3

[123] Zu Hause warf ich rasch meine Bücher ins Schlafzimmer, das in einer stillen, kleinen Ecke des oberen Stockes lag. Dann lief ich zum Eßtübchen hinüber, betrat es aber nicht vom Flur aus, sondern ging durch die große Stube, um erst mein Vorhaben auszuführen. Sonderbar, je näher ich dem Papierkorb kam, um so unschlüssiger wurde ich. Auf einmal, da ich mich nun von ihm trennen sollte, wurde mir das Geld wieder lieber. Hatte ich bisher sein häßliches Gesicht gesehen, so zeigte es mir nun die andere Seite, jenes reiche, glänzende, verheißungsvolle Antlitz, das tausend hübsche Sachen zu verschaffen versprach, besonders auch eine große Überlegenheit über meine Kameraden. Um dieses letztere war es mir am meisten zu tun, denn ich war sehr, sehr eitel und ehrgeizig.

Zögernd trat ich an den Korb und hätte den Taler wohl doch, wenn auch widerwillig hineingeworfen, als ich halb mit Schrecken, halb mit Freude bemerkte, daß der Behälter geleert war. Richtig, das geschah ja an jedem Samstag. Nun konnte ich doch unmöglich das Silber da hineinlegen. Das hätte jetzt keinen Sinn mehr. Was tue ich also?

Doch da war keine Zeit zur Erwägung. Paula, meine ältere Schwester, sprang zur Türe herein und rief: »So komm doch zu Tische! Die Suppe wird ja kalt!«

Mutter und Elschen saßen schon an ihren Plätzen.[124]

Schnell grüßte ich die Mutter und forschte in ihrem Gesichte, ob sie wohl etwas von meiner bösen Heimlichkeit wüßte.

Aber die Frau mit dem dunklen Haar und den nur ganz in der Tiefe leuchtenden Augen saß so ruhig oben an der kleinen Tafel wie immer. Man konnte also einen Fünffränkler stehlen, darum ging doch alles im alten, behaglichen Geleise!Wie unnütz hatte ich mich geängstigt.

Ich durfte rechts von der Mutter sitzen, links saß Paula, die braune, und etwas tiefer Elschen, die dunkelbraune Schwester. Beides waren ziemlich stille, sanfte, kleine Mädchen von neun und elf Jahren. Sie waren so brav wie Mädchen nur sein können. Der Lehrer rühmte ihre Fortschritte und noch mehr ihr züchtiges Betragen. Der Mutter machten sie keinen anderen Verdruß, als daß sie beide etwas kränkelten und ihr daher nur noch teurer waren. Besonders Elschen hatte einen bedenklichen Winter durchgemacht und kaum zur Hälfte die Schule besuchen können.

Sowie ich mich niedergesetzt hatte, warf ich mich hungrig über die Suppe.

»Ißt man so bei Christenleuten?« fragte die Mutter ruhig und sah mich ernst an.

Beschämt erhob ich mich, während meine Schwestern feinfühlig in den Teller blickten, um mir nicht weh zu tun. Dann begann ich stockend:


»Komm, Herr Jesus, sei unser Gast,

Segne, was du bescheret hast! Amen.«
[125]

Eilig schlug ich das Kreuz und setzte mich wieder.

»Sei so gut und mache das Kreuz noch einmal!«

Ich errötete noch tiefer und bekreuzte nun vorsichtig Stirne, Mund und Brust, wie es Sitte ist.

Danach ward es stille am Tische. Man hörte nur das Hantieren mit Messer und Gabel, bei den Schwestern sehr leise, bei der Mutter regelmäßig und mit jenem Ernst, mit dem sie das Gewöhnlichste tat; bei mir aber laut, klappernd und ungestüm, wobei die Unruhe wegen des Geldes mitwirkte.

Später erzählte die Mutter, indem die Magd eben Kartoffeln auftrug, wie gut sich diese Erdfrucht heuer hielte. Nicht eine sei bisher angefault. Auch der Most habe eine seltene Kraft, es sei doch ein gutes Jahr gewesen. »Heireli,« wandte sie sich dann zu mir, »du könntest diesen Abend der Barbara helfen, einen Korb voll Erdäpfel zu den Küfersleuten bringen. Schon gestern dachte ich daran.«

›Sie hat den Fünffränkler noch nicht vermißt,‹ dachte ich, ›sonst käme es ihr nicht in den Sinn, Geschenke zu machen.‹

Laut sagte ich nur: »Diesen Abend?«

»Ja, nach dem Nachtessen; es braucht's niemand zu sehen.«

Gegen Ende der Mahlzeit fragte sie mich wie üblich, was in der Schule vorgekommen sei. Ich erzählte den Kampf zwischen Jakob und Theodor. Es machte mir Lust, die Wut der beiden recht saftig zu malen.[126] Je besser es mir gelang, ihre Schlägerei zu erschweren, desto leichter schien mir die eigene Schuld. »Sie haben sich,« eiferte ich, »an den Ohren und Haaren gerissen, Jakob hat geblutet und dem Theodor in den Arm gebissen. Es war nicht mehr schön!«

Immer trauriger schaute mich die Mutter während dieser Schilderung an. »Warum erzählst du das?« fragte sie schließlich.

