennen, für welchen Gatten ein jeder bestimmt ist, dem sie dann angehören ohne Wanken, in Freiheit, aber in Treue.« Nach diesen Worten schwieg er; die andern aber freuten sich und wünschten ihnen beiden Glück, und als erster gab Karl der Braut die Hand mit frohem Gesicht.

Hierauf mußte zuerst die Kleine zu Bett gebracht werden, und die Braut, die aus Verschämtheit nicht in der Gesellschaft der Männer ausharren mochte, ging in die Küche, den Tisch für alle zu decken und das Mitgebrachte auszupacken, das jeder für das gemeinsame Abendbrot hier niedergelegt hatte. Und während sie das glänzende Tischtuch[172] ausbreitete und in die Mitte die Lampe stellte, und das wenige Geschirr verteilte, das nicht ausreichte für so viel Gäste, besprachen die vier Männer unter dem brennenden Baum ernste Dinge des Parteilebens, denn bei einer Haussuchung war eine Abrechnung gefunden, aus der auf die Einzelheiten der Organisation geschlossen werden konnte, und gleichzeitig mutmaßte man, daß die Polizei einen Angeber gefunden hatte, der vieles wußte, weil sie in der letzten Zeit ganz sonderbares Glück gehabt bei ihren Verhaftungen. Das erfüllte alle mit banger Sorge, und es wurde viel geraten und gedacht, wo wohl der Verräter zu suchen sei, und Weiland sagte, er habe jetzt immer ein schlechtes Gewissen, daß er in solchen Zeiten der Gefahr sich vom Leben der Partei so fern halte, aber die andern hielten ihm vor, daß es doch besser sei, wenn die Unverheirateten sich den Gefahren aussetzen, weil diese durch Gefängnis und Ausweisung ja nicht in ihrer Lebenshaltung bedroht würden wie ein Familienvater, denn ein solcher könne vielleicht ganz zugrunde gehen durch eine Verfolgung.

Inzwischen hatte die Frau das Kind besorgt und war dann in die Küche gegangen, der andern zu helfen, und nun rief sie mit heiterem Gesicht die Männer in den engen und reinlichen Raum, wo durch die Küchenbank und den Holzstuhl und umgekehrte Kisten allerhand Sitzgelegenheiten geschaffen waren um den sauberen Tisch. Aber als sie eben sich unter allerhand Scherzen setzen wollten, ertönte plötzlich die Klingel im Flur; die Frau rief noch fröhlich aus, das seien ihre Eltern, die sie überraschen wollten, trotzdem sie erst für den Feiertag einen Besuch verabredet hätten, und sprang glücklich zur Tür; doch wie sie ungestüm öffnete und eben die Draußenstehenden umarmen wollte, prallte sie erstaunt zurück, denn ein feiner Herr im Zylinder, ein andrer Herr im gewöhnlichen Anzug, ein Polizeioffizier und zwei Schutzleute traten ein und gingen in die Stube, wo noch der Weihnachtsbaum brannte; die andern kamen ihnen aus der Küche entgegen, und so war der enge Raum plötzlich ganz mit Menschen angefüllt. Da gab sich der Herr mit dem Zylinder als der Staatsanwalt zu erkennen, der andre Herr war sein Sekretär. Er teilte Weiland mit, daß er genötigt sei, bei ihm eine Haussuchung vorzunehmen, und drückte sein Bedauern aus, daß er gerade am heutigen Abend kommen müsse;[173] Weiland lachte über diese letzte Rede und deutete ihm an, er solle tun, was sein Amt verlange. Nun wurden zuerst die Anwesenden nach Namen, Wohnung und Grund ihres Hierseins befragt und ihre Antworten von dem Sekretär aufgeschrieben, dann begann das Nachsuchen, währenddessen die Schutzleute die Freunde genau beobachten mußten, wiewohl sie eine Art freundlichere Stimmung gegen die Überfallenen zu haben schienen, die freilich durch den Ernst der Amtspflicht verborgen wurde.

