[108] »Ruhe, oder ich will euch!« schrie Theodor, sowie er die Türe der Schulstube öffnete und in den Staub sah, der wie gewöhnlich über den Stühlen und Bänken der Knabenseite gleich einem unentwirrbaren Wolkenknäuel lagerte. »Ruhe, ihr Schlingel! Sind wir hier in einer Judenschule oder auf dem Rindermarkt? – Na, wie denn?«
Meisterlich ahmte Theodor die immer etwas belegte, mit Heiserkeit kämpfende Stimme des Lehrers nach, die in der Aufregung sich nicht senkte, sondern so hoch hob, daß die letzte Frage: »Wie denn?« fast wie das Zirpen einer Grille erklang.
Die Buben verbreiterten ihre Gesichter vor Lachen. Dann ging die Hetze über Stühle und zwischen Bänken hindurch aufs neue an. Federn zerbrachen, Tintengeschirre liefen über und Papierrollen flogen durch die neblige Luft.
Theodor warf hurtig seine Mappe auf die nächste Bank und spähte in den Staub, wo Jakob wohl fechte. Er wollte durchaus zur Gegenpartei halten.
Jakob war um einen halben Fingernagel kleiner als Theodor, nicht so stramm gebaut, dafür schlanker und geschmeidiger. Er hatte blondes Haar wie Theodor und besaß ebenso blaue Augen. Aber Theodor ließ sein Haar in Locken schießen, während Jakob es kurz schor. In den Augen Theodors lag etwas vom reinen, braven Morgenhimmel; aber Jakobs Bläue blendete[109] wie der Mittaghimmel. Auch gab es da schon Wölklein neben grellen Lichtern. Theodor besaß das bessere Gedächtnis, Jakob das raschere und hellere Erfassen. Theodor war mutig bis zur Frechheit, Jakob mutig bis zur auserlesenen List. Theodor war bei allen beliebt, er hatte keinen Feind unter uns; aber Jakob wurde von den meisten gefürchtet, von allen respektiert, doch nur von mir herzlich, ja begeistert geliebt. Von den Tagen unserer ersten Schuhe an hatten wir miteinander verkehrt und hingen so fest zusammen, als es unsere durchaus verschiedenen Gemüter nur zuließen. Mit Theodor hatte sich wohl schon jeder von uns einmal überworfen, aber auch wieder am gleichen Tag ausgesöhnt. Wer indessen mit Jakob, den wir wegen seiner Herrschereigenschaften nur den Rex nannten, uneins geworden war, hatte es lange zu büßen, wenn überhaupt das frühere Einverständnis je wieder zurückkehrte.
Der Kampf zwischen Jakob und Theodor hatte etwas Großartiges. Die übrigen Schlachtreihen zogen sich dann respektvoll zurück und ließen den Häuptlingen die Ehre der Walstatt. Noch nie war das Gefecht entscheidend ausgefallen, teils weil der Lehrer immer zu früh eintrat, teils weil die freche, aber ungekünstelte Kraft Theodors sich an dem biegsamen und zähen Jakob nie recht auslassen konnte. Im Freien hatten sie noch nie den Kampf gewagt, so oft wir sie auch aneinander gereizt hatten. Jeder mißtraute sich ein wenig und[110] fürchtete, den Ruhm der Unbesiegbarkeit, den er jetzt in der Unentschiedenheit für sich behielt, für immer zu verlieren.
»Hat niemand meinen Jungen gesehen?« rief Theodor herausfordernd, während er die Arme spannte und einen Fuß zurückbog.
»Hier, großer Hase!« gab Jakob zurück und sprang mit einem Satze über die vordersten zwei Bänke zum Gegner heraus. »Da, reib' es gut ein!« sagte er und gab ihm einen blitzschnellen Box in die Hüfte. Dann suchte er Theodor um den Rücken zu nehmen.