»Ich meine nur – weil – weil Ihr gefragt habt –; sie sind übrigens gestraft worden.«

»Aber – aber – aber,« sagte Elschen, das immer stotterte, wenn es zum Reden gedrängt wurde, »aber der Theodor hat dem – dem Lehrer gesagt: Ich habe angefangen! – Ja, – das hat den Mädchen gefallen.«

Sie lehnte sich nach dieser Bemerkung wieder in den Stuhl zurück und sah schrecklich bleich aus.

»Und dann sagte Jakob: ›Nein, Herr Lehrer, ich habe angefangen!‹« fügte Paula zaudernd hinzu und blickte darauf Elschen an. »Nicht wahr – das hast du noch vergessen?«

Elschen nickte bloß.

»Und du, Großer, hast du denn das nicht gehört?« fragte die Mutter mich ernst.

»Ja schon! – Das war ritterlich.«

»Aufrichtig, willst du sagen!«

»Ja, aufrichtig!«

»Aber hat es dir denn nicht gefallen, daß du es ausgelassen hast?«[127]

Ich wußte nichts mehr zu sagen. Meine Augen röteten sich vor Hitze.

»Also wenn die Buben etwas Wüstes tun, erzählst du es deiner Mutter; aber das Schöne verschweigst du!«

»Laßt Ihr mich nur ausreden, Mutter, ich hätte vielleicht –«

»Aufrichtig sein, Heireli, aufrichtig gegen mich!« warnte die Mutter mit einer fast feierlichen Stimme.

Ich senkte die Augen. ›Was meint sie wohl?‹ dachte ich ganz erschüttert von diesem eigentümlichen mütterlichen Tone. ›Weiß sie am Ende doch?‹ Mir wurde wieder unbehaglich und unsicher zumute. Ich tastete mit der Hand über die Hosen und fühlte das Geldstück noch in der Tasche. Dann blickte ich wieder auf und bemerkte, daß die Augen meiner Mutter mit einem unnennbaren Ausdruck auf mir ruhten. ›Sie liest mich wie ein Buch!‹ dachte ich. Tiefer beugte ich mich nun über den Teller, aber aller Appetit war mir vergangen, obwohl es Äpfel, und zwar meine Lieblingsäpfel, die rundum roten Weinbächler waren, die Barbara zum Nachtisch auf den Tisch trug.

Kurz vor dem Aufstehen fragte die Mutter wie zufällig: »Hat keines von euch etwas gefunden?« Dann schaute sie ruhig von einem Gesicht zum andern hinüber.

›Jetzt gilt's!‹ dachte ich.

Meine Schwestern schüttelten den Kopf. Ich aber[128] nahm alle meine Unverfrorenheit zusammen, schaute die Mutter möglichst unbefangen an und sagte mit erkünstelter Lässigkeit: »Gefunden? Ich finde nie etwas, ich kann nur verlieren!« Ich lachte laut dazu. Heimlich staunte ich über den guten Ausweg, den ich da aus dem Stegreif erlistet hatte.

»Ihr wißt, Mutter,« fuhr ich fort, »da hab' ich noch letzte Woche den Kapselrevolver verloren.«

Die Mutter lehnte sich in den Lehnstuhl zurück, schloß die Augen ein bißchen und sagte: »So etwas kann man wieder kaufen; aber,« hier hob sie den Finger, »wenn du mir etwas verlierst, was man nicht mehr kaufen kann?«

»Was habt Ihr denn verloren, Mutter?« schrien nun aus einem Munde die Schwesterchen. »Was, das man nicht mehr kaufen kann?«

»Ich fürchte, so etwas!« erwiderte die Gefragte wehmütig.

»Gibt es denn so etwas?« mischte ich mich ein. Ich verstand die Worte der Mutter nicht. Aber ich hatte eine Ahnung, daß es sich um etwas handle, was mit dem Fünffränkler zusammenhänge. Nicht um den Fünffränkler selber, sondern um etwas viel Größeres.

»Wenn ich zum Beispiel dich verlöre, so hätte ich etwas verloren, was ich mit keinem Gelde wieder kaufen könnte.« Das sprach die Mutter so einfach, so ruhig und darum so ergreifend, daß ich im innersten Wesen erbebte.[129]

»Mich wirst du nie verlieren,« rief ich, dem Weinen nahe, ohne zu denken, daß ich im Begriffe war, der Mutter schon jetzt ein Stück von mir zu nehmen.

»Wir wollen beide acht geben!« ermahnte sie. »Doch was ist mit Elschen?« fragte sie rasch mit einem Blick auf den noch halbvollen Teller der Kleinen.

»Ich kann nicht fertig essen,« sagte Elschen, »es ist mir schwindelig.« Elschen hatte sich wacker bemüht, die Speisen hinunter zu bringen, ich hatte es wohl gesehen. Aber es gelang nicht.

»Leg' dich ein wenig aufs Sofa!« sagte die Mutter.

Leise schlich ich unterdessen in mein Zimmer und schnallte mir die Schlittschuhe an. Als ich die Treppe wieder hinunter stieg, rief mir die Mutter von oben her nach: »Um sechs Uhr wirst du zurück sein!«

»Sicher!«

Sie kam einige Stufen herunter und fragte sanft: »Brauchst du kein Geld? Die andern werden wohl zum Vesperbrot etwas kaufen.« Hierbei griff sie in die Tasche.

»Nein, ich will kein Geld, ich brauche keines,« schrie ich unmäßig aufgeregt und stürzte zur Türe hinaus. Draußen überliefen mir die Augen vor Scham und Reue. Meinem Gefühl nach mußten sie ganz feurig sein. Während ich den Schlitten aus dem Holzschopf zog und damit die Hauptgasse hinunter eilte, strich ich bald da, bald dort Schnee vom Hag, und legte ihn auf meine brennenden Lider. Ebenso suchte[130] ich meine innere Aufregung durch gute Vorsätze zu beruhigen.

›Ich werde den Fünffränkler niemals ausgeben,‹ beteuerte ich; ›so wie er ist, will ich ihn behalten. Für die Mutter werde ich ihn gleichsam aufbewahren. Jedes Jahr lege ich fünfundzwanzig Rappen dazu. So viel betragen ja doch die Zinsen, wie uns Philipp Korn letzten Sommer gelehrt hat. Und alles soll der Mutter gehören. Wenn es zwei Fünffränkler sind, gebe ich das Geld zurück. Dann ist alles Schlimme daran vergessen. Man sieht dann nichts Gestohlenes mehr, man sieht nur noch zwei Fünffränkler.‹

Dennoch war ich nicht gänzlich befriedigt.

Der Weg führte mich an der Metzgerei vorbei mit ihren rotbraunen dicken, glänzenden Würsten, dem geräucherten Schinken, dem harten Schlegel Büdnerfleisch, das ich besonders liebte, und mit den langen, in Silberpapier und verknotete Schnüre eingebundenen Salami. Wie das alles hinter den blanken Fenstern lockte! Daneben stand eine Zuckerbäckerei mit Eierküchlein, Leckerli aus Basel, Zimtsternen, Zwieback und Apfelfladen. Zu ebener Erde ging es weiter in den Laden der Witwe Ilsig, Josephs Mutter, hinein. Hier sah man Spezereien aus Arabien und Indien, wie der Nachtwächter oft versicherte, wenn er der Witwe ein Gläschen Nußwasser abschmeicheln wollte. Wächst so was wirklich in Indien, so beneidete ich die dortigen Buben, die auf dem Schulweg das Köstliche gleich[131] von den Asten pflücken können. Jedenfalls blüht in ganz Lachweiler kein Geschäft so wie das der umsichtigen Witwe, und das geflügelte Wort des Nachtwächters wurde berühmt, daß weder im Kirchensäckel, noch in der Gemeindetruhe so viel Geld aus- und einfließe, wie in die Krämerlade der Friederike Ilsig-Fahnder.

So oft ich an ihren Scheiben vorbeiging, packte mich ein verzehrender Appetit nach diesem Kanaan der Witib. Ich wünschte mir dann wenigstens so ein großes Geldstück, daß ich einmal eine ganze sechsteilige Schokoladenplatte oder einen Sack voll Haselnüsse kaufen könnte. Sonderbar, jetzt hielt ich in der Tasche eine Münze umklammert, womit ich mir ein volles Dutzend solcher Schleckwaren verschaffen konnte, und verspürte doch nicht die mindeste Begehrlichkeit. Wenn nicht mit deutlichem Ekel, so ging ich doch mit voller Gleichgültigkeit am Laden vorüber. Niemals wollte ich die Münze aus Begehrlichkeit münzen, niemals!

Am Arresthäuschen warteten Jakob, Theodor und Joseph bereits auf mich und vertrieben sich die Zeit damit, Schneeballen nach dem Kamin des Schmithauses zu werfen. Jakob traf ziemlich nahe, Theodor fuhr weit darüber hinaus und Joseph erreichte kaum das untere Dach.

»Langweiliger,« zürnte Jakob, »nun einmal vorwärts!«

Quelle:
Heinrich Federer: Lachweiler Geschichten, Berlin [o.J.], S. 123-132.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Jean Paul

Titan

Titan

Bereits 1792 beginnt Jean Paul die Arbeit an dem von ihm selbst als seinen »Kardinalroman« gesehenen »Titan« bis dieser schließlich 1800-1803 in vier Bänden erscheint und in strenger Anordnung den Werdegang des jungen Helden Albano de Cesara erzählt. Dabei prangert Jean Paul die Zuchtlosigkeit seiner Zeit an, wendet sich gegen Idealismus, Ästhetizismus und Pietismus gleichermaßen und fordert mit seinen Helden die Ausbildung »vielkräftiger«, statt »einkräftiger« Individuen.

546 Seiten, 18.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon