Drittes Kapitel
Merkwürdiger Beitrag zur Geschichte von Newgate.

[135] Um eben diese Zeit hielt sich ein gewisser Roger Johnson, ein sehr großer Mann, in Newgate auf, der lange an der Spitze aller dort befindlichen Ritter von der Industrie gestanden und sie samt und sonders in Kontribution gesetzt hatte. Er untersuchte ihre Prozesse, trieb ihnen Zeugen auf und wußte sich ihnen ihrer Meinung nach so notwendig zu machen, daß das ganze Schicksal von Newgate in seinen Händen zu ruhen schien.

Wild hatte noch nicht lange gesessen, als er schon daran dachte, gegen diesen Ehrenmann Partei zu nehmen. Er schilderte ihn den Langfingern von Newgate als einen Buben, der unter dem Vorwande, ihre Prozesse zu betreiben, alle Freiheiten und Privilegien von Newgate untergrübe. Zuvörderst ließ er nur einige Winke und flüchtige Bemerkungen fallen; aber als er endlich ein förmliches Komplott gegen ihn zustande gebracht hatte, berief er die Helden eines Tages feierlich zusammen und hielt nachstehende Rede an Sie:


Freunde und Mitbürger!

Der Gegenstand, den ich euch heute vorzutragen gedenke, ist von solcher Wichtigkeit, daß ich zittere, wenn ich auf meine geringen Talente Rücksicht nehme, die mich fürchten lassen, eure Sicherheit möge durch den Redner in Gefahr kommen, der es unternommen hat, euch auf eure schreckliche Lage aufmerksam zu machen. Meine Herren! Die Freiheit von Newgate steht auf dem Spiele. Schon lange werden eure Privilegien untergraben, öffentlich werden sie jetzt angegriffen, und zwar von einem Manne, der sich die ganze Führung eurer Prozesse angemaßt hat, um unter diesem Vorwande alles von euch zu erpressen, was ihm nur gefällt. Aber werden diese Summen wirklich zu jenem Behufe verwendet? Eure verlorenen Prozesse beweisen das Gegenteil zur Genüge. Was für Zeugen bringt er jemals für einen Gefangenen bei, den dieser nicht selbst hätte ebensogut auftreiben und unterrichten können? Wie viele vortreffliche junge Männer sind zum Teufel gefahren, wenn doch ein schlichtes Alibi sie hätte retten können. Schwiege auch ich, zeugte auch euer eigenes Unrecht nicht mit lauter Stimme gegen ihn, so müßten doch alle die Kehlen, welche durch seine Nachlässigkeit am Galgen zugeschnürt wurden, Wehe über ihn röcheln. Nicht[135] genug, daß seine Raub- und Habsucht in dem schrecklichen Schicksal seiner unglücklichen Klienten sichtbar wird, nein, sie offenbart sich auch noch durch die angenehmen Folgen, die sie für ihn selbst gehabt. Zeugen mag davon jener reiche, seidene Schlafrock, den er zu seiner Schande öffentlich trägt und welchen man mit Recht das Sterbekleid der Freiheiten von Newgate nennen kann. Kann es einen Ritter von der Industrie geben, dem Newgates Ehre so wenig am Herzen liegt, daß ihm der Anblick dieser Trophäe, durch das Blut so vieler Langfinger erkauft, kein Erröten abjagen sollte? Dies ist bei weitem noch nicht alles. Seine gestickte Weste, seine samtne Mütze, was sind sie anders als Beweise seiner und unserer Schmach! Man möchte vielleicht glauben, die Lumpen, womit er seine Blöße bedeckte, als er zuerst hier abgeliefert wurde, wären vorteilhaft genug gegen diese Flitter ausgetauscht; aber ich halte keinen Tausch für vorteilhaft, wo man Schande mit in den Kauf bekommt.


Die einzige Abschrift, die wir von dieser Rede haben erhalten können, bricht hier plötzlich ab, indessen können wir dem Leser aus authentischen Nachrichten versichern, daß der Redner den Herren von der Industrie zuletzt den freundschaftlichen Rat erteilte, sie möchten ihre Affären sicherern Händen anvertrauen; worauf denn auch einer von Wilds Partei ihn selbst in einer langen Rede seinen Zuhörern in Vorschlag brachte, wie man es schon zuvor abgekartet hatte.

Bei diesem Vorfall war Newgate in zwei Parteien geteilt, und die Langfinger von jeder Partei erhoben immer nur ihr Oberhaupt, ist zu sagen ihren großen Mann, als den einzigen, durch den die Geschäfte von Newgate ein besseres Ansehen gewinnen könnten. Das Interesse dieser Herren war in der Tat ein wenig unverträglich. Sowohl Johnsons als auch Wilds Anhänger dachten teil an der Beute zu haben, die ihr Oberhaupt machen würde; war es daher zu verwundern, daß beide Teile ihre Sache mit so vieler Wärme verfochten? Merkwürdiger war es noch, daß die Schuldner, die der ganze Streit nichts anging und die eigentlich das Wildpret waren, worauf beide Teile Jagd machten, sich mit der äußersten Heftigkeit diese für Johnson, jene für Wild interessierten, so daß man in ganz Newgate nichts hörte, als: »Es lebe Johnson! Es lebe Wild!« Selbst die armen Schuldner wiederholten die Worte: »Es leben die Privilegien von Newgate!« – welche nichts anderes bedeuten als Diebereien, eben so laut, wie die Herren von der Industrie. Kurz, es[136] entspannen sich solche Streitigkeiten und solche Zänkereien unter ihnen, daß man sie eher für zwei Völkerschaften, die sich einander lange in den Haaren gelegen, als für die Bewohner eines und eben desselben Gefängnisses hätte halten sollen. Endlich siegte Wilds Partei und er kam an Johnsons Stelle, welchem er stehendes Fußes seinen ganzen Putz abnahm; aber als man ihm vorstellte, daß er den ganzen Anzug verkaufen und das Geld unter seinen Anhang verteilen sollte, wich er diesem Vorschlage aus und sagte, es sei noch nicht Zeit; man müsse auf eine bessere Gelegenheit warten, die Kleider müßten erst abgekehrt werden, und was dergleichen Ausflüchte mehr waren. Doch zwei Tage nachher erschien er selbst in diesen stattlichen Gewändern, und zwar zu jedermanns Bestürzung; denn er wußte in der Tat nichts zu seiner Entschuldigung vorzubringen, als daß die Kleider ihm besser paßten und schöner ständen als Johnson.

Dies Betragen brachte die Insolventen schrecklich gegen Wild auf, zumal da er ihrem Einflusse seine Beförderung verdankte. Sie tobten, murrten und ließen ihren Unwillen bei jeder Gelegenheit aus, und eines Tages redete ein sehr gravitätischer Mann folgendermaßen zu ihnen:


Wahrhaftig, es läßt sich doch nichts Lächerlicheres denken, als das Benehmen der Leute, die selbst das Lamm dem Wolf vors Maul legen und dann ein Geplärr darüber erheben, daß er es aufgefressen. Was ein Wolf unter einer Herde Schafe ist, ist ein großer Mann in der menschlichen Gesellschaft. Hat der Wolf sich einmal in den Schafstall eingeschlichen, was würde es den guten Tieren frommen, wenn sie ihn verjagten und einen anderen an seine Stelle setzten? Ebensoviel nützt es uns, wenn wir einen Langfinger zum Besten des anderen plantieren. Wußtet ihr nicht alle, daß Wild und sein Anhang ebensogut Diebe waren, wie Johnson und Kompagnie? Was konnte also bei dem ganzen Streite herauskommen? Aber vielleicht möchte man fragen: sollen wir uns denn geduldig von dem Dieb, der uns schon so lange bestohlen hat, ausplündern lassen, aus Furcht, es möchte noch ein schlimmerer an seine Stelle kommen? Ich antworte: Nein, lieber der Dieberei überhaupt Einhalt getan! Und wodurch können wir dies anders bewerkstelligen, als durch eine gänzliche Veränderung unserer Lebensart? Jeder Langfinger ist ein Sklave. Seine diebischen Begierden legen ihm Fesseln an und unterwerfen ihn einem Tyrannen. Wollen wir also die Freiheit von Newgate behaupten, so müssen wir die Lebensart von[137] Newgate ändern. Wir alle, die wir hier Schulden halber sitzen, wollen uns daher mit diesen Langfingern nicht mehr abgeben, wollen weder mit ihnen zechen, noch sonst Umgang mit ihnen pflegen. Aber dies ist nicht genug. Wir müssen auch allen Diebereien entsagen und, statt uns bei jeder Gelegenheit selbst zu bestehlen, mit dem Wenigen zufrieden geben, was uns die Armenkasse zufließen läßt oder was wir durch unseren Fleiß erwerben. Je weiter wir uns von den Langfingern entfernen, um so fester müssen wir uns aneinanderschließen. Sehen wir uns alle als Glieder einer Gesellschaft an, zu deren Besten wir unser Privatinteresse nicht mehr als gern aufopfern: dann müssen wir aber auch das allgemeine Beste niemals für irgendein armseliges Vergnügen oder für einen kleinlichen Vorteil, den wir uns selbst versprechen, hingeben, denn bei einem niedrigeren Grade von Ehrlichkeit kann keine Freiheit bestehen, auch wird sich kein Dieb unterfangen, eine Republik zu unterjochen, die auf diesen Grundsätzen gebaut ist; und sollte er auch wirklich den Versuch machen, so wird er schon für seine Kühnheit büßen müssen. Freilich, wenn der eine seinen Ehrgeiz, der andere seinen Vorteil, der dritte seine Sicherheit befördern und der vierte wohl gar eine kleine Spitzbüberei begehen oder verteidigen will, dann muß man natürlicherweise Schutz bei solchen Leuten suchen, die Vermögen und Willen haben, in allen diesen Fällen für ihre Klienten zu sorgen; dann heischt es das Interesse, daß man sich nach einem Protektor umsieht. Sobald dies aber nicht mehr der Fall ist, sobald wir der Industrie entsagen, haben wir auch nichts mehr zu wünschen oder zu fürchten. Daher müssen wir uns entschließen, entweder unsere Freiheit zu behaupten und die Industrie aufzugeben, oder auf dieser und zwar auf Kosten unserer Freiheit zu beharren.


Diese Rede ward mit großem Beifall aufgenommen; Wild indessen setzte nach wie vor seine Mitgefangenen in Kontribution, verwandte alles, was er eintrieb, zu seinem eigenen Nutzen und strotzte vor jedermanns Augen in den Kleidern einher, die er Johnson abgenommen. Die Wahrheit zu sagen, so war der ganze Anzug nichts als leidiger Flitterstaat. Der Schlafrock stach zwar von außen recht hübsch in die Augen, hielt aber seinen Besitzer nicht warm; auch machte er ihm nicht einmal Ehre, weil jedermann wußte, er gehörte ihm nicht erb- und eigentümlich. Auch die Weste paßte ihm nicht, denn sie war ihm offenbar zu weit, und die Mütze war so schwer, daß er allemal Kopfschmerzen bekam, wenn er sie aufhatte.[138] So machten diese Kleider (vielleicht bloß darum, weil sie dem anderen Gesindel sein Elend recht lebhaft vor Augen brachten) unsern Helden verhaßter und beneideter als alle wirklichen Vorteile, die er an sich gerissen hatte. Überdem schmeichelte es nicht einmal seiner Eitelkeit, daß er sie trug, zumal wenn er in den Stunden der Ruhe kälter darüber nachdachte. Überhaupt konnte man wohl von unserm Helden sagen, daß er noch keinen Schilling an sich gebracht, den er nicht zu teuer hätte bezahlen müssen.

Quelle:
-, S. 135-139.
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