Drittes Kapitel
Geburt, Verwandtschaft und Erziehung des Herrn Jonathan Wild des Großen

[10] Merkwürdig ist es, daß die Natur selten ein Genie hervorbringt, das in der Folge eine wichtige Rolle auf der Bühne der Welt spielen soll, ohne vorher ihre Absicht durch irgend ein Wunderzeichen kund zu tun; und wie ein dramatischer Dichter einen interessanten Charakter mit einer feierlichen Erzählung oder wenigstens mit einem Trompetenstoß einzuführen pflegt, so gibt uns auch diese gütige Mutter durch manchen wunderbaren Wink ihre große Absicht zu erkennen, gerade als wenn sie uns Menschen zurufen wollte:

Venienti occurrite morbo!

(Kommt der Krankheit zuvor!)

So träumte z. B. Astyages, Cyrus' Großvater, seine Tochter würde von einem Weinstock entbunden, dessen Zweige sich über ganz Asien verbreiteten; und während ihrer Schwangerschaft mit dem Paris hatte Hekuba den wunderbaren Traum, daß sie einen Feuerbrand zur Welt brächte, der ganz Troja in Flammen setzte; auf eben diese Weise träumte auch die Mutter unsres großen Mannes[10] während ihrer Schwangerschaft, sie hätte mit den beiden Göttern Merkur und Priapus zu tun. Über diesen Traum zerbrachen sich alle gelehrten Astrologen ihrer Zeit die Köpfe, weil er ihnen einen offenbaren Widerspruch zu enthalten schien; denn bekanntermaßen ist Merkur der Gott der Industrie und Priap der Schrecken aller, die sie handhaben. Ein wunderbarer Umstand, der gleichfalls auf etwas Übernatürliches deutete und vielleicht die einzige Ursache sein mochte, daß man sich dieses Traumes noch lange erinnerte, machte ihn noch wunderbarer: denn hatte die gute Frau gleich die Namen dieser Götter in ihrem ganzen Leben nicht gehört, so wußte sie sie am folgenden Morgen doch wörtlich zu wiederholen, nur daß sie einen kleinen Schnitzer in der Quantität machte und statt Priãpus Priăpus sagte – und ihr Mann versicherte hoch und teuer, wäre ihm auch dann und wann der Name Merkur in ihrer Gegenwart entfallen (denn er hätte von solch einem heidnischen Gott gehört), so habe er sie doch keineswegs an den andern Gott erinnern können, weil er nie die Ehre seiner Bekanntschaft genossen.

Noch ein merkwürdiger Umstand war, daß sie während ihrer ganzen Schwangerschaft nach allem, was sie sah, ein Gelüste bekam und nicht eher zufrieden war, als bis sie es ganz heimlich gebüßt hatte; und da die Natur, wie man bemerken will, keine einzige Begierde ohne die Mittel, sie zu befriedigen, gibt, so hatten ihre Finger um diese Zeit auch die höchst seltene Eigenschaft, daß alles, was ihnen nur vorkam, wie an Vogelleim an ihnen hängen blieb.

Ohne mehrerer Geschichtchen zu gedenken, von denen einige vielleicht zu sehr nach der Rockenphilosophie schmecken möchten, schreiten wir nun gleich zu der Geburt unsres Helden, der seine Erscheinung auf der großen Bühne der Welt gerade an dem Tage machte, an welchem im Jahre 1665 zuerst die Pest ausbrach. Einigen Nachrichten zufolge soll seine Mutter in Coventgarden, und zwar in einem zirkelförmigen Hause, von ihm entbunden worden sein – doch darüber läßt sich nichts mit Gewißheit bestimmen. Er ward einige Jahre nachher von dem berühmten Titus Oates getauft.

In seinen Kinderjahren fiel nichts Merkwürdiges vor, außer daß die Buchstaben Th, die sonst den Kindern am schwersten werden, die allerersten waren, die er mit einiger Geläufigkeit aussprach. Auch können wir die Proben seiner sanften Gemütsart, die er schon in früher Jugend ablegte, nicht mit Stillschweigen übergehen. Denn war man gleich nicht imstande, ihn durch Drohungen zu irgend etwas zu bewegen, so gewann man ihn doch sehr leicht[11] durch ein Stück Zucker und andere Näschereien. In der Tat, durch Bestechung ließ er sich zu allem verleiten, und darum sagte auch fast ein jeder, er wäre offenbar zu einem großen Mann geboren.

Kaum hatte man ihn in eine Schule getan, so äußerte sich auch schon sein kühnes und erhabenes Genie, und alle seine Kameraden begegneten ihm mit der Unterwürfigkeit und Achtung, die man gewöhnlich den großen Köpfen zu gewähren pflegt, die sie als einen Tribut fordern. Ihn zog man immer zu Rate, wenns darauf angesehen war, einen Obstgarten zu plündern; und legte er gleich selten oder niemals mit Hand ans Werk, so machte er doch immer den Plan dazu und verteilte die Beute, wovon er auch dann und wann mit wunderbarer Großmut einen geringen Teil für diejenigen auszuwerfen pflegte, die sie eingebracht. In diesem Fall konnte man sich auf seine Verschwiegenheit verlassen; aber stahl jemand auf seine eigene Faust, ohne Monsieur Wild davon zu benachrichtigen, konnte er sicher darauf rechnen, daß eine förmliche Klage bei dem Schulmeister gegen ihn anhängig gemacht war und daß ihn eine harte Züchtigung erwartete.

