Neuntes Kapitel
Enthält sehr überraschende Begebenheiten.

[154] Der Kapitän erklärte, er wolle ohne Aufschub zu der Stadt fortrükken, die vor ihm läge. In diesem Entschluß bestärkte ihn auch die ganze Mannschaft. Weil man mich aber nicht bereden konnte, von der Stelle zu gehen, bis ich mich ein wenig ausgeruht hätte, so vermaß sich mein alter Freund hoch und teuer, er wolle mich nicht verlassen, sondern mir zur Bedeckung Zurückbleiben, und wenn ich mich durch ein wenig Schlaf erquickt haben würde, wollte er mich in die Stadt begleiten, die auch der Kapitän nicht zu verlassen versprach, bis wir ihm nachgekommen wären.

Kaum waren sie fort, so dankte ich meinem Beschützer für seine Sorgfalt und legte mich zur Ruhe. Ohne Zweifel würde mich auch der Schlaf, der mich sogleich überfiel, noch länger in seinen süßen Banden gehalten haben, hätte mein Wächter mich nicht durch einen Händedruck geweckt. Zuerst glaubte ich, er wolle mich vor einer nahen Gefahr warnen; aber bald ward ich inne, daß er ein zärtlicheres Motiv dazu hatte und daß das Ungestüm eines Liebhabers das einzige war, was ich zu fürchten hatte. Er gestand mir nun seine Leidenschaft mit mehr Nachdruck und Wärme, als einer meiner vorigen Liebhaber getan hatte; aber noch enthielt er sich aller gewaltsamen Mittel. Ich meinesteils brach in größere Bitterkeiten und Schmähungen aus, als ich mir noch gegen irgendeinen erlaubt hatte, den Bösewicht Wild ausgenommen. Ich sagte ihm, er sei der abscheulichste, niederträchtigste Bube von der Welt; daß er seine schändlichen Absichten unter einem Schein von Tugend und Freundschaft verborgen hätte, mache ihn meinen Augen noch verwerflicher; ich verabscheute ihn mehr als irgendeinen Menschen, und wäre ich je so unglücklich, den Versuchungen zur Schande zu unterliegen, so würde er doch gewiß der letzte sein, dem ich mich preisgäbe. Er ließ sich durch diese Sprache nicht im mindesten aufbringen, sondern veränderte nur die Waffen und nahm seine Zuflucht zu Bestechungen. Er riß das Unterfutter seiner Weste auf, zog verschiedene Juwelen hervor und sagte, er habe diese Juwelen unter tausend Gefahren zu seinem unaussprechlichen Glücke aufbewahrt, wenn ich durch sie gewonnen werden könnte. Ich schlug sie zu verschiedenen Malen mit dem größten Unwillen aus, als ich endlich mehr von ungefähr, als aus Neugierde, mein Auge auf ein diamantenes Halsband warf und schneller wie der Blitz die Erinnerung durch meine Seele fuhr, daß dies eben die Diamanten seien,[154] die du an den verwünschten Grafen verkauft. Die Verwirrung, worein mich dieser Zufall stürzte, machte, daß ich den Buben vergaß, der neben mir stand; aber kaum war ich ein wenig zu mir selbst gekommen, so fiel es mir ein, dies könne niemand anders sein als der Graf selbst, das schändliche Werkzeug von Wilds Grausamkeit. Gerechter Himmel! In was für einer Lage sah ich mich! Wie soll ich den Tumult aller der Empfindungen beschreiben, die sich in meinem Busen regten?

Indessen da er mich nicht kannte, schien mir aller Verdacht von seiner Seite unmöglich. Auch schrieb er die Neugierde, womit ich die Juwelen ansah, einer ganz anderen Ursache zu und bemühte sich, eine noch sanftere, gefälligere Miene anzunehmen als zuvor. Meine Furcht legte sich ein wenig, und ich beschloß, keine Versprechungen zu sparen, und hoffte, jemehr ich ihn glauben ließ, daß meine Gunstbezeugungen mir um so einen Preis feil wären, um so eher würde ich ihn bis zur Zurückkunft des Kapitäns und der übrigen Mannschaften hinhalten; und dann wußte ich gewiß, daß ich nicht nur vor seinen Nachstellungen sicher sein, sondern auch meine gestohlenen Juwelen wieder erhalten würde. Aber ach! Ich betrog mich in meiner Hoffnung.«

