Zweytes Kapitel

[6] Der glückliche Zeitpunkt war näher, als ich dachte.

Eine halbe Stunde von unserm Guthe lag ein Städtchen, das von jeher sehr viel Anziehendes für mich gehabt hatte. Oft fand ich mich mitten zwischen den kleinen reinlichen Häusern, ohne zu wissen, wie ich dahin gekommen war. Träumend ging ich dann in den Gasthof, ließ mein Essen unter die große Linde bringen, und bezahlte der dicken Wirthin gern die doppelte Zeche; wenn sie mir nur erlaubte, so wenig als möglich auf ihr Geschwätz zu antworten.

Nein, man sage, was man wolle! es giebt Ahnungen. – Unter dieser Linde[6] .... doch welch eine Ausschweifung! Zurück: zu dem schönsten Abende meines Lebens!

Es war ein Mayabend. Ich drängte mich mit meinem Pferde durch duftende Hecken, und jeder Athemzug vermehrte die Lebensfülle, die meine Brust mit schmerzhaftem Entzücken hob. Achtzehn Jahre und der May! – was brauche ich mehr zu sagen? – –

Schon erblickte ich die Linde; aber es war nicht mehr die sehnsüchtige Träumerey, die mich vormals bey ihrem Anblicke ergriff. Ich zitterte vor brennender Ungeduld, und sprengte mit dem heftigsten Galloppe in den Gasthof hinein.

Da flohen zwey weiße Gestalten vor mir auf die Wiese. Die letzte schlug die kleine Gatterthüre schnell hinter sich zu – aber wie glücklich! ihr Kleid ward von der Thüre festgehalten.[7]

»Ach!« rief sie – und ein Engelgesicht strahlte mir entgegen. »Ach!« – rief ich – und der Zügel sank mir aus der Hand. Ich vergaß ihr zu helfen, und sie vergaß ihr Kleid, vergaß, daß sie fliehen wollte. –

Endlich erwachte ich, sprang vom Pferde und eilte die Thür zu öffnen. Sie stammelte etwas von Dank und erröthete. Ohne zu wissen, was ich that, drückte ich einen brennenden Kuß auf das Kleid, aber plötzlich fühlte ich es von meinen Lipven entfliehen, und als ich wieder aufblickte, war auch sie verschwunden.[8]

Quelle:
Karoline Auguste Ferdinandine Fischer: Gustavs Verirrungen. Leipzig 1801, S. 6-9.
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