Der aber versetzte dem Kronenwirt einen solchen Knuff mit dem Ellbogen, daß Rex bis ans Lehrerpult taumelte. Der Walomer folgte ihm auf dem Fuße, packte ihn und riß den Feind zur Bank zurück. Dabei spreizte er die Beine, um festen Stand zu behalten. Gleich schlug Jakob den Haken ums rechte Bein und bog, den Arm um Theodors Hals geschlungen, den Gegner tief nieder. Der Walomer schwankte und fiel mit Jakob zu Boden, doch kam er auf seinen Gegner zu liegen und versuchte jetzt auf alle Weise, ihn auf den Rücken zu wälzen. Aber Jakob wand sich unter ihm wie eine Schlange und drehte sich immer wieder aus den Armen Theodors heraus.
Die hinteren Knaben standen auf den Bänken, die vorderen saßen auf ihren Pültchen. Wie im Amphitheater sah man dem Ringen zu und feuerte die Kämpen an. »Jetzt ums rechte Bein, Thedi – Nicht[111] so! – Dreh ihm den Arm um! – Bravo, Rex, noch mehr! – Auf die andere Seite, – jetzt ums Knie! Das war falsch! – Nicht das, nicht das!« – Man sprang auf, beugte sich über und machte die Bewegung vor, die man seinem Helden riet.
So weit war das Kampfspiel schon oft gegangen. Hier aber wurde es für mich langweilig. Ich wußte, daß keiner gegen den anderen unterläge. Der eine war zu listig und zu flink, der andere zu wild und zu stark. Ich ging daher auf meinen Platz, spitzte mir den Bleistift und überlas noch einmal das Gedicht, das wir aufsagen sollten. Es war die kleine Ballade von Uhland: »Der Knecht hat erstochen den edlen Herrn«.
Während sich auf der Bubenseite das heißeste Kampfinteresse zeigte, boten die Mädchenbänke ein ganz anderes Bild. Da war nichts als Ordnung, Sauberkeit und Sitte. Bescheidentlich saßen die Zöpfe in den Stühlen. Ihre Bücher lagen bereits auf Blatt und Seite richtig aufgeschlagen. Die Kopfkapuzen und Halstücher hatten sie abgezogen und sorglich in die Banklade geschoben. Jetzt tuschelten sie zu dreien oder vieren miteinander, indem sie so leise sprachen und die Nasen so nahe zusammenhielten, auch hier und da so geheimnisvolle Augen über die Achseln hinweg auf die Buben hinüberwarfen, als hätten sie ein Geheimnis zu verhandeln, wie sich seit Weltentstehung ein größeres nie über Weiberlippen getraute. Es betraf indessen nur die Schülerin Ella, die wegen der Hochzeit ihrer Schwester[112] für heute dispensiert und – was die Hauptsache war – in einem roten Kleide, man denke, aber auch ganz roten Kleide, dazu mit Ärmelspitzen und ausgeschnittenem Halse – in der Kirche erschienen war.
»Es ist zu grell,« sagte Theresia Lammer abweisend.
»Die Zigeuner tragen eine solche Farbe,« fuhr eine andere giftig hinein.
»Wenn es wenigstens mattrot gewesen wäre – so etwa!« lehrte Lene, die Tochter der Dorfschneiderin, und stülpte ihren Ärmel um, worauf ein ganz verschossenes Futter hervorguckte.
»Oder dunkelrot,« sagte Hedwig, das Gemeindeschreibertöchterlein. »Ihr wißt, wie das Kleid, das ich zu Ostern bekommen werde.«
Dieses Kleid auf Ostern war schon so oft genannt und geschildert worden, daß jede Schülerin genau wußte, wie es aussehen würde.
»Dunkelrot mit braunen Streifen, das ist vornehm, sagt meine Mutter,« schloß Hedwig zufrieden.
»Das ist freilich vornehm,« gaben die anderen zu, teils weil sie das Kleid noch nicht gesehen hatten, teils weil sie sogar zweifelten, ob Hedwig ein so vornehmes Röcklein je bekommen würde. Trägt sie es aber wirklich zu Ostern so, gut, dann würden sie bald herausgefunden haben, wie abgeschmackt dunkelrot mit braunen Streifen sei.