Mistreß Hartfree bemerkte aufs neue einige Zeichen von Unruhe an ihrem Mann und rief aus: »Mein Lieber! Fürchte dich nicht! Doch – damit du bald deine Angst los wirst – als er merkte, daß ich sein allzugroßes Ungestüm zurückwies, bat er mich, doch vernünftig zu sein. Dann veränderte er mit einem Male seine Stimme und seinen Blick und schwor mit wildem, gräßlichem Tone, ich solle ihn nicht so hinters Licht führen wie den Gimpel von Kapitän; das Glück habe ihm zu einer Gelegenheit verholfen, die er nicht wie ein Narr fahren lassen wolle. Zuletzt bekräftigte er mit einem feierlichen Eid, er wolle mich diesen Augenblick genießen, oder er stände nicht für die Folgen. Dann faßte er mich in seine Arme und schritt zu solchen Gewalttätigkeiten, daß ich alle meine Kräfte zusammennahm und um Hilfe schrie, ob ich gleich wenig oder gar nicht auf fremden Beistand rechnen konnte. Aber plötzlich sprang ein Geschöpf aus dem Dickicht, das ich dem ersten Anschein nach und in der Bestürzung, in der ich mich befand, nicht einmal für einen Menschen hielt, aber wäre es auch das grausamste, blutdürstigste aller wilden Tiere gewesen, so würde ich ihm doch mit Freuden in den offenen Rachen gelaufen sein. Kaum hatte ich bemerken können, daß er eine Muskete in der Hand hatte, so versetzte er meinem Räuber einen so heftigen Schlag, daß er sinnlos zu meinen Füßen stürzte; dann kam er sehr höflich auf mich zu und sagte mir[155] in französischer Sprache, es sei ihm außerordentlich lieb, daß er zu meiner Rettung bei der Hand gewesen sei. Er war nackend bis auf die Füße und den mittleren Teil seines Leibes, nur daß sein Körper, wie der Körper eines Tieres, dick mit Haaren bewachsen war. Wahrhaftig, sein Anblick war so gräßlich, daß selbst der Freundschaftsdienst, den er mir erwiesen, und sein höfliches Benehmen den Schrecken nicht ganz überwältigen konnten, den seine Gestalt mir eingeflößt. Ich glaube, er ward dies selbst inne; denn er bat mich, ohne Furcht zu sein; was für ein Zufall mich auch hierher gebracht hätte, so sollte ich doch alle mögliche Ursache haben, dem Himmel zu danken, daß er mich in seine Hände gegeben; ich würde gewiß an ihm einen Beschützer finden und könne mich der besten höflichsten Begegnung versichert halten.

In dieser schrecklichen Verwirrung hatte ich noch Gegenwart des Geistes genug, das Kästchen mit Juwelen aufzunehmen, das dem Verräter aus der Hand gefallen war, und es in die Tasche zu stecken. Mein Befreier sagte mir, ich käme ihm sehr müde und entkräftet vor; er wolle mir daher raten, mich in seiner Hütte, die nicht weit von hier sei, ein wenig zu erholen. Wäre auch sein Benehmen gegen mich nicht so artig und gefällig gewesen, so hätte mir schon allein meine verzweiflungsvolle Lage Mut gemacht; denn die Wahl war nicht schwer, ob ich mich nicht lieber diesem Menschen, der seiner wilden Außenseite ungeachtet so vielen Eifer, mir zu dienen, zeigte, überlassen, oder bei einem Bösewicht bleiben sollte, den ich nun aus trauriger Erfahrung kennengelernt hatte. Ich überließ mich daher seiner Leitung und bat ihn, mit Tränen im Auge, sich doch meiner Unschuld zu erbarmen, die in seiner Gewalt sei. Er sagte: der Vorfall, den er mit angesehen, entschuldige meinen Verdacht in seinen Augen. Zugleich bat er mich, nicht mehr zu weinen, denn er wolle mich bald überzeugen, daß ich mit einem ehrlichen Manne zu tun hätte. Der gefällige Ton, womit er diese Worte begleitete, gab mir einigen Trost, und dieser Trost ward durch den Besitz meiner Juwelen, die mir die Vorsehung so wunderbar wieder in die Hände geliefert, noch um ein Großes erhöht.

Wir verließen den Bösewicht in seinem Blute, obgleich er schon anfing, sich wieder ein wenig zu regen, und gingen in die Hütte oder vielmehr in die Grotte meines Befreiers; denn seine Wohnung befand sich unter der Erde, an der Seite eines Hügels; die Lage war sehr angenehm, und an dem Eingang übersahen wir eine lange Ebene und die Stadt, die ich schon vorhin gesehen hatte.