Mit umständlicher Gründlichkeit wurde erst das Schränkchen untersucht nach etwaigen Schriftstücken; zornbebend mußte die arme Frau zusehen, wie ihre geringe Wäsche von den Männern hin und her gewendet wurde, und mit Mühe hielt Jordan sie zurück, daß sie nicht schalt. Endlich fand der Polizeioffizier ein dünnes Paket Briefe auf, das er dem Staatsanwalt reichte, aber plötzlich stürzte sich die Frau auf ihn zu, entriß ihm das Paket und hielt es unter ihrer Schürze. Ein Lärmen und eine heftige Bewegung entstand, sie rief, das seien ihre Briefe, die sie ihrem Manne in der Verlobungszeit geschrieben; der Staatsanwalt suchte die Peinlichkeit durch Beschwichtigungen zu heben, die Freunde redeten ihr zu, daß sie nicht durch unnützen Widerstand noch etwas Schlimmes anrichten möge; da gab sie die Briefe zurück, das feurige Rot der Scham im Gesicht, warf die Schürze vor die Augen und setzte sich weinend in die Sofaecke, wo die Freundin sie mit unterdrückter Stimme zu trösten suchte. Unterdessen fuhren die andern mit ihren Nachforschungen fort in der wunderlichsten Weise, indem sie selbst die Bilder von der Wand nahmen und hinter ihnen versteckte Schriftstücke suchten, den Teppich aufhoben und sich an den Dielen bemühten. Mit einem Eifer und einer Ernsthaftigkeit verfuhren sie, als seien die wichtigsten Dinge hier aufzufinden, durch welche das Bestehen des Staates in Frage gestellt werde, und das glaubten sie auch wohl wirklich. Weiland hatte der Gesellschaft den Rücken gekehrt und sah schweigend durch die Fensterscheiben, weil er vermutete, daß er einen Ausweisungsbefehl bekommen werde, wenn auch die Haussuchung fruchtlos verlaufen mußte, und er wußte nicht, was dann mit seiner jungen Frau und dem Kinde werden sollte, bis er an anderm Ort wieder Arbeit gefunden hatte; denn durch die Natur[174] seiner Arbeit war er auf die wenigen großen Städte angewiesen, wo es Fabriken gab, in denen er arbeiten konnte; die standen aber meistens unter dem Belagerungszustand. Und wenn er wirklich anderswo eine Stelle für sich ausfindig machte, wo er vor neuer Ausweisung sicher war, so dauerte es doch erst eine Weile, bis er wieder zu seinem gegenwärtigen Lohn kam, denn als ein tüchtiger und erprobter Arbeiter wurde er besonders gut bezahlt; und dann machte der Umzug noch große Kosten, die er gar nicht aufzubringen vermochte, weil sie beide ihre Ersparnisse für die Einrichtung ausgegeben hatten. In Gedanken sagte er halblaut zu sich: »Das ist doch unrecht, das ist doch unrecht.« Hans, der neben ihm stand, drückte ihm still in einem überquellenden Gefühl die Hand. Auf dem Tisch unter dem Weihnachtsbaum lag der erste Band des »Kapital« von Marx, als ein Geschenk von Hans. Der Sekretär schlug das Buch auf, wies dem Staatsanwalt eine Seite mit vielen Formeln, die sehr gelehrt und schwer verständlich schien, und zuckte dabei als ein hochmütiger Subalterner die Schulter, indem er dabei doch die schuldige Demut gegen den Vorgesetzten zur Schau trug. Hierauf wurde sehr genau das kleine Bücherbrett durchsucht und die Bände einzeln herausgenommen und nach Schriftlichem durchblättert, und weil sich in der kleinen Sammlung mehrere Bücher und Hefte fanden, die verboten waren, so wurden die dem einen Schutzmann zum Mitnehmen übergeben. So gedrückt und unfrei allen zu Mute war, so mußte sich doch Hans fast des Lachens erwehren bei dem verängstigten Gesicht, das dieser machte, wie er die gefährlichen Drucksachen in seine braven, dicken Hände nahm. Wie die Nachforschungen im Schlafzimmer fortgesetzt wurden, erwachte die Kleine und begann jämmerlich zu schreien; die Mutter trocknete sich das Gesicht ab, ging zu dem Wagen und nahm das Kind heraus; aber die vielen Menschen und die ungewohnte Stunde mochten es wohl so erschreckt haben, daß es sich gar nicht beruhigen wollte. Der Schutzmann, dem die Bücher anvertraut waren, holte eine Uhr aus der Tasche und suchte die Kleine zufrieden zu stellen, indem er die vor ihr bewegte, und zuletzt wurde sie auch auf dieses Spielzeug abgelenkt, versuchte nach ihr zu greifen, fing endlich an zu lachen, und am Ende packte sie den Mann mit beiden Händen in seinen dichten, blonden Vollbart, und erst wie er mit ganz[175] tiefer Stimme zu lachen begann, zog sie erstaunt die Händchen wieder zu sich. Dadurch aber war die Mutter so aufgeräumt geworden, daß sie gleichfalls lachte, zu erzählen begann und zu dem Kinde sprach. Plötzlich zwar hielt sie erschreckt inne, denn es kam ihr alles wieder zum Bewußtsein; aber es war doch, als sei eine leichtere Stimmung über alle gekommen. Wie als eine Entschuldigung sagte der Mann: »Wir müssen doch unsre Pflicht tun.«

Quelle:
Paul Ernst: Der schmale Weg zum Glück. München 1937, S. 93-176.
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