Als die beiden Kämpen mit einem dumpfen Plumps[113] zu Boden fielen, blickten die Mädchen nun doch halb ängstlich, halb neugierig hinüber. Sie teilten sich sogleich in zwei Parteien. Die größere stand zu Theodor, obwohl nicht seine Schwester Berta, sondern Jakobs Schwester unter ihnen beliebt war. Aber Theodor verhielt sich gegen die Mädchen immer so umgänglich und bäuerlich artig, während Jakob sie gar nicht beachtete. Das ärgerte sie mehr, als wenn er sie von Herzen verspottet hätte.
»Dein Bruder hat natürlich wieder angefangen,« schmollte Agnes, meines Bedünkens die weitaus Lieblichste unter den Schülerinnen und Jakobs ältere Schwester.
»Jakob ist um kein Haar besser,« antwortete ein Mädchen, das so stattlich und so schön wie der Bruder gewachsen war und ihm in jeder Linie des Gesichtes glich. Und doch fehlte ihm alle Lieblichkeit Theodors, weil ein strenger, unweiblicher Zug darüber lag.
»Sie müßten mir beide nachsitzen, solche Flegel!« setzte sie hart hinzu.
»Sieh nur, Berta, Jakob klemmt ihm den Arm,« redete die kleine Hedwig ein, »das sollte nicht sein!«
»Aber Theodor hat ihn am Ohr gerissen,« klagte Agnes, »– schon wieder! – wenn nur der Lehrer bald käme!«
In diesem Augenblick rannte wirklich der Küferbub Franz zur Türe herein und schrie: »Obacht, – er kommt!«[114]
Sogleich rutschten die Knaben in ihre Stühle hinunter. Franz war Türhüter. Jakob und Theodor zahlten seine Wächterdienste mit Äpfeln, wenn er das Amt willig versah, mit Ohrfeigen, wenn er unbotmäßig diente.
»Der Lehrer, der Lehrer,« rief Agnes voll Kummer, »steh auf, Jakob!« Doch die beiden Fechter überhörten die Warnung. Eben hatte Theodor den Arm unter die Brust des Feindes geschoben, um ihn so auf den Rücken zu legen, wie man mit dem Bratschäufelchen den Kuchen wendet, wenn er auf der unteren Seite braun geschmort ist, und Jakob hatte listig nur auf diese untergeschobene Hand gewartet, um sich seitlings aufs Knie zu heben: da stand auch schon der Lehrer auf der Schwelle, lang, hager, das dürftige Haar vom Wirbel aus gleichmäßig nach vorn und hinten gekämmt, im schwarzen abgeschabten Rock und in grauen, an den Knien glänzenden Beinkleidern.
»Ruhe, ihr Schlingel! – Sind wir hier in einer Judenschule oder auf dem Rindermarkt? – Na, wie denn?«
Die beiden Ringer lösten sich mit Mühe aus dem Knäuel und erhoben sich mit roten Gesichtern, entzündeten Augen, das Haar schwitzend naß. Jakob, der bei jeder Anstrengung die Zähne heftig aufeinander biß, hatte blutigen Schaum auf den Lippen.
»Wie das stäubt, – Agnes, mach' das Fenster auf!«[115] Lehrer Philipp schnappte nach Luft. »Eine Luft zum Ersticken!«
Nach diesen Worten zog der Lehrer die im heißen Zimmerdunst angelaufene Brille von der Nase und sah sich mit seinen schwächlichen und kurzsichtigen Augen die Übeltäter genauer an.
»Natürlich, natürlich, unser herrlicher Herr Oberdorf und der nicht minder herrliche Herr Unterdorf!« spottete Lehrer Philipp. »Unsere Müsterchen! – immer die nämlichen! Sollten und könnten der Schule ein gutes Beispiel geben und tun lieber das Gegenteil! Wartet – ich will euch!«
Der Lehrer setzte sich die abgeriebene Brille wieder auf und nahm den Stecken vom Pulte. Als wollte er sie geschmeidiger machen, fuhr er mit seinen glatten weißen Handflächen an der Haselstange hinunter, ähnlich wie ein berühmter Geiger seinen Bogen bestreicht, um ihn besser über die Violine tanzen zu lassen.
»Wer hat angefangen?« fragte er und rückte mit der Linken die Brille bequemer.
Die Übeltäter schwiegen einhellig.
»Der Theodor,« rief eine wunderliebliche Mädchenstimme herüber. Es war Agnes.
»Der Jakob,« schrie die kleine Gemeindeschreiberin für Berta, die zu stolz dazu war.
»Ja, der Jakob,« bekräftigte nun auch die dünne, von einer Mädchenzunge nicht zu unterscheidende Stimme Josephs, des getreuen Bundesgenossen Theodors.[116]
»Wem soll ich glauben?« sagte der Lehrer unschlüssig und den Stock senkend, »Heireli, hast du gesehen, wer angefangen hat?«
»Nein,« sagte ich kurz.
»Eine ganze Antwort!«
»Nein, Herr Lehrer, ich habe es nicht gesehen!« ergänzte ich widerwillig.
»Der Jakob hat doch angefangen,« riefen jetzt viele von beiden Stuhlseiten.
Jetzt erhob Theodor sein Haupt, – bisher hatten beide mit tiefgebogenen Hälsen in den Boden geschaut, – er schüttelte die Locken aus dem Gesicht, auf die eben von der Morgensonne ein sehr niedriger Strahl fiel. Er öffnete die übergroßen, blauen Augen, man glaubte, es gingen zwei mächtige Fenster gegen den blauen Himmel auf, und indem der Walomer den Lehrer mutig anblickte, sagte er sehr laut: »Nein, ich habe angefangen!«
Dem guten Philipp Korn wollte vor Verblüffung das Stecklein entfallen. »Du – du – du habest – du habest – du selber habest –« stotterte er.
»Glauben Sie ihm nicht, Herr Lehrer!« sagte nun Jakob wie befehlend und trat mit finsterem Stolze vor Theodor hin. »Ich habe ihn zuerst gestoßen, hier, in die Hüfte!«
Darauf streckte er sogleich seine blasse, feine Hand, an der man die adelige Abstammung der Mutter, einer[117] geborenen von Sallingen, erkannte, dem Lehrer zur Züchtigung flach entgegen.
»Er lügt!« schrie Theodor zornig, und wenig fehlte, so wäre er wieder auf Jakob losgestürzt.
»Genug, genug, meine Löwen!« machte nun der Lehrer, schon von ganzem Herzen versöhnt. »Ich werde jedem vier Tatzen geben! Ordnung muß sein!«
Achtmal sauste der Haselstecken nieder. Der Lehrer strafte diesmal wahrhaft nicht in der Aufregung; er hätte den Prügel lieber in den Winkel geworfen, aber Ordnung mußte sein. Er war im Innersten stolz auf diese beiden tüchtigen Zöglinge seiner Erziehungsmethode. Und so lächelte er denn immer, bei jedem Schlage, den er über die harrenden Hände seiner Lieblinge fallen ließ, als wäre es Honig, was er da austeilte.
Ohne mit den Wimpern zu zucken, hielten die zwei aus. Theodor besaß eine harte, abgestumpfte Haut. Die Arme lässig schlenkernd, lachte er im Zurückziehen den Kameraden gutmütig ins Gesicht, als sagte er: ›Gäbe es nichts Schlimmeres!‹ Aber Jakobs Hände empfanden die Streiche schmerzlicher. Doch auch er lachte im Zurückgehen, freilich war es das Lachen des Stolzes, das besagte: ›Es tut zwar sehr weh, dieses barbarische Schlagen; aber ihr sollt nicht sehen, daß ich leide, das täte noch viel mehr weh.‹ So schritt er lachend in die Bank neben mich und schleuderte einen zornigen Blick hinüber, wo Agnes den Kopf in die Hände stützte und weinte.[118]
»Strafe mußte sein,« erklärte der Lehrer nochmals, den heißen Stecken in den Winkel werfend, »denn ihr waret fehlbar. Aber euer ehrliches Bekenntnis hat mich gefreut! Wie nennt man eine solche Handlungsweise, Joseph Ilsig?«
»Man nennt sie –«
»Georg Abender! – Noch neulich hab' –«
Ich streckte den Finger.
»Heireli! Wie nennt man das?«
»Ritterlich!«
»Bitte, einen ganzen Satz!«
O wie gerne wiederholte ich, daß man Jakobs und Theodors Handlungsweise eine ritterliche nennen mußte. Meine kleinere Schwester, die so bleich in den Bänken der Kleinen saß, schaute stolz auf mich, das war mir wert! Aber Agnes trocknete sich die Augen und versuchte, ob sie noch lächeln könne, und siehe, sie konnte es noch prächtig, das war mir noch werter!
»Gut,« versetzte der Lehrer mit einem halbverliebten Blick auf seine beiden Helden, »offen seine Sünde bekennen, das ist männlich! Aber seine Sünde verheimlichen, sie gleichsam in der Tasche verbergen, wie ein Dieb das Gestohlene, und dabei vor allen Menschen ehrlich sein wollen, das ist – he, Walter!«
Bei diesen Worten glaubte ich nicht anders, als der Lehrer wisse, was ich verbrochen habe. Plötzlich fühlte ich wieder mein Silberstück in der Tasche, es drohte, mich zu Boden zu ziehen, so schwer wurde es auf einmal.[119] Deutlich spürte ich, wie mein Antlitz die Farbe wechselte vor Schrecken.
»Nun also, Heireli, das ist?« drang der Lehrer in mich.
»Das ist unritterlich,« sagte ich mit einer Stimme ohne Blut und Leben.
»Mehr noch, es ist geradezu –?«
»Schlecht!« ergänzte ich. Es war mir genau so zumute, als müßte ich meinem Henker helfen mir die Schlinge um den Hals zu ziehen.
»Richtig! setze dich!« gebot Philipp Korn.
Gut, daß ich sitzen durfte, es war die höchste Zeit. Alles drehte sich mit mir im Kreise herum. Es dauerte lange, bis ich mir sagen konnte: ›Ach, das ist nicht auf dich gemünzt, zufällig trifft es sich so eigentümlich, niemand weiß um dein Verbrechen.‹
Aber als ich mich vor dem Lehrer und den Schülern sicher wußte, da fing ich erst recht an, unsicher vor mir selber zu werden. Ich konnte nicht vergessen, wie Theodor gerufen hatte: ›Ich habe angefangen!‹ und wie darauf Jakob vor ihn hin getreten war und die Hand hergehalten hatte: ›Da, ich schlug zuerst, – er lügt!‹ Welche Kerls waren doch die zwei! Vor der ganzen Schule und vor dem geschwungenen Stecken sich schuldig zu geben! Ich beneidete sie. Wie klein war ihr Fehler gegen den meinigen gehalten! Gerne würde ich mit ihnen tauschen. Welche Strafe würde ich verdienen, wenn meine Freunde schon vier strenge Hiebe[120] bekamen! Eine ganze Tracht Prügel! Denn was waren etliche Knüffe und Püffe gegen meinen silbernen Diebstahl!
Als Theodor mit Jakob in der Pause wieder lachte und spielte, als ob gar nichts vorgefallen wäre, da betrübte mich das sehr. Die durften natürlich jetzt wieder fröhlich sein, alles war vorbei! Aber ich? – Konnte ich je wieder lustig sein? – Das kann man erst, wenn man gebeichtet und gebüßt hat, wie meine Freunde. Ich aber fürchtete beides wie den Tod.
In der Spielpause sprang und lärmte ich mit. Doch geschah es nur, um den Lärm und die Unruhe meines Gewissens zu überschreien.
Es begann die zweite Stunde. Joseph, unser bester Deklamator, mußte die »Rache« von Uhland aufsagen. Wie schön und ergreifend tat er das! Doch mit neuem Entsetzen bemerkte ich, daß dieser Knecht, der seinem Herrn den Panzer geraubt hatte, mich mehr anging, als irgendwer vermuten konnte. War denn alles gegen mich verschworen? Mußte denn heute immer von Raub und Diebstahl gesprochen werden!
Joseph hatte eben mit mächtiger Lebhaftigkeit gesagt:
»Und als er sprengen will über die Brück',
Da stutzet das Roß und bäumt sich zurück.«
»Heireli, schließe!« befahl mir der Lehrer.
»Mit Arm, mit Fuß er rudert und ringt,
Der schwere Panzer ihn niederzwingt.«
[121]
»Richtig,« endigte Lehrer Philipp, »seht ihr, Kinder: Unrecht Gut tut nicht gut!«
Nun stand es fest: gleich nach der Schule wollte ich den Schwestern voraus heimspringen und das Geld wieder in den Papierkorb legen. Sicher, ich tue es!
Nach diesem Vorsatz fühlte ich mich etwas erleichtert. Doch rutschte ich noch immer unruhig auf mei nem Bänkchen hin und her und konnte den Schluß der Stunde kaum erwarten. Und doch erzählte der Lehrer mit Begeisterung den Sieg der Eidgenossen über Österreich bei Sempach, und ich hatte ein warmes Blut für solche Geschichten.
»Die geharnischten Männer standen da wie eine Mauer, und Eidgenosse auf Eidgenosse fiel vor ihr,« erzählte Herr Philipp mit dunkler Stimme.
›Ach was‹, dachte ich, ›ich bin ja auch übel bestellt!‹
»Da stürzt sich Winkelried in die Speere und begräbt eine Reihe in seiner Brust. Die blutigen Schäfte umfangend, sinkt er nieder und öffnet so dem Freund die Gasse.«
›Genau an das alte Plätzchen werde ich den Taler legen, halb unter den gelben Umschlag, meinetwegen gehe er dann verloren!‹ sann ich weiter.
»Und durch die Gasse hauen sich die Eidgenossen in den Feind und richten ein großes Blutgericht über die stolzen Grafen und Ritter an.«
›Wenn ich damit fertig bin, ist mir erst recht wieder[122] wohl,‹ erwog ich. ›Dann aber soll es eine wilde Bergfahrt mit den Kameraden geben!‹ Leise rückte ich zu Jakob hinüber und schrieb auf den Umschlag seines Heftes mit Bleistift: »Kommst du heute mit zum Tannensee?«
»Nein!« schrieb Jakob zurück.
»Warum nicht?« fragte ich unter seiner kurzen Antwort.
»Weil ich meinen Kaninchenstall fertig bauen will.«
»Das kannst du später tun.«
»Wer kommt mit?«
»Theodor!«
»Ich komme!«
»Um halb zwei Uhr beim Arresthäuschen!« notierte ich noch. Vom Turme schlug es eben zwölfe.
»So hatte Leopold Schlacht und Leben verloren,« endigte der Lehrer und winkte zum Schulgebet.
›Leopold?‹ machte ich leise bei mir, ›steht er nicht auch auf dem verdammten Fünffränkler in meiner Tasche? Der freche Kerl!‹ Deutlich erkannte ich jetzt, daß nicht ich, sondern dieser fürstliche Mann da mit dem schmalen, langen, bärtigen Gesicht der eigentliche Schurke sei. Dieser Glaube tat mir außerordentlich wohl. Jetzt wollte ich erst recht nichts mehr mit diesem Silberbatzen zu schaffen haben.
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