Als ich dort sicher angelangt war, bat er mich, mich auf einen Rasen niederzulassen, der ihm die Dienste eines Stuhls tat; und[156] dann legte er mir einige Früchte vor, die in dieser Gegend wild wachsen und wovon einige einen sehr angenehmen Geschmack hatten. Auch brachte er noch etwas gebackenes Fleisch zum Vorschein, das beinahe wie Wildpret schmeckte. Dann holte er eine Branntweinbouteille, die er, seit er sich hier niedergelassen, noch nicht geöffnet hatte, denn sein einziger Trank war Wasser. Diese Bouteille hatte er immer nur als eine Herzstärkung für den Notfall aufbewahrt, und er dankte dem Himmel, daß er noch nie Gelegenheit gehabt hätte, sie zu brauchen. Er erzählte mir nun, er sei ein Eremit, sei vor dreißig Jahren an diese Küste geworfen worden und zwar mit seinem Weibe, daß er zärtlich geliebt, aber doch nicht habe retten können; darum hätte er beschlossen, nie wieder nach Frankreich zurückzukehren, sondern sich auf ewig einem einsamen Leben zu widmen; seine ganze Hoffnung beruhe auf der Aussicht, seine Frau dereinst im Himmel wiederzutreffen, wo sie jetzt nach seiner festen Überzeugung für ihn und seine Seligkeit bete. Er sagte mir, er habe mit dem König des Landes, den er mir als einen sehr guten und gerechten Mann beschrieb, einen Tauschhandel getrieben und ihm eine Uhr für eine Flinte und etwas Munition gegeben, womit er sich dann und wann ein Wildpret schieße, die er aber noch mehr zu seiner Verteidigung gegen wilde Tiere brauche. Vegetabilien seien übrigens seine liebsten und besten Nahrungsmittel. Er erzählte mir seine Geschichte noch umständlicher, die ich Ihnen vielleicht ein andermal wiederholen kann; jetzt muß ich nur erinnern, daß dies alles mir viel Trost gewährte, vorzüglich, als er mir versprach, mich nach einem Seehafen zu bringen, wo ich vielleicht ein Schiff antreffen möchte, das auf den Sklavenhandel ausginge; wenn ich mich anders, um dasjenige wiederzusehen, was mir das Liebste auf der Welt sei, noch einmal einem Element anvertrauen wollte, von dessen Tücke ich schon so viel gelitten.

Den Charakter, den er mir von dem König und den Einwohnern der Stadt, die wir vor uns liegen sahen, entworfen, brachte mich auf den Gedanken, dahin zu gehen, vorzüglich, da ich den Kapitän und die Matrosen zu sprechen wünschte, die sich so menschlich gegen mich betragen hatten und in deren Gesellschaft ich mich doch sicherer glaubte, als wenn ich mit einem Manne allein wäre; aber er widerriet mir, fortzugehen, bis ich meine Lebensgeister nicht ein wenig durch Ruhe erfrischt hätte, und bat mich, auf seinem Rasen den Schlummer zu suchen, er wollte unterdessen vor der Höhle Schildwacht stehen. Ich ließ mir dies gefallen, aber es dauerte lange, ehe ich zum Schlaf kommen konnte; doch zuletzt siegte die Müdigkeit, und ich schlief verschiedene Stunden. Beim Erwachen[157] fand ich meine Schildwache auf ihrem Posten und auf den ersten Wink bereit, meine Befehle zu vernehmen. Dies Betragen flößte mir einiges Zutrauen ein, und nun wiederholte ich meine Bitte, er möchte mich in die Stadt begleiten; aber er antwortete, es wäre doch besser, wenn ich vorher etwas genösse, denn der Weg sei länger, als ich dächte. Auch diesen Vorschlag nahm ich an. Er setzte mir darauf eine Menge auserlesener Früchte vor, die ich mir auch recht gut schmecken ließ, worauf ich meine Bitte erneuerte. Er aber hielt mir immer noch das Widerspiel und sagte, ich hätte noch nicht Kräfte genug; ich könnte nirgends sicherer ruhen, als in seiner Höhle, und er für seinen Teil hielte es für seine größte Glückseligkeit, mir aufzuwarten; ja diese Glückseligkeit dünkte ihm – dies sprach er mit einem Seufzer – höher und beneidenswerter, als jedes andere irdische Glück. Sie können denken, daß ich jetzt Argwohn schöpfte, und er benahm mir vollends allen Zweifel, indem er sich mir zu Füßen warf und seine Leidenschaft in den wärmsten Ausdrücken bekannte. Ich würde in Verzweiflung gesunken sein, hätte er nicht dieses Bekenntnis mit den größten Beteuerungen begleitet, daß er jeden Gedanken an Gewalt verabscheue und eher den grausamsten Tod sterben, als mir nur eine Träne oder einen Seufzer verursachen wolle; nur mir und meiner Liebe allein wolle er ein Glück verdanken, das für ihn kein Glück mehr wäre, wenn er es erzwingen wollte.«

Sie war im Begriff, noch andere Schmeicheleien zu wiederholen, die er ihr gemacht, als sich draußen ein schrecklicher Lärm hören ließ und ihre Erzählung für jetzt unterbrach. Um sich eine vollständige Idee von diesem Lärm zu machen, muß ich den Leser bitten, sich vorzustellen, ich hätte jene hundert Zungen, die ein alter Poet sich wünscht, und schrie mit allen diesen zugleich durch alle Töne, die nur in dem Umfange des menschlichen Organs liegen.[158]

Quelle:
-, S. 154-159.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Jean Paul

Die wunderbare Gesellschaft in der Neujahrsnacht / Des Feldpredigers Schmelzle Reise nach Flätz. Zwei Erzählungen

Die wunderbare Gesellschaft in der Neujahrsnacht / Des Feldpredigers Schmelzle Reise nach Flätz. Zwei Erzählungen

Zwei satirische Erzählungen über menschliche Schwächen.

76 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon