Viertes Kapitel
Hartfrees Todesurteil wird ausgefertigt, und unser Held zeigt bei dieser Gelegenheit einige Spuren von menschlicher Schwäche.

[139] Jetzt langte Hartfrees Todesurteil in Newgate an. Der Leser muß uns hier entschuldigen, daß wir ihn auf eine kleine Schwachheit unseres Helden aufmerksam machen, deren wir uns mit Recht schämen und welche wir nicht gerügt haben würden, wenn wir uns nicht vorgesetzt hätten, nicht sowohl abenteuerliche, als natürliche Charaktere zu liefern, und wenn wir es nicht für unsere Pflicht hielten, der Wahrheit in allen Stücken aufs getreueste nachzukommen. Kund und zu wissen denn, daß dieses Todesurteil weniger oder gar keinen Eindruck auf Hartfree machte, der dadurch leiden sollte; einen desto größeren Eindruck machte es aber auf Wild, der die einzige Ursache dieser schrecklichen Begebenheit war. Schon den Tag zuvor hatte ihn der Anblick von Hartfrees Kindern, die ihren Vater mit weinenden Augen verließen, ein wenig in Bestürzung versetzt. Er erinnerte sich bei der Gelegenheit einiger kleiner Beleidigungen, die er ihrem Vater zugefügt und, so gut sichs wollte tun lassen, aus seinem Gedächtnis zu verwischen strebte; aber als einer von den Gefangenwärtern Hartfrees Namen unter denjenigen nannte, die binnen wenigen Tagen hingerichtet werden sollten, trat ihm das Blut aus den Wangen und schlich langsam und schwer seinem Herzen zu, das kaum Kraft genug hatte, es wieder durch seine Adern zu treiben. Kurz, sein Äußeres verriet die Angst seiner Seele so augenscheinlich, daß er in sein Zimmer taumelte, um allen neugierigen Blicken auszuweichen und daselbst den Ausbrüchen des heftigsten Schmerzes Raum gab, so daß selbst Hartfree ihn bedauert haben würde, falls nicht der Gedanke[139] an die Leiden seines Weibes ihn für Mitleid und Erbarmen fühllos gemacht hätte.

Als sein Geist fast gänzlich unter der Last der schmerzlichen Vorstellungen erlag, die ihm das bevorstehende Schicksal seines ehemaligen Freundes wider seinen Willen herbeiführte, versprach der Schlaf ihm einige Linderung; aber auch dies war nur ein leidiger Trost. Dieser zuverlässige Freund eines ermüdeten Körpers wird nicht selten der gefährliche Feind einer kummerbelasteten Seele. Dies war der Fall bei Wild. Schreckliche Träume machten seine wirkliche Lage noch gräßlicher und quälten seine Einbildungskraft mit unbeschreiblich peinlichen Phantomen. Er fuhr endlich auf und rief, als er zu sich selbst gekommen war: »Kann ich diesen Schlag nicht noch abwenden? Noch ist es nicht zu spät, alles zu entdecken!« Dann schwieg er einen Augenblick. Sogleich kam ihm seine Größe zu Hilfe und unterdrückte den niedrigen Gedanken, der sich seiner Seele aufgedrungen hatte. Nun redete er folgendermaßen mit sich: »Soll ich mich wie ein Kind, wie ein Weib oder wie alle die Elenden, die ich sonst so herzlich verachtet habe, von einem erbärmlichen Traumgesicht schrecken lassen und alle die Ehre dahingeben, die ich mir so sauer erworben und so rühmlich behauptet habe? Soll ich meinen guten Ruf beflecken, meinen Ruf, den das Blut vieler Tausende nicht wieder reinwaschen kann, bloß damit dieser dumme Kerl sein nichtswürdiges Leben noch länger mit sich herumschleppe? Vielleicht könnte ich mich zu so einer Schwachheit verleiten lassen, wenn bloß der einfältige Teil der Menschheit mich darum einen Schurken nennen würde; aber den Rittern von der Industrie verächtlich zu werden, mich ihnen als einen Menschen bloßzugeben, der nicht Mut hat, seine Entwürfe durchzusetzen – nein, das kann ich nicht ertragen! Was ist ein Menschenleben? Sind nicht ganze Armeen, ja ganze Nationen großen Männern zum Opfer gefallen? Selbst der Helden vom ersten Range, der Eroberer, nicht zu gedenken – wie viele erlagen nicht immer den verräterischen Entwürfen oder oft nur den Launen eines Ministers, den man doch nur zur zweiten Klasse der großen Männer rechnen kann? Was hab ich denn getan? Eine Familie hab ich zugrunde gerichtet und einen ehrlichen Mann an den Galgen gebracht. Ich sollte doch lieber mit Alexander dem Großen weinen, daß ich nicht noch mehr Unfug angerichtet.«

Er faßte nun den heldenhaften Entschluß, Hartfree seinem Schicksale zu überlassen, ob es ihn gleich einen großen Kampf kostete, ehe er seines Widerwillens Meister werden und den Funken von Menschlichkeit unterdrücken konnte, der sich in seinem[140] Herzen regte und welchen wir mit so großem Recht für nichts als leidige Schwäche erklären.

Bei Gelegenheit der Rechtfertigung unseres Helden können wir nicht umhin, zu bemerken, daß die Natur selten so gefällig ist, vollkommene Charaktere aufzustellen, was doch die Herren Schriftsteller nicht unterlassen. Niemals schafft sie einen so erhabenen oder so niedrigen Charakter, daß man in dem ersteren nicht einige Züge von Menschlichkeit und in dem letzteren nicht einige kleine Züge von dem, was der Pöbel Bosheit nennt, entdecken sollte. Beides in beiden zu unterdrücken, möchte vergebliche Mühe sein. Meiner Meinung nach war wohl niemals ein Mensch gänzlich untadelhaft, es müßte denn ein scheinheiliger Heuchler gewesen sein, dessen Lob aus dem Munde seines wohlgemästeten Schmeichlers ertönte.

Quelle:
-, S. 139-141.
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