Übrigens verwandte er so wenig Fleiß und Aufmerksamkeit aufs Lernen, daß sein Schulmeister, ein sehr weiser und würdiger Mann, fünf gerade sein ließ, seinen Eltern Nachricht gab, ihr Sohn mache ganz erstaunliche Fortschritte, und ihm immerhin erlaubte, seinen Neigungen zu folgen, weil er bald merkte, daß sie ihn zu viel edleren Dingen als zu den Wissenschaften leiteten, die auch freilich einem Ehrenmann in seinem Fortkommen mehr hinderlich als beförderlich sind; aber – so schwer es unserm Wild anging, sein Exerzitium selbst zu machen, so leicht ward es ihm, es allen seinen Schulkameraden abzustehlen, und immer wußte er sein Spiel, sowohl hier, als in andern Fällen, wo er Gelegenheit hatte, seine großen Talente zu üben, die alle auf ein Ziel gerichtet waren – immer, sag ich, wußte er sein Spiel zu verheimlichen; angenommen einmal, als er sich einen Gradus ad Parnassum, das ist eine Leiter zum Parnaß, zu Gemüte geführt hatte: bei welcher Gelegenheit noch sein Schulmeister, ein alter witziger und sinnreicher Mann, gesagt haben soll, er wünsche, das möchte nicht für ihn ein Gradus ad Patibulum, das ist eine Leiter zum Galgen, werden.

Indessen – wollte er gleich nicht selbst auf die sogenannten gelehrten Sprachen einige Mühe verwenden, so hörte er doch mit großer Aufmerksamkeit zu, wenn andere etwas aus den Klassikern übersetzten; auch war er in solchen Fällen sehr hurtig mit seinem Beifall bei der Hand. Außerordentlich gefiel ihm die Stelle im elften Buch der Iliade, wo es heißt, daß Achill die Söhne Priams auf[12] einem Berge gefesselt und für eine Summe Geldes wieder losgelassen habe. Dies, pflegte er zu sagen, wäre schon allein hinlänglich, alles über den Haufen zu werfen, was man gegen die Weisheit der Alten sagte, und es wäre zugleich ein unverwerfliches Zeugnis von dem hohen Altertum der Industrie. Er geriet in Entzücken über die Nachricht, die Nestor in eben diesem Buche von der reichen Beute gibt, die er den Eläern abgenommen (das ist gestohlen). Dies ließ er auch oft wiederholen, und bei jeder Wiederholung seufzte er tief und sagte: es war ein herrlicher Fang.

Ward ihm die Geschichte des Kakus aus dem achten Buch der Eneide vorgelesen, so bedauerte er aufs großmütigste das Schicksal dieses großen Mannes und meinte, Herkules wäre viel zu grausam gegen ihn gewesen. Einer seiner Kameraden lobte einst die List, mit der Kakus die Ochsen rückwärts in die Höhle zog – er aber lächelte und sagte mit einiger Verachtung, er hätte ihm ein besseres Mittel an die Hand geben können.

Er war ein leidenschaftlicher Bewunderer aller Helden, vorzüglich Alexanders des Großen, den er oft mit Karl dem Zwölften in Parallele zu setzen pflegte. Außerordentlich behagte ihm die Erzählung, wie der Zar einst auf einem Rückzuge die Einwohner aller großen Städte mitgenommen, um sein Land zu bevölkern. Daran, sagte er, hat Alexander doch niemals gedacht – aber vielleicht brauchte er sie nicht.

Glücklich für ihn, hätte er sich auf dieser Sphäre eingeschränkt; aber sein Hauptfehler und vielleicht sein einziger Fehler war, daß er sich aus einer gewissen für die wahre Größe zu verderblichen Niedrigkeit in seinem Charakter zu einer Vertraulichkeit mit Menschen und Dingen herabließ, die zu tief unter ihm waren. So war z. B. der spanische Gauner sein Lieblingsbuch, und Scapins Betrügereien sein Lieblingsschauspiel.

Da unser junger Held das achtzehnte Jahr erreicht hatte, brachte ihn sein Vater aus einem närrischen Vorurteil gegen unsere Universitäten und einer zu großen Sorgfalt für die Bildung seiner Sitten in die Hauptstadt, wo er mit ihm blieb, bis er alt genug war, auf Reisen zu gehen. Während dieser Zeit wandte man alle mögliche Sorgfalt auf seinen Unterricht, und sein Vater gab sich die größte Mühe von der Welt, ihm Grundsätze der Ehre und der guten Lebensart beizubringen.[13]

Quelle:
-, S. 10-14.
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